Mehr Verantwortung, bitte!
Wir brauchen eine Südkaukasus-Strategie
Der Georgien-Krieg im August 2008 war ein Weckruf für die EU, sich zukünftig stärker im Südkaukasus zu engagieren. Doch bis heute gibt es kaum greifbare Erfolge. Während Russland und China ihre regionalen Interessen mit Entschlossenheit durchsetzen, bleibt die europäische Südkaukasus-Politik zögerlich und reaktiv.
Wie sollte die EU mit den drei südkaukasischen Staaten Aserbaidschan, Georgien und Armenien umgehen? In der ideologisch aufgeladenen europäischen Energiedebatte ist die Region ein zentrales Thema. Doch weder ist es den Europäern bisher gelungen, eine kohärente Strategie für den postsowjetischen Raum zu entwickeln, noch existiert ein gemeinsamer europäisch-amerikanischer Ansatz. Stattdessen behindern sich EU und USA mangels Absprache gegenseitig in ihrer Südkaukasus-Politik.
Dabei wäre der Zeitpunkt für ein stärkeres Engagement eigentlich günstig. Denn die einseitige Anerkennung der georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien durch die russische Regierung hat die geopolitische Situation im Südkaukasus grundlegend verändert. Die südkaukasischen Staaten suchten nach dem Krieg verstärkt nach Alternativen, um sich aus ihrer einseitigen Abhängigkeit von Russland zu befreien. Bis auf Nicaragua, Venezuela und den Inselstaat Nauru hat kein Verbündeter des Kremls die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien anerkannt. Damit geriet Moskau in der Region unter Druck. Hinzu kommt, dass Russland für die wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität in den abtrünnigen Provinzen eine besondere Verantwortung trägt. Die Erfahrungen mit dem Nordkaukasus zeigen aber, dass Moskau eine Strategie fehlt, um ethnisch komplexe Gesellschaften zu befrieden. Abchasien besitzt durchaus Potenzial, als unabhängiger Staat zu bestehen, doch Südossetien gehört seit der Abspaltung von Georgien faktisch zur Russischen Föderation.
Auch das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei hatte sich im Zusammenhang mit dem Georgien-Krieg gewandelt, führte er doch der armenischen Regierung vor Augen, welche Risiken die einseitige ökonomische Abhängigkeit von Russland birgt. Eriwan war daher an Verhandlungen mit der Türkei interessiert, und auch Ankara zeigte sich im Rahmen seiner neuen Außenpolitik und unter Druck der USA gesprächsbereit. Aufgrund innenpolitischen Drucks in Armenien und in der Türkei ist diese Annäherung vorerst gescheitert.
Für Aserbaidschan war der Georgien-Krieg in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens schuf die Anerkennung von Südossetien und Abchasien einen Präzedenzfall, der sich auch auf den eigenen Sezessionskonflikt um Berg-Karabach ungünstig auszuwirken drohte. Zudem gefährdet die neue geopolitische Situation die wichtigste von Russland unabhängige aserbaidschanische Ölexportroute über Georgien. Das gilt auch für die Türkei, da Aserbaidschan mit der Baku-Tiflis-Ceyhan- und der Südkaukasus-Pipeline ihr zweitwichtigster Gaslieferant ist – gleich nach Russland. Als sich eine Annäherung zwischen Ankara und Eriwan abzeichnete, setzte Aserbaidschan die türkische Regierung kurzerhand mit einer engeren Energiekooperation mit Russland unter Druck.
Imageverlust im Westen
Georgien selbst hat im Westen massiv an Ansehen eingebüßt. Sowohl Washington als auch Brüssel haben nach der Veröffentlichung des Tagliavini-Berichts, der Ursachen und Verlauf des georgisch-russischen Krieges untersucht, ihre Beziehungen zu Georgien deutlich abgekühlt. Südossetien und Abchasien sind für Tiflis langfristig verloren, und die angestrebte NATO-Mitgliedschaft ist in weite Ferne gerückt.
4,5 Milliarden Dollar haben Geberstaaten im Oktober 2008 zugesagt, um eine Destabilisierung in Georgien zu verhindern – davon entfällt allein eine Milliarde auf die USA. Doch solange der georgische Staatspräsident Michail Saakaschwili ohne funktionsfähige Checks and Balances regiert, fällt das Land als Konfliktlöser in der Region aus. Saakaschwili ließ Südossetien nach jahrelanger russischer Provokation angreifen, ohne dass ihn Parlament, Verfassungsgericht und Öffentlichkeit zur Rechenschaft zogen. Zum Kriegsausbruch kam es nicht zuletzt wegen der fehlenden Kontrollmechanismen über die georgische Exekutive.
Die Bedeutung der USA im Südkaukasus hat mit dem Georgien-Krieg und den amerikanischen Präsidentschaftswahlen abgenommen. Washington war bis dahin der wichtigste politische und finanzielle Unterstützer – 1,8 Milliarden Dollar flossen zwischen 1992 und 2007 an Georgien, einschließlich umfangreicher Militärhilfe. Doch mit der Neuausrichtung der Russland-Politik unter Barack Obama, der in Moskau um Unterstützung in Afghanistan und im iranischen Atomkonflikt wirbt, ist der Südkaukasus auf der Prioritätenliste der US-Regierung weit nach unten gerutscht.
Stattdessen rückt die Südkaukasus-Politik in der EU mehr in den Vordergrund. Mit Initiativen wie der Europäischen Nachbarschaftspolitik, der Östlichen Partnerschaft und der Schwarzmeer-Synergie hat sich Brüssel stärker nach Osten orientiert. Doch trotz diverser Initiativen besteht die europäische Politik primär aus Transformationsförderung und Entwicklungshilfe. Damit deckt die EU nur eine begrenzte strategische Dimension ab. In der Vergangenheit trat sie eher als stiller Beobachter auf. Zwar hat sie mit der Aushandlung des Waffenstillstandsabkommens und der Entsendung einer Beobachtermission nach Südossetien und Abchasien erstmals ernsthaft Verantwortung in der Region übernommen. Doch es fehlt eine Strategie, in deren Rahmen Brüssel den Südkaukasus-Staaten eine echte Entwicklungsperspektive bietet – und zwar jenseits von reinen Absichtserklärungen, wie es die Östliche Partnerschaft und der südliche Energiekorridor letztlich mehr oder weniger sind.
Energieressourcen erschließen
Dass sich im Südkaukasus die europäischen Energieinteressen bündeln, macht die Entwicklung einer europäischen Strategie umso dringender. Der Kaukasus ist Teil des südlichen Energiekorridors, der mit seinem Schlüsselprojekt Nabucco-Pipeline nach dem Georgien-Krieg und dem russisch-ukrainischen Gaskonflikt im Januar 2009 zum zentralen Gegenstand der europäischen Diversifizierungsdebatte wurde. Ziel ist es, alternative Ressourcen aus dem Kaspischen Meer und dem Mittleren Osten an Russland vorbei nach Europa zu transportieren. Doch obwohl einige EU-Mitgliedstaaten zu den wichtigsten potenziellen Konsumenten von kaspischen Ressourcen gehören und europäische Energiekonzerne wie BP, ENI und Statoil eine zentrale Rolle bei der Erdölförderung in der Region spielen, ist die EU bei der Entwicklung von Transitrouten und der Sicherung zukünftiger Ressourcenquellen nur begrenzt wichtig.
China hat mit der Eröffnung einer Gaspipeline von Turkmenistan über Usbekistan und Kasachstan im Dezember 2009 seine Position im Kaspischen Raum gestärkt. Und im Frühjahr 2010 hat Russland begonnen, in seinem Sektor des Kaspischen Beckens nach Öl zu bohren. Staaten wie Russland, China und der Iran haben Interessen in der Region, die sie häufig mit Erfolg durchsetzen. Während EU-Programme in erster Linie Anreize für Langzeitentwicklung und Reformen bieten, benötigen die Eliten in Armenien, Aserbaidschan und Georgien praktische und finanzielle Angebote, die sofort wirken. Ähnlich wie in Zentralasien besteht ein Unterschied zwischen dem, was die EU anbietet und dem, was die regionalen Eliten kurzfristig benötigen.
Vor allen Dingen braucht der Südkaukasus innerhalb der EU einen starken Fürsprecher, einen Anwalt, der sich für ihn einsetzt wie es Frankreich für den Mittelmeer-Raum tut. Die Östliche Partnerschaft war eine wichtige Initiative, um auf den tiefgreifenden Wandel aufmerksam zu machen, der sich derzeit in den östlichen Nachbarstaaten der EU vollzieht. Doch diese polnisch-schwedische Initiative benötigt die Unterstützung weiterer Staaten, die in der europäischen Ostpolitik Gewicht haben.
Deutschland zeigt momentan kaum Präsenz; der Bundesregierung fehlt es letztlich an einer Vision für eine erfolgreiche europäische Politik gegenüber den östlichen Nachbarn. Auch die Polarisierung innerhalb der EU zwischen Staaten, die in Russland einen wichtigen Kooperationspartner sehen (Deutschland, Frankreich, Italien) und Staaten, die Russland als Gefahr für die Ostpolitik erachten (Polen, die baltischen Staaten, Schweden), verhindert bisher eine Neuausrichtung der europäischen Südkaukasus-Politik.
Wegen seiner besonderen Beziehung zu Russland und seiner Unterstützung für die EU-Osterweiterung war Deutschland lange Zeit der zentrale Akteur der europäischen Ostpolitik. Doch mit dem politischen und wirtschaftlichen Wandel im postsowjetischen Raum und der 2004 vollzogenen Osterweiterung verlor die Bundesrepublik an Boden.
Während die postsowjetischen Staaten eher Abstand zu Russland suchten, blieb die deutsche Außenpolitik in der Region auf Moskau fixiert. Die mittelosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten entwickelten eine kritischere Russland-Politik und pflegten engere Beziehungen zu Georgien. Sie unterstützten den euroatlantischen Kurs Georgiens und die Emanzipation der postsowjetischen Staaten vom Einfluss Russlands. Deutschland dagegen war nicht in der Lage, einen zweigleisigen Ansatz zu entwickeln: einerseits gute Beziehungen zu Russland zu pflegen und andererseits die bilateralen Beziehungen zu den postsowjetischen Staaten zu intensivieren. Es ist gerade diese fehlende Balance in der deutschen Ostpolitik, die den Erfolg seiner im europäischen Rahmen angelegten Initiativen in Zentralasien, dem Südkaukasus und der Schwarzmeer-Region gefährdet.
Es fehlt eine strategische Debatte innerhalb der EU: Welche Interessen haben die EU und ihre Mitgliedstaaten im Südkaukasus? Welchen Beitrag kann die Region für die Sicherheit und Energieversorgung Europas leisten? Wer, innerhalb der EU, übernimmt besondere Verantwortung für die Beziehungen zum Kaukasus? Eine erfolgreiche Kaukasus-Strategie darf sich nicht allein auf die Förderung von Demokratie und Good Governance, direktes Engagement in der Konfliktlösung und das Erschließen der kaspischen Ressourcen beschränken. Vielmehr sollte sie die folgenden Elemente enthalten:
Deutschland sollte innerhalb der EU als Anwalt der südkaukasischen Staaten auftreten und sein politisches und wirtschaftliches Gewicht dazu nutzen, bestehende Abkommen zu einer kohärenten Strategie für die transkaspische Region zu bündeln. Zudem sollte Brüssel ein besseres Verständnis für die Heterogenität der Akteure im Südkaukasus entwickeln. Die Kaukasus-Staaten sind zwar wirtschaftlich und politisch eng verflochten und es ist unmöglich, sie getrennt voneinander zu behandeln. Doch Georgien, Aserbaidschan und Armenien durchlaufen spezifische Transformationsprozesse und nehmen unterschiedliche Positionen zu einer Integration in die EU ein. Vor allem Aserbaidschan ist mit seinen Energieressourcen und seinem Zugang zum Kaspischen Meer als Kooperationspartner für die EU besonders wichtig. Berg-Karabach ist ein Schlüsselkonflikt, der regionale Entwicklungen blockiert und eines stärkeren europäischen Engagements bedarf. Brüssel könnte beispielsweise die Nachfolge von Frankreich als Kovorsitzender der Minsk-Gruppe der OSZE antreten, um mit mehr Nachdruck auf eine Lösung des Berg-Karabach-Konflikts hinzuwirken.
Außerdem sollten die EU und die europäischen Wirtschaftsakteure die Entwicklung des West-Ost-Energiekorridors mit mehr Investitionen und politischer Fürsprache unterstützen. Sie sollten das Projekt des südlichen Energiekorridors und eines transkaspischen Transitsystems vorantreiben, das den Anschluss an die zentralasiatischen Ressourcen brächte. In diesem Prozess sind Russland und die Türkei wichtige regionale Partner. Mit der Türkei sollte sich die EU in Bezug auf ihre Energie- und Sicherheitspolitik besser abstimmen – auch jenseits der Beitrittsverhandlungen. Im Gegensatz dazu ist Russland bei der Erschließung von Ressourcen bislang eher als Konkurrent aufgetreten und hat sich bei Konflikten in der Vergangenheit selten kooperativ gezeigt. Daher sollte Moskau in bestimmte Verhandlungsformate und vertrauensbildende Maßnahmen zwar eingebunden werden, auch im Rahmen der östlichen Partnerschaft. Trotzdem sollte die EU ihre Südkaukasus-Politik unabhängig von Russland weiterentwickeln.
Die USA sind ein unentbehrlicher Partner in der Region, verfolgen jedoch nicht immer die gleichen strategischen Ziele wie Brüssel. Dass Washington derzeit einen konfliktmindernden Ansatz in seiner Russland-Politik bevorzugt, bedeutet de facto weniger US-Engagement in der Region. Darum gilt auch hier: Brüssel sollte sich zwar mit Washington abstimmen, aber trotzdem einen eigenen, von den USA unabhängigen Ansatz im Kaukasus verfolgen.
Dr. STEFAN MEISTER arbeitet am Zentrum für Mittel- und Osteuropa der Robert Bosch Stiftung im Forschungsinstitut der DGAP.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 97-101