Mehr Pessimismus wagen: Frankreich passt seine Sicherheitsstrategie an
In Anbetracht der schwierigen sicherheitspolitischen Landschaft unterstreicht Paris in einem neuen Strategiepapier die Bedeutung gut ausgestatteter Streitkräfte. Der Ausblick verheißt wenig Gutes.
Frankreich hat ein neues verteidigungspolitisches Strategiedokument. Die „Actualisation stratégique“ vom Frühjahr 2021 unterstreicht vor allem eines: Frankreichs – und somit auch Europas – sicherheitspolitisches Umfeld verschlechtert sich. Überraschend ist das nicht, sieht man doch in Paris lang gehegte Befürchtungen bestätigt. Allerdings gehen viele Entwicklungen schneller als erwartet. Das liegt unter anderem an den weltweiten Folgen der Covid-19-Krise als Beschleuniger und auch Begründung für die ursprünglich gar nicht vorgesehene Neuauflage des Strategiedokuments.
Der Grundton französischer Strategiedokumente ist seit Jahren pessimistisch. Damit unterscheiden sie sich zwar nicht grundlegend von den aktuellen Analysen in anderen europäischen Ländern sowie auf Ebene der EU oder der NATO. Zwei Aspekte sind in Frankreich aber anders: Zum einen definiert man inhaltliche und geografische Schwerpunkte, die sich zumindest teilweise vom europäischen Mainstream unterscheiden. Das gilt allem voran für den islamistischen Terrorismus.
Zum anderen neigt man in Paris zu Ableitungen aus Beobachtungen des großen Ganzen, deren philosophischem Anspruch die europäischen Partner mitunter nicht folgen wollen oder können. Frankreich ist oft besser als andere europäische Länder, wenn es darum geht, grundlegende Tendenzen früh zu erkennen und einzuschätzen. Gleichzeitig ist Paris aber oft einsamer Rufer im Walde und wartet darauf, dass seine Partner nachziehen.
Insgesamt bestätigt das neue Strategiedokument, dass die Dinge in Frankreich in wichtigen Punkten anders bleiben als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das – im Übrigen auch französische Ziel – einer gemeinsamen strategischen Kultur in Europa bleibt daher höchstens mittelfristig erreichbar.
Lange Liste der Bedrohungen
In der „Strategischen Aktualisierung“ werden verschiedene Arten von Herausforderungen benannt. Insgesamt sieht Paris die Einschätzungen aus der „Revue stratégique“ von 2017 bestätigt, was die drei wichtigsten Bedrohungen für Frankreich und Europa betrifft: den dschihadistischen Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (insbesondere von Kernwaffen, siehe Nordkorea oder Iran) sowie die Wiederkehr des „geopolitischen Wettkampfs der Mächte“. Unangefochten im Mittelpunkt steht für Frankreich, anders als für die meisten anderen europäischen Länder, nach wie vor der (islamistische) Terrorismus als größte sicherheitspolitische Herausforderung. Dies spiegelt sich in der politischen Debatte des Landes ebenso wie im militärischen Engagement wider. Schwerpunktregionen sind folglich Afrika und der Nahe Osten.
Hinzu kommen Herausforderungen struktureller Natur: die weltweite demografische Entwicklung und Migration, Folgen des Klimawandels oder auch die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die Brüche im internationalen System nehmen, so die Einschätzung, eindeutig zu. Der Multilateralismus funktioniere immer schlechter, so wie auch die Globalisierung zu Verwundbarkeiten führt. Auch in Frankreich viel diskutierte Beispiele aus der Pandemie sind die Anfälligkeit von Lieferketten für Grenzschließungen und die generelle Abhängigkeit von Importen zur Herstellung wichtiger Güter.
Dass die Rivalität zwischen Großmächten, allen voran China und die USA, die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts prägen werden, ist schon lange integraler Bestandteil der französischen Einschätzung der Weltlage. Neu ist allerdings, mit welcher Deutlichkeit festgestellt wird, dass militärische Konflikte zwischen diesen Akteuren nicht ausgeschlossen werden können. In den USA sei der Wettbewerb mit China zum entscheidenden Faktor im außen- und sicherheitspolitischen Denken geworden. In China wie in den USA steigen die Verteidigungsausgaben. Bezüglich Chinas greift das Dokument die Formulierung der EU auf und bezeichnet es als „systemischen Rivalen“. In diesem Zusammenhang wird für Frankreich auch der Indo-Pazifik immer wichtiger – wie erst kürzlich mit Hilfe einer großangelegten Marineübung mit den Partnern aus den USA und Japan unterstrichen wurde.
Auch Russland wird als Problem für den Frieden genannt: Dessen Politik der „strategischen Einschüchterung“ beruhe ebenso auf nichtmilitärischen Instrumenten wie auf der Entwicklung ausgefeilter Waffentechnologien. Als „opportunistische und agile Macht“ sei Moskau in der Lage, die Handlungsfreiheit des Westens einzuschränken.
Auf immer selbstbewusster agierende Regionalmächte blickt man in Frankreich ebenfalls mit Sorge, allen voran auf die Türkei und den Iran. Der amerikanische Fokus auf China führe gerade im Nahen Osten und im Mittelmeerraum zu neuen Dynamiken. Machtambitionen der genannten Länder haben Auswirkungen auf die Staaten der gesamten Region und rufen Reaktionen hervor, auch sicherheitspolitischer Natur. Besonders deutlich trete die neue Instabilität im Östlichen Mittelmeerraum zutage, wo Migrationsbewegungen, Streit um Öl- und Gasvorkommen, die Politik der Türkei, russische und chinesische Einflussnahme und der Rückzug westlicher Akteure (allen voran der USA) eine komplizierte Gemengelage bilden. Der Türkei wird dabei ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt – was angesichts diverser bilateraler französisch-türkischer Auseinandersetzungen kaum verwundert.
Der strategische Wettbewerb findet jedoch nicht nur in den genannten Regionen statt, so die französische Analyse. Längst sei er auch im Cyber-Raum sowie im Weltraum angekommen. Frankreichs und Europas Gegner bedienten sich regelmäßig hybrider Strategien. Die Militarisierung des Weltraums sei inzwischen Faktum. Dies ist jedoch keine neue Erkenntnis für Frankreich: 2017 hat man ein Cyber-Verteidigungskommando aufgestellt, zwei Jahre später ein Weltraumkommando, und für beide Bereiche in den vergangenen Jahren eigene Strategien entwickelt (die Revue stratégique de cyberdéfense von 2019 und die Stratégie spatiale de défense von 2020).
Europas strategische Autonomie
Immer wieder tritt in der neuen Strategie die Angst vor dem „déclassement stratégique“ zutage: die Sorge, Frankreich und Europa könnten als weltpolitische Akteure abgehängt werden, gewissermaßen ein Klassiker der französischen Debatte. Seit Jahren warnt Präsident Macron zudem, dass sich Europa im amerikanisch-chinesischen Wettstreit nicht zerreiben lassen dürfe. Aus französischer Sicht ist der Handlungsbedarf somit deutlich.
Auf nationaler Ebene sind die wichtigsten Ableitungen aus der Analyse militärpolitischer Natur: Frankreich muss seine militärische Handlungsfähigkeit stärken, die Ausrüstung seiner Streitkräfte modernisieren. Die seit der Wahl Emmanuel Macrons 2017 getätigten Investitionen in das Militär müssen fortgesetzt werden. Die Streitkräfte müssten ein breites Spektrum abdecken und leicht verlegbar sein, bis hin zur „hohen Intensität“, das heißt wenn nötig auf harte militärische Auseinandersetzungen eingestellt. Nur mit ausreichend eigenen Fähigkeiten sei Frankreich in der Lage, seine europäischen Partner bei Bedarf zu überzeugen und quasi mitzuziehen. Dazu gehöre auch, die großen Industrieprojekte wie das Kampfflugzeugsystem FCAS oder das Panzerprogramm MGCS (beide in Zusammenarbeit mit Deutschland, beim FCAS ist auch Spanien an Bord) voranzutreiben und sich so auf den „Krieg von morgen“ vorzubereiten.
Für Europa bedeutet das sich verschlechternde Umfeld aus französischer Sicht – und auch das ist keineswegs neu –, dass der Ausweg nur „europäische strategische Autonomie“ heißen kann. Dafür müsse vor allem darauf hingearbeitet werden, dass die Europäer in der Verteidigungspolitik (und darüber hinaus) an einem Strang ziehen, zusammengehalten vom Gedanken der europäischen Souveränität und von gemeinsamen Interessen. Viel Fortschritt sei seit 2016 erzielt worden, als (so zumindest die französische Lesart) die EU-Staaten in der sogenannten Globalstrategie die europäische strategische Autonomie als notwendig erkannt haben. Doch vieles sei auch noch zu tun, vor allem der Ausbau eines europäischen sicherheits- und verteidigungspolitischen „Pfeilers“ – ohne dass dies gegen die NATO gerichtet sei. Dass man in Paris Letzteres betont, zeigt einen deutlichen Lerneffekt, wurde Frankreich doch häufig (und fälschlicherweise) vorgeworfen, mit Europas strategischer Autonomie die „Entkopplung“ von den USA vorantreiben zu wollen.
Um den Kontinent verteidigungspolitisch besser aufzustellen, sieht Frankreich vor allem drei Stellschrauben: stärkere verteidigungspolitische Zusammenarbeit (bezeichnet als Konsolidierung des „Europa der Verteidigung“), die Verringerung von Abhängigkeiten in Sachen Technologie und Industrie sowie gemeinsame europäische Antworten auf hybride Herausforderungen. Zudem müsse für Kohärenz der verschiedenen rüstungspolitischen Instrumente auf europäischer Ebene gesorgt werden, um die Entstehung einer europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis (EDTIB) zu fördern. Diese sei schließlich Voraussetzung für Europas strategische Autonomie. Hier wird nochmals deutlich, welch große Bedeutung der Rüstungsindustrie beigemessen wird, die zudem als wichtiger wirtschaftlicher Faktor Erwähnung findet – nicht zuletzt wegen 200 000 Arbeitsplätzen, entweder direkt in der Branche oder daran angedockt.
Auch jenseits von Europa braucht Frankreich Partner. Angesichts der ins Wanken geratenen Welt- und Sicherheitsordnung hieße die Antwort verstärkte Zusammenarbeit weltweit. Gerade außerhalb Europas bleibt dies jedoch schwierig, auch wenn es einen Hoffnungsschimmer aus Washington gebe. Die neue US-Regierung unter Joe Biden habe womöglich größeres Interesse an internationaler Kooperation – dann sei es an den Europäern, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und die strategische Stabilität auf ihrem Kontinent wiederherzustellen.
Anders als etwa in Deutschland sind verteidigungspolitische Weißbücher in Frankreich wichtige Dokumente, die in der Debatte tatsächlich eine Rolle spielen und Richtungen vorgeben. Sie werden viel regelmäßiger aktualisiert und überprüft, als dies in Deutschland der Fall ist. Im Jahr 2013 wurde das letzte vollwertige Weißbuch angenommen; nach seinem Amtsantritt 2017 gab Macron die verkürzte „Revue stratégique“ in Auftrag, auf die nun die nochmals kompaktere „Strategische Aktualisierung“ folgte. Begründet wird dieses Dokument quasi außer der Reihe neben der schnelleren Verschlechterung des Umfelds auch mit den globalen Umwälzungen infolge der Corona-Krise.
Die Frage nach dem richtigen Vorgehen
Doch der Zeitpunkt für diese Aktualisierung hat nicht nur mit Covid-19 und den Folgen zu tun. Sowohl auf nationaler Ebene als auch europäisch und transatlantisch stehen in nächster Zeit wichtige Meilensteine an. Frankreich bereitet die Aktualisierung des Militärplanungsgesetzes (loi de programmation militaire) vor. Dieses Gesetz, das den Zeitraum 2019–2025 abdeckt, ist die Unterfütterung der Strategie mit finanziellen Mitteln und somit von entscheidender Bedeutung für die Ausstattung der Streitkräfte und deren Fähigkeit, den sicherheitspolitischen Herausforderungen begegnen zu können.
Auf Ebene der EU und der NATO wiederum finden zwei Strategieprozesse statt, die eher konzeptioneller Natur sind: Während die Europäische Union mit ihrem strategischen Kompass an der Klärung ihrer sicherheitspolitischen Rolle arbeitet, wird im Rahmen eines neuen strategischen Konzepts der NATO die Ausrichtung des Atlantischen Bündnisses festgelegt. Für beide Prozesse spielt selbstverständlich die Analyse des strategischen Umfelds eine herausragende Rolle. Im NATO-Kontext steht diese noch aus. Mit seiner „Actualisation stratégique“ hat Frankreich hier nun seine Sicht der Dinge offiziell vorgelegt. Mehrheitsfähig werden die französischen Schwerpunkte, allen voran der Fokus auf den Terrorismus, in der Allianz jedoch kaum sein.
Auch wenn dieser Schwerpunkt in Frankreich recht unumstritten ist, stellt sich die Frage nach dem richtigen Vorgehen. Die Mehrheitsmeinung ist inzwischen, dass es eine einfache, gar rein militärische Lösung in der Sahelzone – in der Frankreichs wichtigster Militäreinsatz Barkhane stattfindet – nicht gibt. Der Tod von Tschads Präsident Idriss Déby, einer der wichtigsten Partner in der Region, macht die Dinge nicht einfacher. Und im Zuge der zumindest ansatzweisen Aufarbeitung des Verhältnisses zu Algerien ist Frankreichs generelle Rolle in Nordafrika Gegenstand von Debatten. Hinzu kommt schlicht und ergreifend Kriegsmüdigkeit, was angesichts von 55 toten französischen Soldaten in der Sahelzone und teils großer Anteilnahme in der Bevölkerung kaum verwundern kann.
Große Umwälzungen in der französischen Verteidigungspolitik sind nicht zu erwarten – aber es kann sein, dass die Regierung einiges in Zukunft etwas ausführlicher begründen muss. Mit der „Actualisation stratégique“ nochmals die Bedeutung gut ausgestatteter Streitkräfte hervorzuheben, kann da sicherlich nicht schaden.
Dr. Barbara Kunz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg.
Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 86-90