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01. Juli 2014

Mehr debattieren – und europäisieren

Der Konflikt um die Ukraine zeigt: Nichtstun ist für Deutschland keine Option

Zahlreiche Stimmen aus dem In- und Ausland haben in den vergangenen Jahren immer wieder Deutschlands zögerliche Haltung auf dem internationalen Parkett kritisiert. Doch die Deutschen tun sich schwer. Deshalb ist es richtig, mehr über Außenpolitik zu sprechen – und dabei deutlich zu machen, dass dies nicht nur eine Sache von Eliten ist.

Seit Beginn der Krise in der Ukraine bekomme ich zahlreiche Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern aus ganz Deutschland, die der Meinung sind, Deutschland solle sich aus diesem Konflikt lieber heraushalten. Man habe hierzulande schließlich genug eigene Probleme, um die man sich zuerst kümmern solle, die Bekämpfung der Kinderarmut zum Beispiel. Erst Griechenland, jetzt die Ukraine – Deutschland könne nicht ständig den Weltenretter spielen. Es scheint, als wolle ein großer Teil der Deutschen mit den Problemen der Welt lieber in Ruhe gelassen werden. In der kürzlich erschienenen Umfrage der Körber-Stiftung wird dieser Eindruck bestätigt. Die Frage, ob Deutschland sich mehr außenpolitisch engagieren solle, beantworteten nur 37 Prozent der Befragten mit „Ja“.

Doch die derzeitigen globalen Herausforderungen lassen sich nicht wegdiskutieren. Ganz abgesehen von den Krisengebieten in Südsudan oder Zentral­afrika, dem Terrorismus in Nigeria oder dem Krieg in Syrien, verdeutlicht der Konflikt in der Ukraine ganz eindrucksvoll, weshalb Nichtstun nicht unsere Antwort sein kann.

Außenpolitik vor der Haustür: die Ukraine als Musterfall

Das Argument „weitentfernter Konflikt in entlegenem Land“ gilt für die Ukraine nicht. Etwa 15 Stunden dauert es, mit dem Auto von Berlin nach Kiew zu fahren; nach Paris ist man rund zehn Stunden unterwegs und Rom ist 14 Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Der Konflikt in der Ukraine hat die Außenpolitik direkt vor unsere Haustür gebracht. Ein europäisches Land wurde von einem Nachbarstaat militärisch angegriffen und befindet sich seitdem in einem höchst instabilen Zustand. Abgesehen von der geografischen Nähe des Krisenherds bedroht dieser Konflikt auch unsere fundamentalen Werte der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie, da Russland die staatliche Souveränität eines Landes missachtet und die Krim völkerrechtswidrig annektiert hat.

Wir Deutschen haben nicht nur aufgrund unserer wirtschaftlichen Verflechtungen ein vitales Interesse an der Stabilität der internationalen Ordnung und ganz besonders an der Stabilität in der direkten europäischen Nachbarschaft. Wegschauen ist daher keine Option, sich heraushalten auch nicht. Auch durch unsere engen Beziehungen zu Russland hat die Bundesrepublik in diesem Konflikt eine Schlüsselposition. Das wird immer wieder von unseren Partnern betont. Viele Hoffnungen stützen sich auf den Draht zwischen Berlin und Moskau, und man erwartet von Deutschland, dass wir in diesem Konflikt und darüber hinaus außenpolitische Verantwortung übernehmen.

Neu ist das Thema nicht. Zahlreiche Stimmen aus dem In- und Ausland haben in den vergangenen Jahren immer wieder Deutschlands zögerliche Haltung auf dem internationalen Parkett kritisiert: Deutschlands außenpolitischer Auftritt passe einfach nicht zu seinem wirtschaftlichen Gewicht. So forderte Radoslaw Sikorski bereits 2011 von Deutschland eben jene Übernahme von Verantwortung, die jüngst auch der Bundespräsident ansprach. Und der polnische Außenminister ist nur einer unserer internationalen Partner, die wieder und wieder ein größeres deutsches Engagement in der Welt forderten.

Doch die Deutschen tun sich schwer. Bisher hatte man nur zögerlich auf solche Forderungen reagiert. Stattdessen versteckte man sich hinter einer Politik der Zurückhaltung. Diese hat in Deutschland lange Tradition und ist durch unsere spezielle historische Erfahrung zu erklären. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der durch deutschen Nationalismus und außenpolitischen Größenwahn gekennzeichnet war, erlangte die Bundesrepublik nur schrittweise ihre außenpolitische Souveränität zurück. Man band sich eng an die Partner der Europäischen Union und des transatlantischen Bündnisses und schwor mit den Devisen „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Sonderweg!“ endgültig dem Großmachtstreben ab.

Das Trauma der Zeit des Nationalsozialismus und des Endes des Zweiten Weltkriegs lebt auch heute noch in der kollektiven Psyche der Deutschen fort und wirkt sich auf die Wahrnehmung und Beantwortung internationaler Herausforderungen aus. Dies führt dazu, dass gewisse Terminologien der Außenpolitik in Deutschland stark negativ besetzt bleiben. So fällt es uns schwer, von „Interessen“ zu sprechen oder gar von „Strategie“, da man solche Ausdrücke mit Krieg, militärischen Eskapaden und Expansionspolitik in Verbindung bringt. Doch diese Haltung passt nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Unsere Partner haben die Angst vor einem außenpolitisch starken Deutschland längst abgelegt. Unsere Welt ist seit dem Ende der Bipolarität komplexer geworden. Aufstrebende Staaten, nichtstaatliche Akteure und eine Supermacht, die nach den Interventionen in Afghanistan und Irak kriegsmüde geworden ist, stellen uns vor neue Herausforderungen, denen wir aktiv begegnen müssen.

Natürlich sind die sozio-historischen Gründe für Deutschlands zögerliche Haltung in der Außenpolitik durchaus verständlich. Klar ist auch, dass Veränderung nur schrittweise durch einen Prozess der intensiven Auseinandersetzung mit Außen- und Sicherheitspolitik erreicht werden kann. Hier sind die Politik und auch ganz besonders der Deutsche Bundestag in einer Schlüsselposi­tion. Wir müssen auf die Sorgen, Ängste und Wünsche unserer Bürger eingehen.

Es ist daher genau der richtige Weg, dass wir jetzt über Außenpolitik sprechen. Bundespräsident Joachim Gauck stieß die Debatte auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang dieses Jahres an und stellte die richtigen Fragen: „Tun wir, was wir tun könnten, um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika? Tun wir, was wir tun müssten, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen?“ Seine Antwort war eindeutig: Deutschland muss mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Seitdem reflektiert die Bundesrepublik ihre eigene außenpolitische Rolle und stellt sich die Frage, was heißt „mehr Verantwortung“ eigentlich?

Gesamtgesellschaftlicher Dialog als zentrales Element

Durch den „Review 2014“-Prozess, der von Außenminister Frank-Walter Steinmeier angestoßen wurde, soll dieser Reflektion über die eigene außenpolitische Rolle Struktur gegeben werden, und man kann die Initiative nur begrüßen. Der gesamtgesellschaftliche Dialog ist das zentrale Element des Projekts. Ganz besonders wichtig ist es, die Bürger individuell zu erreichen. Denn Menschen interessieren sich vor allem für Themen, die sie selbst betreffen. Daher muss klarer kommuniziert werden, weshalb Außenpolitik eben nicht nur Sache einer außenpolitischen Elite ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Wo berührt Außenpolitik die Lebenswirklichkeit der Deutschen? Der „Review 2014“-Prozess nutzt für diesen Dialog bereits zentrale Kanäle: soziale Medien wie Facebook und Twitter, einen Essay-Wettbewerb für Studierende und den Tag der offenen Tür im Auswärtigen Amt. Um jedoch breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen, sollte man weiter gehen. Veranstaltungen zur Außenpolitik in verschiedenen Wahlkreisen, Besuche von Politikern, Diplomaten, Entwicklungshelfern und Soldaten in Schulen oder schriftliche Beiträge in Lokalzeitungen.

Hierbei darf nicht vergessen werden, dass das Auswärtige Amt nicht alleiniger Akteur der Außenpolitik ist. Auch die Arbeit anderer Ministerien, wie Gesundheits-, Finanz- und Umweltministerium, hat zum Teil eine starke außenpolitische Dimension. Eine ressortübergreifende Arbeit ist daher unerlässlich. Denkbar sind öffentliche Podiumsdiskussionen in Kooperation mit anderen Ministerien und auch dem Deutschen Bundestag. Nichtstaatliche Akteure spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Außenpolitik und haben häufig einen engeren Bezug zur Zivil­gesellschaft. Daher wäre eine Zusammenarbeit mit solchen Organisationen ebenfalls besonders fruchtbar.

Langfristig sollte auch in eine internationale Bildung investiert werden. Nicht nur Fremdsprachen sind der Schlüssel zu einem größeren Verständnis der Welt, sondern vor allem auch Auslandsaufenthalte. Ob im Rahmen eines Schüleraustauschs, eines Auslandsstudiums oder beruflich – solche Erfahrungen wecken das Interesse für andere Länder und Kulturen und eröffnen neue Perspektiven auf das eigene Land.

Eines jedoch ist sicher: Wer klar kommunizieren will, muss sich über seine Nachricht bewusst sein. Es geht bei dem Dialog auch um eine außenpolitische Selbstreflektion. Verantwortung übernehmen heißt nicht zuletzt, hinter der eigenen Haltung zu stehen, eigene Schwächen und Fehler anzuerkennen und überzeugend für seine Werte und Ziele einzutreten. Wir müssen uns ernsthaft mit den Fragen auseinandersetzen, welche Werte, Interessen und Ziele wir in der Außenpolitik verfolgen und was wir bereit sind, dafür einzusetzen. Oberste Priorität sollte der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik haben, die wir lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt haben. Der Konflikt um die Ukraine hat das Potenzial, dies zu ändern. Er ist ein Weckruf an die Europäer, den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als unabdinglichen Teil des europäischen Projekts wahrzunehmen.

Bislang fehlte jedoch der politische Wille. Deutschland muss ein aktiver und produktiver Teil der Umsetzung werden. Alleine werden wir uns in dieser globalisierten Welt nicht behaupten können, daher ist die Europäische Union unser Handlungs- und Integrationsrahmen. Und nur ein geeintes Europa kann glaubwürdig für seine Werte und seine Sicherheit eintreten.

Dr. Norbert Röttgen (CDU) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 30-33

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