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01. Jan. 2020

Sollte Europa sich mehr an Russland annähern?

Pro und Contra

Stefan Liebich und Norbert Röttgen über die Sanktionen gegenüber Russland

Doppelte Standards machen Außenpolitik unglaubwürdig

Von Stefan Liebich

Die Empörung war nachvollziehbar und berechtigt, als Russland gegenüber seinem Nachbarland, der Ukraine, gegen das Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt verstieß, wie es die Charta der Vereinten Nationen vorsieht. Dass es damit weder der Erste noch danach der Letzte war, macht es nicht besser. Die Integration der Krim in das Territorium der Russischen Föderation ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.



Allerdings muss die Frage erlaubt sein, was der Abbruch von Gesprächskanälen, wie die Stutzung des G8- zum G7-Format oder die damalige Suspendierung des NATO-Russland-Rates verbessert hat. Ebenso, ob die Verhängung von Sanktionen zu einer Verhaltensänderung geführt hat oder je führen wird.



Derzeit öffnet sich ein Fenster der Möglichkeiten. Die eindeutige Wahl von Wolodymyr Selensky zum Präsidenten der Ukraine und seine deutliche Mehrheit im Parlament, der Rada, wurden auch mit dem Versprechen erreicht, den Krieg im Osten des Landes zu beenden. Und erste, bislang undenkbare Schritte wurden gegangen. Der Austausch von Gefangenen, der beginnende Truppenrückzug und der Rückgang von Kampfhandlungen machen ebenso Mut wie dringend notwendige humanitäre Maßnahmen an den Übergängen zwischen den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten und den sogenannten „Volksrepubliken“.



Sollte es nach den Gesprächen der Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine zu einem echten Durchbruch kommen und sollten die Vereinbarungen von Minsk dann tatsächlich von allen Seiten umgesetzt werden, könnte das der Einstieg in den Ausstieg aus dem Sanktionsregime der EU und der Gegensanktionen Russlands sein. Diese Chance muss unbedingt ergriffen werden.



Die Rückkehr Russlands in den Europarat im Sommer war ein ebenso wichtiges wie überfälliges Signal, und auch die Gesprächsbereitschaft des französischen Präsidenten Macron mit dem Ziel eines Moratoriums für nukleare Mittelstreckenraketen sollte die NATO nicht einfach vom Tisch wischen. Nach dem Ende des INF-Vertrags zwischen Russland und den USA muss Europa aus Eigeninteresse die Initiative ergreifen.



Ein häufig vorgebrachtes Argument gegen eine Annäherung lautet, dass Russland erst auf den Boden des Völkerrechts zurückkehren müsse. In der Tat wäre das wünschenswert, es klingt in diesen Tagen indes nicht besonders überzeugend. Denn das NATO-Mitglied Türkei verstößt mit seinem seit 23 Monaten andauernden Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden auf syrischem Territorium selbst eindeutig gegen das oben genannte Gewaltverbot, ohne dass es ernsthafte Konsequenzen gibt. Es ist an der Zeit, nur einen Maßstab in den internationalen Beziehungen anzulegen.

Stefan Liebich ist außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Druck und Missbilligung müssen aufrechterhalten werden

Von Norbert Röttgen

Die Frage nach einem möglichen Umdenken in Europas Russlandpolitik wird in letzter Zeit wieder häufiger aufgeworfen, ob vom französischen Präsidenten Macron oder von einigen deutschen Politikern. Diese Forderung verwundert. Denn Russland unter Putin hat seine Politik in den letzten Monaten nicht um einen Millimeter geändert. Putin kann sich zurücklehnen und den um Eigenprofilierung bemühten westlichen Politikern zuschauen, die darum wetteifern, ihm Geschenke zu machen. Glaubt man wirklich, so auf Putin Einfluss nehmen zu können?



Die Politik Russlands entspringt nicht einer Laune oder dem Zufall. Sie ist bewusste Machtpolitik. Sie ist der Ausgleich für die Unfähigkeit, gleichzeitig das Land zu modernisieren und an der Macht zu bleiben. Russland ist aus der internationalen Ordnung ausgetreten und präsentiert sich mehr und mehr als Gegenmodell zu der freiheitlichen, westlich geprägten internationalen Ordnungsidee. Das blutige Vorgehen Russlands in Syrien, der noch immer andauernde militärische Konflikt im Donbass mit mittlerweile über 13 000 Gefallenen oder die völkerrechtswidrige Krim-Annexion mit ihrer Bedeutung für die Souveränität der Ukraine, aber auch mit ihren Folgen für die freie und sichere Seefahrt im Asowschen Meer und der Straße von Kertsch sind Ausdruck dieser Politik, die das absolute Minimum der noch im Kalten Krieg akzeptierten Grundregeln der internationalen Gemeinschaft ignoriert.



Diese Politik ist in einem zynisch-
machtpolitischen Sinne bislang sehr erfolgreich gewesen, aber sie ist ohne jeden Zweifel nicht dauerhaft tragfähig. Ein Umdenken Russlands in seiner Außenpolitik ist allerdings erst zu erwarten, wenn Putin oder seinen Nachfolgern etwas Besseres zur Machtsicherung einfällt. Ungerechtfertigte Konzessionen an Russland würden diesen Prozess sicher nicht beschleunigen, sondern im Gegenteil Putin bestärken, an seiner Politik festzuhalten.

Im schlimmsten Fall birgt dies die Gefahr einer neuen Spaltung Europas. Denn das gegenwärtige Russland besteht darauf, dass es in seiner Rolle als Großmacht das Recht hat, die außenpolitische Orientierung seiner Nachbarstaaten maßgeblich mitzubestimmen.



Die Sanktionen gegen Russland sind also genauso wie der Ukrainekonflikt selbst keine Fragen von vornehmlich bilateraler Dimension. Es geht vielmehr um die politische Ordnung Europas. Von umso größerer Bedeutung ist daher, dass Europa weiterhin einheitlich in der Russlandfrage auftritt und agiert – als Zeichen unserer Missbilligung einerseits, als Druckmittel andererseits. Wenn Russland von außen zu einem Wandel motiviert werden soll, dann wird dies nur durch Konsequenz zu erreichen sein, nicht durch falsche Nachsicht.

Dr. Norbert Röttgen ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 112-113

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