Essay

01. März 2012

Mare nostrum

Das Mittelmeer – die Agora für Europa und Nordafrika

Nach langer Schreckstunde begannen europäische Politiker wohl, nach Nordafrika zu reisen – doch ganz so, als trenne den Norden und den Süden des Mittelmeers eine scharfe Kante. Dabei gälte es, das Bindende des Mittelmeers zu entdecken; zu erkennen, dass Europa ohne Sinn für das
ganze Rund des Meeres von seinen stärksten Wurzeln abgeschnitten wäre.

Aus dem arabischen Frühling droht ein Herbst, gar ein wüster Winter zu werden, gewiss. So wunderbar die Tatsache ist, dass in einer Region, in der die Stimme des Volkes seit Menschengedenken nichts zählte, eine plötzlich hervorbrechende Bewegung von unten imstande war, Regime wie morsche Bäume zu fällen: Es kann nicht wirklich verwundern, dass dem Sturz der Potentaten keineswegs der direkte Weg in die Demokratie folgte. Woher soll er auch kommen, der Wille, sich auf das fragile Gebilde aus Gewaltenteilung und gebändigter Staatsmacht einzulassen? Dass dort, wo der abendländische Weg schon vor sehr langer Zeit nachhaltig verlassen wurde, die scheinbaren Gewissheiten des Islams nach dem Ende der Despotie zum wichtigsten Haltegriff plötzlich führungslos gewordener Gesellschaften werden könnten, hat eine gewisse Logik. Viel wird für die Region und für Europa davon abhängen, ob es in Tunesien, Libyen und vor allem Ägypten gelingt, eine gemäßigte Form des politischen Islamismus zu etablieren, der bereit und fähig ist, zu verhandeln, Kompromisse einzugehen, sich selbst zu bremsen sowie andere Überzeugungen, Wertvorstellungen und Lebensweisen ohne Vorbehalt zu akzeptieren. Es klingt zwar pathetisch, könnte aber die Wahrheit sein: Dies wird die Schicksalsfrage der Region sein.

Demokratie ist voraussetzungsvoll, kein Wunder, dass sie nicht automatisch auf den Trümmern der Despotie erblüht. Erstaunlich und schwer verständlich ist etwas Anderes. Als Anfang vergangenen Jahres wider alles Erwarten Zine el Abidine Ben Ali und dann Hosni Mubarak gehen mussten, rückte das den Südrand des Mittelmeers plötzlich in den Mittelpunkt des Interesses, und es kam sogar – nicht nur bei den in die Jahre gekommenen Altfreunden der Rebellion – so etwas wie Begeisterung auf. Doch war es eine Begeisterung, die jener früheren für die Dritte Welt und deren Befreiungsbewegungen durchaus ähnlich war. Die Aufstände wurden als etwas Exotisches, fast Pittoreskes wahrgenommen. Mancher wollte nicht wirklich wahrhaben, dass beim Aufbruch etwa der tunesischen Jugendlichen zumindest auch der Wunsch am Werk war, an den wirtschaftlichen wie auch politischen Segnungen westlicher Demokratien teilzuhaben, zu ihnen aufzuschließen. Mancher wollte nicht sehen, dass diese Revolte, wie vor Jahrzehnten die osteuropäischen Revolten, nicht anti-, sondern prokapitalistisch war. Sie wurde als eine Tausend-und-eine-Nacht-­Revolte wahrgenommen.

Das Weltgeschehen am Mittelmeer

Als europäische Politiker nach einer ziemlich langen Schreckstunde allmählich begannen, in die Länder der arabischen Rebellion zu fliegen und Solidarität wie Hilfsbereitschaft zu bekunden, fiel vor allem auf, wie fremd ihnen diese Länder waren. Sie reisten in der irrigen Überzeugung, der Nordrand des Mittelmeers sei eine scharfe Kante, die den europäischen Kulturraum vom arabischen trennt. Gewiss, die vergangenen Jahrzehnte geben wenig Anlass, Verbindendes zu finden. Europa und Nordafrika sind Wege gegangen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Hier: Demokratie, Wirtschaftsfreiheit, Menschenrechte und die friedliche intergouvernementale gegenseitige Verschränkung und Selbstbindung ehedem verfeindeter, einander zumindest misstrauisch beäugender Staaten. Und dort: Despotie, eine an freier Entfaltung gehinderte Ökonomie, Willkür, ein Nationalismus, der zur Ersatzreligion hochgerüstet wurde, und ein latenter Hang zur Theokratie. Wie soll es da möglich sein, die neuesten Geschehnisse am Südrand des Mittelmeers als etwas zu begreifen, das uns ganz unmittelbar angeht? Und zwar nicht nur, weil es Europa sicherheitspolitisch und geostrategisch betrifft, sondern auch, weil es unsere Sache ist, was dort „unten“ geschieht.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, dass es im Norden Afrikas auch um uns geht, muss man nur ein Buch aufschlagen, das vor 76 Jahren – in der großen Zeit der berichtend-essayistischen Reiseliteratur – erschienen ist. Es trägt den Titel „Das Weltgeschehen am Mittelmeer“ und den weit streuenden Untertitel „Ein Buch über Inseln und Küsten, Politik und Strategie, Völker und Imperien“. Geschrieben hat es die Journalistin Margret Boveri, damals 36 Jahre alt und außenpolitische Redakteurin beim renommierten Berliner Tageblatt. Mit 34 Jahren relativ spät in den journalistischen Beruf eingestiegen, hatte sie auch dank der Förderung durch einen Mentor, den Chefredakteur der Zeitung, eine blitzschnelle Karriere hingelegt. Gerade erst Volontärin, schrieb sie schon Leitartikel auf der Seite 1 des Blattes, in denen sie sich kühn, oft allzu kühn, den ganz großen außen- und weltpolitischen Fragen widmete. Innenpolitik interessierte sie nicht. Sie war, wie ihre Biografin Heike B. Görtemaker schreibt, ehrgeizig, äußerst arbeitsam, scheute keine Risiken, nahm kein Blatt vor den Mund und verfolgte ihre Ziele mit ungewöhnlicher Konsequenz.

Ab und an stieß sie, die damals von der – wie sie sagte – „nationalen Revolution“ durchaus nicht nur abgeschreckt war, mit der Zensur zusammen. Sie war keine Freundin der angelsächsischen Welt. Später schrieb sie, da war der Zweite Weltkrieg gerade erst zu Ende, eine polemische „Amerika-Fibel für erwachsene Deutsche“ (1946). Und in den Vorkriegsjahren, in denen Hitler Anlauf zum großen Krieg nahm, hatte auch sie publizistisch das Ressentiment gegen „Albion“ und den allzu nüchternen Geist der Briten geschürt. Ihre Begeisterung für den verworrenen Mittelmeerraum hat beileibe nicht nur, aber auch diese trübe Quelle. Zugleich war sie, Tochter eines deutschen Vaters und einer amerikanischen Mutter, kosmopolitisch aufgewachsen. Als der Vater, wie die Mutter Biologe, eine Zeitlang am Zoologischen Institut von Neapel arbeitete, ging sie dort zur Schule und lernte perfekt Italienisch. In diesen Jahren mag sie, die durchaus auch etwas Nördlich-Strenges hatte, den Überschwang und die Fülle der südlichen Sonnen- und Meerwelt in sich aufgesogen haben. Eine Faszination, die ihr Mittelmeerbuch durchzieht, das halb Hymne, halb geostrategische Grundsatzschrift („Weltgeschehen“) ist.

„Eine sonnenhafte Tragik, ganz anders als die Tragik der Nebel“

Margret Boveris Grundidee ist naheliegend, man möchte fast sagen: banal. Zugleich aber ist sie höchst originell: Denn kaum jemand Anderes ist auf diese simple Idee gekommen, die der Blick auf die Landkarte ebenso nahe legt wie der Rückblick in die Geschichte der vergangenen drei Jahrtausende. Sie nimmt das große Oval des Mittelmeers nicht als eine Wasserfläche, die trennt, sondern als eine Fläche, die zwar trennt, die dank ihrer Befahrbarkeit aber – und das ist das Wichtigere – auch verbindet, Verbindendes stiftet. Und die damit einen gemeinsamen Raum schafft. Gleich im Vorwort schreibt sie: „Es ist ein Unrecht am Mittelmeerraum, wenn man eine seiner Eigenschaften allein darstellt, seine Altertümer, seine reiche bunte Geschichte, seine Vegetation und Farbenpracht oder seine politische Zusammensetzung.“ Und in geradezu holistischer Bewegtheit fügt sie hinzu: „Das ganze Mittelmeer soll es sein.“ Und dann programmatisch: Das Buch versuche, „etwas vom bleibenden Wesen des Mittelmeers zu geben: die Struktur, das Naturell, die historischen Tendenzen, die immer wiederkehren“.

Es ist schon die Natur, die hier eine noch heute von jedem Reisenden erspürbare Gemeinsamkeit geschaffen hat. Im ganz hohen Ton hebt das Buch so an (und einmal wenigstens soll hier die Autorin im Zusammenhang zitiert werden): „Wir kennen ihn nur als Einheit, diesen weiten leuchtenden Mittelmeerraum, dem das Meer das Gepräge gibt, der durch hohe Bergzüge weithin geschützt ist gegen die Kälte des Nordens, gegen den Sand und die unerträgliche Hitze des Äquators. Wir kennen den einen blauen wolkenlosen Himmel, der sich von Mai bis Oktober über das Ganze spannt, der immer gleich erfrischend, aufheiternd, klärend wirkt in seiner strahlenden Stetigkeit. Wir kennen die heftigen Regengüsse, die im Winterhalbjahr plötzlich über das Land niedergehen – kein zarter, milder, beruhigender Landregen, sondern ein unvermutetes Aufgehen des Himmels, ein Herausfallen des Wassers, als werde es aus riesigen himmlischen Bottichen geleert. Wir kennen den Scirocco, der an den ungeschützten Stellen dieses großen Runds von der Wüste her einbricht und der bis hinauf an die Alpengrenze die Luft schwer und dick macht, der alle üblen Gerüche hervorholt und mischt und zu einer Bedrückung werden lässt, der manchmal einen ganz feinen roten Staub hinterlässt, den Sand der Wüste, den die Macht des Sturmes meilenweit über das Wasser getragen hat.“ Von dieser so anrührenden wie gut begründeten Schwärmerei ist es kein weiter Weg zu den essayistischen Lobgesängen Albert Camus’ auf die Fülle und Schärfe seiner algerisch-mittelmeerischen Heimat, die der Schriftsteller im fundamentalen Kontrast zum Nordraum des europäischen Kontinents sieht: „Das Mittelmeer hat seine sonnenhafte Tragik, die so ganz anders ist als die Tragik der Nebel.“

Das Meer zu queren, das Andere zu suchen

Man mag darüber lächeln – es ist aber mehr als eine romantische Illusion, dass es hier auch die Natur war, die der Kultur auf die Beine geholfen und sie das Laufen gelehrt hat. Überall – das vergessen wir zuweilen wegen der heutigen Verödung manches Landstreifens am Mittelmeer – die gleichen Pflanzen, von der Palme über Zypresse, Agave und Opuntie bis zum Ölbaum, der die mittelmeerische Urfrucht liefert: die Olive, die in Salben heilt, deren Öl rund um das Oval herum die Speisen grundiert und in West wie Ost ewige Lichter nährt. Überall, damals jedenfalls noch, das gleiche so geduldige wie störrische Transporttier, der Esel. Überall die Tonkrüge, die von Jesu Zeiten bis ins 20. Jahrhundert hinein die Frauen auf Kopf oder Schulter trugen. Überall die Wiedergänger von Agora und Forum: Piazza, Souk, Bazar, die bis vor gar nicht so langer Zeit überall Orte leidenschaftlichen Debattierens waren. Überall Hafenstädte, die sich in ihrer Anlage – gegen Angreifer geschützt und doch übers Meer hin offen – ähneln. Überall Weihrauch, mal zu katholischer, mal zu islamischer Verwendung. Überall auch, mit der Säule beginnend, architektonische Formen, die variantenreich um das Mittelmeeroval wanderten, verbreitert, universalisiert worden sind. Einheit in der Vielfalt: Die Unterschiede seien, so Margret Boveri, „doch nur Belebung und Variation in der großen Einheitlichkeit“. Auch wenn es, nicht nur zeitbedingt, etwas organizistisch klingt, es ist doch eine offensichtliche Wahrheit in dem enthalten, was die Autorin prunkend behauptet: „Das große Oval war wie eine Naturbühne, wie eine riesige Arena mit dem gemeinsamen Dach des Mittelmeerhimmels und mit einheitlichem Klima für die Menschheit aufgestellt worden.“

Und diese verstand es, die Chance dieser reichen Grundausstattung zu nutzen. Im schönsten, dem historischen Teil des knapp 550 Seiten dicken Buches, das sich späterhin zuweilen in Diplomatie und Geopolitik verliert,1 zeigt Boveri im Zeitraffer, wie das Meer Erkundungen ermöglichte, Neugier Auslauf gab und den derart auf das Andere erpichten Mittelmeeranrainern half, Brücken zu schlagen und das Eigene im Anderen zu spiegeln oder es um das Andere zu ergänzen. Phönizier, Griechen, Karthager: Handel, kriegerische Emeuten, Kolonisation; Schritt für Schritt wurde der Mittelmeerraum als wirtschaftlicher, politischer, kultureller Raum geschaffen. Immer wieder steht dabei – wie im Mittelalter dann wieder – der nordafrikanische Raum, den wir zu Unrecht für einen Abonnenten auf Unentwickeltheit halten, an der Spitze der mittelmeerischen Zivilisation. Und Rom war es dann, das zum ersten Mal rund um das Mittelmeer einen politisch gestalteten Raum schuf, in dem Vielfalt und Rechtseinheitlichkeit herrschten. Ein Universalismus, den Christen- und Papsttum später beerbten, durchaus Hand in Hand mit dem schon torkelnden Imperium Romanum: Das absteigende Imperium und die aufsteigende christliche Religion, welche die unerhörte Botschaft der Liebe verkündete, regierten einen Moment lang das große Rund des Mittelmeers.

Eine überbordende Vielfalt, und doch darin der Wille zur Gestalt

Das ist lange vorbei, und alle späteren Versuche, die alte Einheitlichkeit wieder herzustellen, scheiterten über kurz oder lang – vor allem seit sich neben den christlichen Wegen West- und Ostroms der Islam etabliert hatte: eine Konfrontation, die heute wieder aktuell geworden ist. Umso wichtiger wäre es, eine alte Wahrheit wieder in Erinnerung zu rufen und zu beleben. Es ist ein Prozess, eine Auseinandersetzung, eine Konfrontation und ein überaus komplexer kultureller Prozess, aus dem die so ganz unterschiedlichen Kräfte und Mächte hervorgingen, die sich gegenseitig ebenso bekämpften wie beeinflussten. Nicht behaglich bei sich hinterm Ofen zu bleiben, sondern auszuschreiten, das Meer zu queren, das Andere zu suchen: Das scheint ein Gesetz zu sein, das im Prinzip für alle Völker gilt, die in wilder Folge um das Meer herum siedelten, das den nicht milden, sondern herrschaftlichen Anspruch, Mitte zu sein, schon im Namen trägt. Neugier, Handel, Austausch und kulturelle Durchdringung stehen gerade nicht im Gegensatz zu Landnahme, Eroberung, Kolonisierung und dem Willen zum Imperium. Beides sind in gewissem Grade zwei Seiten derselben Medaille. Was gerne für Europa – wenn man will: die kontinentale Nordhälfte des Mittelmeerraums – in Anspruch genommen wird, gilt im Grunde vor allem und erst recht für den mediterranen Raum: Er ist zum einen durch Unübersichtlichkeit, eine überbordende Vielfalt geprägt – eine schier endlose Fülle von Einzelheiten. Und zum andern herrscht oder lauert in ihm doch stets auch der Wille zur Gestalt, zum Imperium, zur größeren Einheit. Wenn es gut kommt, in föderaler Vielfalt, wie einst im Imperium Romanum; wenn es schlecht kommt, in der brutalen Einfalt, welche die Nationalsozialisten dem europäischen Reich verpassen wollten, das nach dem Krieg geschaffen werden sollte und das ein ganz und gar deutsches Reich hätte werden sollen.

Die Europäische Union ist eine ziemlich gute Alternative zum nationalsozialistischen Europaprojekt. In Anbetracht der Verhältnisse – starkes Deutschland, starkes Frankreich und starkes Großbritannien, aber schwacher Süden – geriet sie notgedrungen zu einer kontinentalen Veranstaltung mit Hang nach Norden. Die glückliche Nord- und dann Osterweiterung trugen des Weiteren dazu bei, diese Tendenz zu verstärken. Und erst recht gilt das für den gegenwärtigen Integrations- und Vertiefungsblitz, den die Finanz- und Euro-Krise in die EU geschleudert haben. Vorbei vorerst die schöne alte Zeit, in der der europäische Integrationsprozess über mehr als zwei Kapitalen verfügte und eine von ihnen – bewusst gesetzt – die lange vor sich hindösende Stadt war, von der aus vor mehr als zwei Jahrtausenden das Imperium Romanum auf den Weg gebracht worden war, dessen Frieden kein erzwungener war und schon gar keine Friedhofsruhe darstellte. Die EU hat heute neben dem Kunstkopf Brüssel nur zwei Zentralen, Berlin und Paris, und genau besehen nur eine, und die ist sicher nicht Paris. Seit ihrer Gründung ist die Europäische Union erst halb, dann ganz auf Distanz zum Gründungsraum von Abendland, Fortschritt, Aufklärung und Menschenrechten gegangen – auf Distanz zum Mittelmeerraum, der nicht mehr als Einheit gesehen wird und der nur zu einem Drittel der EU angehört.

Auch nördlich der Alpen sind wir Teil der mittelmeerischen Zivilisation

Auch wenn dabei vielen überhaupt nicht unwohl ist, es ist nicht gut so. Das hat Frankreichs ebenso energischer wie sprunghafter Staatspräsident Nicolas Sarkozy, in dessen Familie viel Europa und Mittelmeerraum zusammenkommen, vermutlich zumindest geahnt, als er die Idee einer Mittelmeerunion aus der Taufe hob. Es war nicht nur das Flüchtlingsproblem, das ihn spüren ließ, dass es kein guter Zustand ist, wenn die Europäische Union nach Süden hin einfach aufhört und das Meer zur Grenze erklärt, an der die Frontex, nicht aber Flüchtlinge etwas zu sagen haben, die die nördlichen Gestade des Mittelmeers auch deswegen ansteuern, weil sie – wenn man will: in ihrem genetischen Code – das Wissen von der Zusammengehörigkeit des Mittelmeerraums mit sich tragen. Doch leider hat Sarkozy das Projekt der Mittelmeerunion, deren zugrunde liegende Idee man in Berlin beharrlich nicht zur Kenntnis nehmen wollte, nicht konsequent verfolgt und ist es zweitens nur innereuropäisch und machtpolitisch angegangen. Angesichts eines starken und immer souveräner werdenden Deutschlands, das nicht mehr lange zögern würde, seine ihm zugewachsene Führungsrolle auch wahrzunehmen, sah er in der Mittelmeerunion vor allem einen Weg, seine eigenen Truppen aufzustocken und durchsetzungsstärker zu machen. Napoleon Bonaparte, einer seiner Vorgänger, legte ein großes politisches Interesse am Mittelmeerraum an den Tag. Wie dieser betreibt auch Sarkozy, wenngleich mit ausschließlich zivilen Methoden, Mittelmeerpolitik als Kontinentalpolitik. Es geht ihm nicht um die Erweiterung der EU zu einem Gesamtraum, dem Europa unendlich viel zu verdanken hat. Und ohne den es – was wichtiger ist – auf Dauer amputiert und von seinen stärksten Wurzeln abgeschnitten wäre.

So kommt es, dass man in der gesamten EU das gegenwärtige Weltgeschehen am Mittelmeer zwar als etwas sieht, das uns aus diesen oder jenen politischen, strategischen, wirtschaftlichen Gründen interessiert und Auswirkungen auf uns haben wird, das uns aber im Wortsinne äußerlich ist. Ein vertiefter Blick auf die Vegetation, die Kulturen, die Geschichte des Mittelmeerraums könnte uns lehren, dass das ein schwerwiegender Irrtum ist. Denn auch nördlich der Alpen sind wir Teil der mittelmeerischen Zivilisation. Nicht weil uns die Römer von den Bäumen und aus den Wäldern geholt hätten. Sondern weil es ohne die Ideen und Taten aus, um nur einige zu nennen, Jerusalem, Athen, Karthago, Rom, Alexandria, Byzanz und Salamanca Luther, Locke und Kant, um wiederum nur einige wenige zu nennen, so wenig gegeben hätte wie die französische, die amerikanische und die industrielle Revolution mit ihren ungeheuren Zugewinnen an Wohlstand, Mobilität und Wissen.

Tunis, das nur zehn Kilometer vom untergegangenen Karthago entfernt liegt, ist unsere Nachbarstadt. Irgendwie sind wir alle Tunesier.

THOMAS SCHMID ist Herausgeber der Welt-Gruppe.

  • 1Das Buch ist in gewisser Weise eine Kompilation. Auf den einleitenden historischen Teil folgt ein Kapitel über die Tore des Mittelmeers: Dardanellen, Gibraltar, Suez-Kanal und die Straße von Otranto zwischen dem süditalienischen Brindisi und der Küste Albaniens. Diese Tore – so die These des Kapitels – trennen, stellen aber ebenso Verbindungen her. Dem schließt sich ein wunderbares Kapitel über die Vielfalt der Mittelmeerinseln an, die quer durch die Geschichte hindurch so etwas wie Brückenköpfe waren; sie waren es, die vor allem dazu beitrugen, West und Ost bei allem Trennenden unzertrennlich zu verbinden. Die restlichen sieben Kapitel sind den um das Mittelmeer gruppierten Staaten gewidmet. Sie fußen wesentlich auf ausgedehnten Reisen der Autorin in die Region und bestehen zum Teil aus Reportagen, die Margret Boveri für das Berliner Tageblatt geschrieben hatte, die aber nicht veröffentlicht wurden. In diesem Teil des Buches geht es sehr geostrategisch zu. Man liest ihn mit häufigem Befremden, weil die Autorin hier eine eigentümliche Begeisterung für mehr oder minder rücksichtslose Machtpolitik und entschlossene Führergestalten – etwa Mussolini, der damals den Abessinien-Krieg führte – an den Tag legt. Man lese jedoch auch diese Teile: Man kann an der Argumentation der in jedem Fall klugen und erfindungsreichen Autorin lernen, wie man damals auf jene europäischen Konfliktschichtungen blickte, die wenig später in den Zweiten Weltkrieg mündeten.
Bibliografische Angaben

Internatiopnale Politik 2, März/ April 2012, S. 120-127

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