Weltspiegel

27. Juni 2022

Macrons Pläne

Der französische Präsident ist weiter bemüht, Impulse zu setzen. Für das deutsch-französische Tandem ergeben sich neue Chancen – wenn es sich gegenüber anderen in Europa öffnet.

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Bild: Macron zu Besuch bei Olaf Scholz im Mai 2022
Spätestens das 60-jährige Jubiläum des Élysée-Vertrags im Januar 2023 wird Frankreich und Deutschland zwingen, ehrgeizige Vorschläge zu machen: Emmanuel Macron zu Besuch bei Olaf Scholz im Mai 2022.
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Die Wiederwahl von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron fällt in die Zeit von weltwirtschaftlichen Entkopplungstendenzen und der fortschreitenden Erosion der multilateralen regelbasierten Ordnung – beschleunigt und verschärft durch die Coronavirus-Krise und den russischen Krieg in der Ukraine.

Hierdurch ergeben sich für das deutsch-französische Tandem große Handlungschancen, abr auch neue Herausforderungen. Sie könnten sogar zu einer Schwächung führen, falls die nötige Öffnung der Zusammenarbeit für weitere EU-Partner nicht gelingt.



Französische Führung

Für Macron stellt sich in einer Welt mit zwei starken Machtblöcken um die Vereinigten Staaten und China die Frage, ob die EU international, aber auch nach innen (Stichwort politische Geschlossenheit, digitale Abhängigkeiten) noch als autonomer Akteur agieren kann. Mit Blick auf diese Entwicklungen hat Macron mit fester Überzeugung bereits seit Regierungsantritt 2017 das EU-Leitmotiv einer europäischen Souveränität beziehungsweise einer strategischen Autonomie vorangetrieben. Der anfängliche Widerstand Nord- und Osteuropas inklusive Deutschlands gegen diese Pläne ist inzwischen geringer geworden, und unter französischer Ratspräsidentschaft hat die EU erstmals einen „strategischen Kompass“ für ihr gemeinsames außenpolitisches Handeln erarbeitet.



Hinzu kommt, dass außer Macron derzeit keine durchsetzungsstarken Führungsfiguren größere Impulse für das europäische Projekt entwickeln. Die Wiederwahl hat ihn gestärkt. Selbst ohne eigene Mehrheit im Parlament (das Ergebnis lag bei Redaktionsschluss der IP noch nicht vor) kann Macron dank der außenpolitischen Prärogative des Präsidentenamts eine strategische Weiterentwicklung der EU vorantreiben. Seine Ideen hierzu hat er am Europatag 2022 vor dem Europaparlament dargelegt und dabei betont: „Mehr europäische Unabhängigkeit und Souveränität – das ist es, was wir brauchen.“



Im Fokus steht dabei zuallererst sein persönlicher Einsatz in langen Gesprächen mit allen relevanten Akteuren, nicht zuletzt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, für die Beendigung des russischen Krieges in der Ukraine und eine neue Nachkriegsordnung in Europa. Als ständiges Mitglied und einzig verbleibende EU-Nuklearmacht im UN-Sicherheitsrat hat das Land hierbei eine herausgehobene Stellung inne, beispielsweise mit Blick auf den Status Frankreichs als Garantiemacht eines zukünftigen ukrainisch-russischen Friedensvertrags. Für die stärkere sicherheitspolitische Integration Europas tun sich mit der „Zeitenwende“ in Deutschland und auch in den skandinavischen Ländern Chancen auf, die auch von industriepolitischer Relevanz sind – insbesondere in Sachen Rüstungszusammenarbeit.



In seiner Europarede rief Macron dazu auf, „die Geografie und die Organisation unseres Kontinents zu überdenken“. Indem er übereilte EU-Beitritte zurückwies, belebte er das Konzept eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten, um die EU-Nachbarschaft enger an die EU zu binden und diese vor weiteren Beitritten handlungsfähiger zu machen. Hier sieht der französische Präsident Möglichkeiten zur engeren Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Verkehr, Investitionen, In­frastruktur, Personenverkehr und Jugend. Explizit erwähnte er dabei das Vereinigte Königreich sowie Pläne für engere Kooperationsformate innerhalb der EU, insbesondere der Eurozone.



Der europäische Green Deal, also die Dekarbonisierung, ist für Macron nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ebenfalls noch dringlicher geworden. Dabei sieht sich Frankreich durch einen starken Nuklearsektor weniger betroffen von der Entkopplung russischer fossiler Energie als beispielsweise Deutschland und verstärkt sein globales Führungsbemühen in Sachen Dekarbonisierung, auch als Gastnation des Pariser Abkommens.



Deutschland ist gefragt

Für all diese ehrgeizigen Projekte braucht Macron dringend ein verlässliches Deutschland. Während seiner ersten Amtszeit hat er zwar versucht, Frankreichs Partnerschaften in Europa zu diversifizieren, insbesondere mit Italien, mit dem man im November 2021 den Quirinal-Vertrag schloss. Ebenso hat sich Paris unter Macrons Führung stärker als bisher dem Osten Europas zugewandt – was allerdings erhebliche Spannungen, insbesondere mit Polen und Ungarn, nicht ausschließt. Deutschland bleibt jedoch sein wichtigster Partner, auf den es in dieser Krisenzeit nicht verzichten kann.



Gegenwärtig sind die Voraussetzungen für den deutsch-französischen Bilatera­lismus günstig. Nach den jüngsten Wahlen sind im Élysée-Palast und im Bundeskanzleramt überzeugte Integrationisten an der Macht. Außerdem hat sich Deutschland unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie und des Krieges in der Ukraine der französischen Analyse der europäischen Souveränität angenähert. Zwar gehen die deutschen Entscheidungsträger bei der Forderung nach Autonomie nicht so weit wie ihre französischen Kolleginnen und Kollegen, doch erkennen sie die Notwendigkeit an, die europäische Handlungsfähigkeit in bestimmten strategischen Bereichen zu entwickeln. Schließlich ist der Zeitpunkt günstig, weil beide Länder vor den Wahlen zum Europaparlament 2024 und zum Bundestag 2025 ein Zeitfenster haben und weil der 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags im Januar 2023 sie dazu zwingt, eine Reihe von ausreichend ehrgeizigen Vorschlägen zu unterbreiten.



Auch wenn die Bedingungen für den deutsch-französischen Bilateralismus günstig sind, bedarf es einer gegenseitigen Rückversicherung, um Missverständnisse zu vermeiden. Dies ist heute umso nötiger, als sich die persönlichen Kontakte während der Pandemie de facto gelockert haben und ein Wechsel des politischen Personals stattgefunden hat, sowohl in den Ministerien als auch in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung.



Zudem hat die Ampelkoalition Schwierigkeiten, ihre politische Linie zu präzisieren und klare Botschaften zu senden, sowohl nach innen als auch nach außen. Mit der Rückkehr des Krieges wurden große Gewissheiten Deutschlands erschüttert, sei es mit Blick auf das Wirtschaftsmodell oder auf die Sicherheitspolitik, die es praktisch an die USA delegiert hatte und um die es sich im Gegensatz zum französischen Nachbarn kaum sorgte.



In geopolitischen Fragen führen Paris und Berlin seit Jahren einen schwierigen Dialog. Die russische Bedrohung kann sie einander näherbringen, und die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf ­Scholz ist in dieser Hinsicht eine gute Nachricht. Die entscheidende Frage bleibt aber, ob die beschlossenen Budgetbemühungen mit der Fähigkeit und dem Willen einhergehen werden, sich stärker bei militärstrategischen Fragen einzubringen und auch als militärische Kraft zu agieren. In Paris fragt man sich insbesondere, wie sich die Bundesregierung bei Themen der europäischen versus der transatlantischen Verteidigung positioniert und ob es gemeinsame Industrieprojekte im Rüstungsbereich ernst nimmt. Um in einer krisengeschüttelten Welt eine Rolle zu spielen, muss sich das deutsch-französische Tandem mit den Realitäten der Welt auseinandersetzen, so erschreckend diese auch sein mögen. In diesem Punkt hängt viel von Deutschland ab. Während Emmanuel Macron eine Führungsposition in Europa anstrebt, kann er ohne einen klaren, soliden und zuverlässigen deutschen Partner wenig erreichen. Aus diesem Blickwinkel könnte die Kritik aus Mittel- und Osteuropa und den Vereinigten Staaten an einem zögerlichen oder gar selbstgefälligen Deutschland indirekt die französischen Projekte schwächen, da sie de facto eine deutsch-französische Komponente beinhalten.



Das Risiko der Marginalisierung

Um ihre Zusammenarbeit wieder in Gang zu bringen, müssen sich Paris und Berlin auch gegenüber ihren europäischen Partnern stärker öffnen. Der Krieg in der Ukraine bringt die Gewichte in Europa in Bewegung und verlagert das Gravitationszentrum der EU. Vor allem Polen, aber auch andere Länder wie die baltischen Staaten erheben ihre Stimme, während es in der Sicherheitspolitik zu einer Neupositionierung von Schweden, Finnland und Dänemark kommt – dessen Bevölkerung sich gerade mit großer Mehrheit für eine Beteiligung an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgesprochen hat.



In den östlichen Regionen Europas werden beide Länder für ihre mangelnde Entschlossenheit gegenüber Moskau stark kritisiert. So wurde beispielsweise der lange Austausch von Macron und ­Scholz mit Putin Ende Mai sehr negativ aufgenommen, zumal beide seit Beginn des Krieges Kiew nicht mehr besucht haben. Die historischen Erfahrungen und politischen Sensibilitäten dieser Länder ­besser zu berücksichtigen, ist eine Frage der Glaubwürdigkeit deutsch-französischer Führung und damit auch ihrer Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der Union. Wenn es dem deutsch-französischen Tandem nicht gelingt, sich zu öffnen, kann es schnell marginalisiert werden.



In dieser Hinsicht bietet die vom französischen Präsidenten vorgeschlagene Idee einer „europäischen politischen Gemeinschaft“ Anstöße, um die Interaktionen zwischen der EU und den Ländern an der europäischen Peripherie neu zu überdenken. Sie könnte auch die Einbindung des Vereinigten Königreichs erleichtern, das seit dem Brexit versucht, wieder eine diplomatische Rolle in Europa zu spielen. Dies ist jedoch ein mittelfristiges Projekt, das noch viel konzeptuelle Arbeit erfordert. Bis dahin bleiben tri- und multilaterale Formate rund um das deutsch-französische Tandem unerlässlich – jedoch ohne Institutionalisierung wie beim Weimarer Dreieck. Wichtig ist hier, dass Frankreich und Deutschland die Position von Zuhörern einnehmen und einige ihrer Gewissheiten infrage stellen.



Ob die beiden Länder sich dieser Herausforderung stellen werden, bleibt offen. Sicher ist jedoch: In einer Zeit geopolitischer Umwälzungen und Zweifel, die durch die Entkopplung zwischen China und den USA und die Ungewissheit über die US-Wahlen 2024 genährt werden, ist ein gemeinsam agierendes, ehrgeiziges und zugleich offenes deutsch-französisches Tandem unverzichtbar.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 82-85

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Mehr von den Autoren

Dr. Claire Demesmay leitet das Referat Interkulturelle Aus- und Fortbildung beim Deutsch-Französischen Jugendwerk und forscht am Centre Marc Bloch.



Klemens Kober ist Referatsleiter Handelspolitik beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag.

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