Machtkampf in Russland
Die Festnahme des Oligarchen Chodorkowskij stellt wieder einmal die Frage nach der Zukunft
Russlands: Geht die Entwicklung hin zu einer marktwirtschaftlichen, rechtsstaatlichen Demokratie
oder verwandelt der Machtapparat Wladimir Putins Russland erneut in einen autoritären Staat?
Wladimir Putin ist aus der Jukos-Affäre als Gewinner hervorgegangen. Innenpolitisch hat er mit dem Schlag gegen den führenden Oligarchen Russlands, Michail Chodorkowskij, Punkte gesammelt. Im Ausland steht er als Mann der Tat dar. Neben Chodorkowskij entledigte sich Putin auch seines Stabschefs, Alexander Woloschin, der bislang als Verbindungsmann zwischen dem alten Jelzin-Regime und der Putin-Mannschaft fungierte. Woloschins Weggang symbolisiert das Ende der Jelzin-Ära.
Zwei Varianten für die zweite Amtszeit Putins zeichnen sich ab. An einer Wiederwahl Putins im März 2004 gibt es keine Zweifel. Entweder wird die Entmachtung der Oligarchen, die eine Hauptverantwortung für die Korruption, die Kriminalität, das Nichtaufkommen des Mittelstands trugen und immer wieder als Gegner von ausländischen Investitionen auftraten, dem Land einen neuen Reformschwung verleihen und mittelfristig für mehr Rechtssicherheit sorgen. Dies wollte Putin mit der Entmachtung Chodorkowskijs, der vom Kreml jetzt als oberster Mafioso dargestellt wird, demonstrieren. Putin ließ in seinen Kommentaren erkennen, dass der Kreml künftig soziale Gerechtigkeit wahren wolle: kleinere Vergehen, die im Zuge der Privatisierung entstanden waren, sollen nicht verfolgt, größere Verbrechen, einschließlich Morden, jedoch hart geahndet werden.
Oder führt Putin den Westen an der Nase herum und baut in Wirklichkeit mit Hilfe des Geheimdiensts ein neues autoritäres System auf, in dem zwar die Marktwirtschaft erhalten, Demokratie aber abgeschafft werden soll? Das selektive Vorgehen der Justiz gegen den „guten“ Oligarchen Chodorkowskij, der sein Geld nicht ins Ausland schaffte, sondern einen Läuterungsprozess durchlief und sich zu einem musterhaften Großunternehmer zu wandeln begann, wird dafür als Indiz angeführt.
Wie verhält sich die Festnahme Chodorkowskijs mit Russlands Absicht, der WTO beizutreten und den Markt für westliche Investoren zu öffnen? Wo steht Putin wirklich in dieser Frage? Anfang dieses Jahres forderte er den staatlichen Ölkonzern Chinas auf, sich bei der Privatisierung der russischen Ölfirma „Slawneft“ zu beteiligen. Doch der Verkauf wurde erneut als ein Insidergeschäft unter den Oligarchen abgewickelt, ohne ausländische Beteiligung. Dann unterstützte Putin die Idee eines russisch-ukrainisch-deutschen Gaskonsortiums. Wieder scheiterte das Geschäft – aus Furcht der Oligarchen vor ausländischer Konkurrenz. Kurz vor der Verhaftung Chodorkowskijs unterstützte Putin persönlich den Aufkauf der Ölfirma TNK durch British Petroleum und beteuerte gegenüber amerikanischen Ölmultis sein grundsätzliches Einverständnis für eine Fusion von ExxonMobile mit Jukos. Nach der Verhaftung Chodorkowskijs traf sich Putin sofort mit westlichen Unternehmern, um sie von der Unumkehrbarkeit seines Reformkurses zu überzeugen. Sein neuer Stabschef rügte das barsche Vorgehen der Justiz gegen Jukos.
Ist Putin in Russland Herr der Lage oder regieren andere Kräfte im Kreml? Am Beispiel Chodorkowskijs scheiden sich die Geister, wenn es um ein Urteil geht. Kritiker sehen einen politischen Hintergrund der Kreml-Attacke. Chodorkowskij habe sich den Unmut des Kreml zugezogen, als er öffentlich Putins autoritäres System anprangerte, anfing, liberale Parteien zu finanzieren, laut über die Ära nach Putin nachdachte und am staatlichen Ölleitungsmonopol zu rütteln begann. Aus Kreml-nahen Kreisen hieß es, Chodorkowskij und andere hätten kurz davor gestanden, ihre Firmen, die sie in den neunziger Jahren vom Staat praktisch geschenkt bekommen hatten, an ausländische Konzerne zu verkaufen, ohne dass der Staat an den Riesengewinnen partizipieren würde. Chodorkowskij hatte erklärt, der Hauptsitz von Jukos könnte nach Texas verlagert werden. Eine Kontrolle westlicher Ölmultis über sibirische Ölquellen wollte der Kreml offensichtlich nicht zulassen.
Wie soll sich der Westen verhalten? Beim EU-Russland-Gipfel in Rom wurde von beiden Seiten Schadensbegrenzung betrieben. Die deutsche Wirtschaft, die in ihrer Russland-Strategie seit Jahrzehnten erfolgreich auf die russischen Behörden setzt, hielt sich mit negativen Kommentaren nicht nur zurück, sondern schien insgeheim mit dem Schlag gegen einen der schillerndsten Oligarchen zu sympathisieren. Anders die angelsächsische Wirtschaft. Diese öffnet sich ihre Wege auf den russischen Markt weniger über den Kreml als über die Oligarchen. Nicht umsonst haben russische Großkapitalisten wie Boris Beresowskij, Roman Abramowitsch oder Michael Friedman ihre Firmensitze nach London verlegt.
Ein eindeutiges Urteil über Putins Russland zu fällen ist schwer. Erst die Parlamentswahlen am 7. Dezember werden bestimmen, ob Russland eine rechtsgerichtete oder eine liberale Regierung erhält.
Internationale Politik 11, November 2003, S. 63 - 64