Lob der Langsamkeit
Die Kontrolle des Kapitalverkehrs hat Indien vor Finanzkrisen bewahrt
Indien wurde nicht Opfer der asiatischen Währungskrise vor neun Jahren; übrigens auch China nicht. Keine der herkömmlichen Faktoren, die von Volkswirten gerne bemüht werden, konnten dies erklären: schwach die Fiskaldisziplin; der Wechselkurs nicht frei; der Finanzsektor voll fauler Kredite; Korruption nicht geringer als in den Krisenländern. Des Rätsels Lösung: Weder Indien noch China besaßen einen freien Kapitalverkehr. So hatten sie auch kein kurzfristiges Kapital importiert, das bei Ausbruch der Investorenpanik hätte fliehen können.
Wachstumseinbrüche blieben Indien und China erspart, anders als etwa Thailand, Indonesien oder Korea. Die empirische Forschung weist für das Verhältnis Wachstumsertrag/Wachstumsrisiken bei der Liberalisierung kurzfristiger Bankkredite und Anleihen für Schwellenländer bislang nur ein sehr ungünstiges Ergebnis aus. Dies hielt weder bis heute die US Treasury noch bis zur asiatischen Finanzkrise den Internationalen Währungsfonds davon ab, Schwellenländer unter massiven Öffnungsdruck zu setzen.
Die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt hat mit der Aufrechterhaltung von Kapitalverkehrskontrollen eindrucksvoll das Diktum des Ordoliberalen Friedrich August von Hayek widerlegt, solche Kontrollen wiesen den „Weg zur Knechtschaft“. Seit 1991 wurde der Kapitalverkehr zwar schrittweise liberalisiert, doch bleiben bis heute Beschränkungen auf kurzfristige Kreditzuflüsse und auf Kapitalexporte in Kraft. Die Leistungsbilanz ist erst seit 1998 konvertibel; das heißt konkret, dass die Inder erst seitdem eine international gültige Kreditkarte besitzen dürfen. Ende Juli hat nun die Tarapore-Kommission der indischen Zentralbank ein Gutachten ausgehändigt, welches die Voraussetzungen und den Fahrplan für eine völlige Liberalisierung des Kapitalverkehrs spezifiziert. Sollte die Regierung den Schritt zur völlig freien Konvertierbarkeit wagen? Lassen wir uns nicht von den Teilerfolgen einzelner indischer Unternehmen auf den Weltmärkten blenden, die immer noch einen sehr kleinen Teil der indischen Wirtschaft ausmachen. Werfen wir stattdessen einen Blick in den Forderungskatalog der volkswirtschaftlichen Literatur:
- Ohne Fiskaldisziplin riskieren Kapitalimporte, ein letztlich nicht durchzuhaltendes Niveau der öffentlichen Ausgaben zu alimentieren. Wenn die Finanzmärkte dann irgendwann entschieden, die Haushaltsdefizite nicht weiter zu finanzieren, wäre eine Finanzkrise unausweichlich. Hier ist Indien mit einem konsolidierten Staatsdefizit von gut sieben Prozent des BIP und einer Staatsschuld von mehr als 80 Prozent des BIP nicht vorbereitet.
- Die Preisinflation sollte vor der Öffnung des Kapitalverkehrs auf ein niedrig einstelliges Niveau heruntergefahren sein, da hohe Zinsen während der Preisstabilisierungsphase „heißes“ Geld anziehen und den Wechselkurs kurzfristig hochschnellen ließen. Hier erfüllt Indien die Voraussetzungen.
- Das Bankensystem sollte saniert sein, um eine effiziente Intermediation der Kapitaleinfuhren zu gewährleisten. Hier ist Indien weit vorangekommen, denn der Anteil fauler Kredite ist seit zehn Jahren drastisch zurückgegangen.
Der Forderungskatalog gibt also allenfalls gelbes Ampellicht für eine sofortige vollständige Kapitalverkehrsliberalisierung in Indien. Dennoch neige ich dazu, der indischen Notenbank grünes Licht zu zeigen. (Nicht dass sie meinen Rat bräuchten: Sowohl Gouverneur Y.V. Reddy als auch sein Vize Rakesh Mohan sind hochqualifiziert und übertreffen in ihrer volkswirtschaftlichen Intelligenz den Durchschnitt des EZB-Rates um Längen). Grünes Licht zeige ich wegen der Kollateralerträge, die mit einer vollen Konvertibilität einhergehen würden. Ein wesentlicher Aspekt, der auch für die Liberalisierung des kurzfristigen Kapitalverkehrs spricht, ist die damit verbundene Senkung der Kapitalkosten für die Unternehmen. Die Möglichkeit, sich auch im Ausland kurzfristig zu verschulden und die Liberalisierung des Aktienhandels senken Kosten für Fremd- und Eigenkapital. Kurzfristig ausländische Kredite aufzunehmen, senkt Unternehmenskosten nicht nur angesichts fortbestehender Zinsdifferenzen zwischen Rupie und den wichtigsten Währungen dieser Welt, es senkt auch Bestechungskosten.
Die ausländischen Aktieninvestoren, die graduell an der Börse von Mumbai zugelassen wurden, machten diese erst zu einem Tauschplatz, der die Bezeichnung Börse verdient. Die Ausländer forderten liquidere Märkte, bessere Unternehmensdaten, kritischere Analysen – und bekamen sie von den indischen Unternehmen und Aufsichtsbehörden. Vorher, so beschreiben es indische Marktteilnehmer, war die Börse in Mumbai ein gruseliges Loch, wo Kursmanipulation und Insider-Trading die Norm waren.
Mumbai könnte ein regionales Finanzzentrum werden, wenn es die noch bestehenden Kontrollen fallen ließe. Die Fülle englischsprachiger, gut ausgebildeter Finanzmarktexperten in Indien, deren Gehälter im Weltmaßstab relativ gering sind, bieten einen klaren Ausstattungsvorteil. Wäre die Rupie vollkonvertibel, dann würde sie auch für die asiatischen Zentralbanken als Reservewährung interessant. Bereits einmal, in den sechziger Jahren, war die indische Rupie eine weit akzeptierte Handelswährung im Mittleren Osten, in Südostasien und in Ostafrika.
Prof. Dr. HELMUT REISEN, geb. 1950, arbeitet als Counsellor am Entwicklungszentrum der OECD in Paris und ist Titularprofessor an der Universität Basel. Er publiziert vor allem zu Fragen der Entwicklungs- und Währungspolitik sowie zur Globalisierung.
Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 60‑61