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01. Juni 2003

Liebesentzug?

Zum Abzug amerikanischer Truppen aus Deutschland

Die USA gehen bei der Überprüfung der Stationierung ihrer Truppen in Europa nach pragmatischen Gesichtspunkten vor. Sachliche Gründe sprechen nicht mehr für eine Beibehaltung aller Standorte in Deutschland. Das durch die deutsche Haltung in der Irak-Krise gestörte Vertrauensverhältnis aber legt es nahe, dass sich Amerika nach verlässlicheren Verbündeten umschaut.

Zu den Themen, die seit dem Zerwürfnis zwischen dem deutschen Bundeskanzler, Gerhard Schröder, und dem amerikanischen Präsidenten, George W. Bush, das veränderte Verhältnis beider Regierungen zueinander kennzeichnen, gehört die Frage, ob die Amerikaner ihre Truppen ganz oder teilweise aus Deutschland abziehen. Auf deutscher Seite wird vermutet, der Abzug sei als eine Art „Liebesentzug“ oder „Strafaktion“ gedacht, wie es der deutsche Verteidigungsminister, Peter Struck, Anfang Mai bei seiner Zusammenkunft mit seinem amerikanischen Kollegen, Donald Rumsfeld, in Washington formulierte. Doch das war nicht der Vater des Umstationierungsgedankens.

Bereits bevor Schröder im letzten Bundestagswahlkampf den amerikanischen Präsidenten öffentlich des Abenteurertums bezichtigte und damit den deutsch-amerikanischen Beziehungen den schwersten Schaden seit Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 zufügte, hatte man im Pentagon damit begonnen, über Truppenverlegungen in Deutschland nicht nur nachzudenken, sondern sie konkret vorzubereiten. So meldete Stars and Stripes, die Zeitung der amerikanischen Armee, in ihrer europäischen Ausgabe vom 30. Juni 2002, die Armee beabsichtige, aus Kostengründen zwölf militärische Einrichtungen im Raum Gießen/Frankfurt zu schließen und insgesamt 8500 Mann ihrer 1. Panzerdivision in die unmittelbare Nähe des Truppenübungsplatzes Grafenwöhr zu verlegen. Dies sei Teil des „Efficient Basing-East“-Programms.

Der Auftrag zur Umstrukturierung war bereits 2001 erteilt worden, also zu einem Zeitpunkt, als das deutsch-amerikanische Verhältnis noch intakt war. Damals fanden Hinweise auf die Absichten der amerikanischen Streitkräfte allenfalls in den Regionen Beachtung, die von ihnen unmittelbar betroffen waren. Politische Relevanz wurde solchen Plänen nicht beigemessen.

Das ist mit dem 8. August 2002 anders geworden, jenem Tag, an dem Schröder seiner nach den Terroranschlägen vom September 2001 abgegebenen Versicherung der „uneingeschränkten Solidarität“ auf einer Wahlkampfveranstaltung in Altenstadt den folgenschweren Nachsatz hinzufügte: „Zur Solidarität sind wir bereit, für Abenteuer sind wir nicht zu haben.“ Er markiert heute das Ende eines Vertrauensverhältnisses der amerikanischen Führung zu dem Staat, der sich in einem halben Jahrhundert von einem Besatzungsgebiet zum engsten Verbündeten neben Großbritannien entwickelt hatte.

Dieses Vertrauensverhältnis buchstäblich mit einem Satz zerstört zu haben, könnte sich nicht nur als die folgenschwerste Tat der Regierungszeit dieses Kanzlers erweisen. Sie hat bereits jetzt eine traumatisierende Wirkung. Sie spiegelt sich in den verbalen Beteuerungen des eigenen Selbstbewusstseins ebenso wider wie in Strucks decouvrierender Frage.

Beides zusammen, die Betonung des eigenen Selbstbewusstseins („wir sind eine selbstbewusste Nation“), die fatal an das Pfeifen im dunklen Walde erinnert, und die Fragen nach „Strafaktionen“ oder „Liebesentzug“ ergeben ein beklemmendes Psychogramm der aktuellen deutschen Außenpolitik. Es schließt ungewollt das Eingeständnis ein, dass man sich selbst weniger als handelndes politisches Subjekt sieht, sondern vielmehr als ein behandeltes und die Handlungen anderer hinnehmendes Objekt; ein unfreiwilliges und gerade deshalb betroffen machendes Eingeständnis eines tief gestörten Selbstbewusstseins und des Leidens unter den Folgen eigenen Handelns.

Deutschland gleicht einem geprügelten Hund, dessen Bellen eigentlich ein Jaulen ist. Nichts zeigt dies deutlicher als ein Vergleich mit der Nation, an die sich die Regierung Schröder in ihrer Angst vor totaler außenpolitischer Isolation nun ganz besonders eng geklammert hat: Frankreich. Als es unter Staatspräsident Charles de Gaulle 1965 zu der Einschätzung kam, dass Amerika ihm die nach seinem eigenen Selbstverständnis zustehende Teilhabe an der Führung der NATO nicht zuzubilligen bereit war, kündigte es von sich aus die Verträge, auf denen die Anwesenheit der NATO-Einrichtungen und der amerikanischen Verbände auf seinem Territorium beruhten. Frankreich beanspruchte volle Parität zu Amerika. Es ruhte (und ruht bis heute) in sich selbst und schöpfte daraus sein Selbstbewusstsein.

Nichts davon trifft derzeit auf die Bundesrepublik Deutschland zu. Sie bezog ihr Selbstbewusstsein aus der Rolle, die ihr im Konzert der westlichen Mächte zugebilligt wurde und aus der Anerkennung, die sie dafür vor allem von Washington bekam. Es war – und ist bis heute – ein abgeleitetes, kein autonomes Selbstbewusstsein, das sie kennzeichnet. Der Bestätigung durch Washington sieht sich die politische Führung der Bundesrepublik nun durch Schröders Politik verlustig. Welche Konsequenzen Deutschland daraus zieht – ob es versucht, die Gunst des amerikanischen Präsidenten wieder zu erlangen, oder ob es sich emanzipiert und versucht, sein Selbstbewusstsein aus eigenen Quellen zu speisen – ist von Bedeutung. Künftige politische Entwicklungen können davon maßgeblich beeinflusst werden.

Für Washington nimmt sich die Frage seiner künftigen Truppenstationierung in Europa ganz anders aus. Sachliche Gründe, die Truppen hauptsächlich in Deutschland zu belassen, gibt es nicht mehr. So muss für Amerika bei einer Überprüfung der Stationierung in Europa die Gewissheit Vorrang haben, in jedem Konfliktfall frei über seine Kräfte verfügen zu können. Angesichts der Äußerungen im Bundestagswahlkampf dürfte man sich in Washington bezüglich Deutschlands Zuverlässigkeit nicht mehr uneingeschränkt sicher sein.

Das spricht für eine Verlagerung zumindest eines Teiles der Verbände und Einrichtungen in andere europäische Länder wie Polen oder Ungarn. Dort sind derartige Risiken bislang zumindest auszuschließen. Im Gegenteil: Mehrere neue Mitgliedstaaten der NATO wünschen sich nichts mehr als die Verlegung amerikanischer Truppen auf ihr Territorium. Sie sehen darin eine Aufwertung durch die westliche Vormacht und damit einen Bedeutungszuwachs im Bündnis – nicht zuletzt gegenüber dem westlichen Nachbarn Deutschland, in dem sie ungeachtet der gemeinsamen NATO-Mitgliedschaft immer auch den Konkurrenten und Interessensrivalen sehen.

All dies weist darauf hin, dass Washington die Chance nutzt, eine Umstrukturierung seiner Streitkräfte in Europa auch als Mittel seines politischen Gunstbeweises zu nutzen. Wenn dadurch in Deutschland der Eindruck entsteht, dies sei die Folge verspielter Sympathien, so kann auch dies Amerika nur recht sein.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2003, S. 46 - 48

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