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01. Juni 2005

Die neue Bundeswehr

Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee

Vor 50 Jahren wurde die Bundeswehr gegründet. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit hat sie in den letzten beiden Jahrzehnten einen rasanten Wandel durchlebt. An die Stelle der verfassungsgemäßen Aufgabe der Landesverteidigung sind Friedenseinsätze im Auftrag der UN getreten. Doch der derzeitige Zustand trägt den Charakter des Vorläufigen.

Am 12. November 2005 jährt sich die Gründung der Bundeswehr zum 50. Mal. Dieser Tag war vor einem halben Jahrhundert mit Bedacht gewählt worden: Es war der 200. Geburtstag des preußischen Generals und Heeresreformers Gebhard von Scharnhorst.

Die Vereidigung der ersten 101 Soldaten der künftigen Bundeswehr in der Bonner Ermekeilkaserne hatte programmatischen Charakter. Sie sollte bezeugen, an welche Tradition deutschen Soldatentums die neue Armee anknüpfen wollte. Es war der Geist, aus dem heraus Scharnhorst die preußische Armee nach ihrem Fiasko im Krieg gegen Napoleon neu geschaffen hatte. In ihr verbanden sich die Achtung vor der Würde des Menschen (Abschaffung der körperlichen Züchtigung und des Spießrutenlaufens) mit der Überzeugung, dass der Staatsbürger der natürliche Verteidiger seines Vaterlands und die Wehrpflicht die Konsequenz dieser Einsicht sei.

Hieran knüpfte die Bundesrepublik Deutschland an, als sie vor 50 Jahren ihre Armee aufbaute und damit die Voraussetzung für ihre Westintegration und für ihren Schutz vor der sowjetischen Gefahr schuf. Aus der Übertragung des Scharnhorstschen Reformansatzes auf die Gegenwart des Jahres 1955 ergaben sich das Postulat des Staatsbürgers in Uniform, das Konzept der Inneren Führung und die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Keine dieser Normen ist bis heute außer Kraft gesetzt worden. Dennoch hat sich die Bundeswehr in den fünf Jahrzehnten, die seit ihrer Gründung verstrichen sind, tiefgreifend verändert. Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit der Wiedervereinigung Deutschlands – also mit dem Wegfall der Fakten, denen die Bundeswehr ihre Entstehung verdankte – ist sie in eine Phase eingetreten, deren Ende und Ergebnis heute noch nicht absehbar sind. Ihre Wandlung ist so umfassend, dass man von einer Metamorphose sprechen kann. Das lässt sich sowohl für ihre materielle als auch für ihre immateriellen Existenzgrundlagen sagen – und belegen. Die Veränderung bezieht alle Teile der Bundeswehr ein: das Sanitätswesen nicht anders als Marine und Luftwaffe. Am stärksten aber wirkt sie sich auf ihren Kern, auf das Heer aus. Es ist – aus triftigen Gründen – nur noch ein Schatten dessen, was es an Umfang und Kampfkraft einmal war.

Nach ihrer Aufbauphase, die Anfang der sechziger Jahre weitgehend beendet war, hatte die Bundeswehr eine Größe von etwa 480 000 Mann erreicht. Als sie ihren Aufbau abgeschlossen und ihren vorgesehenen Umfang Anfang der achtziger Jahre unter den Verteidigungsministern Leber und Apel voll erreicht hatte, zählte sie 495 000 Mann. Davon dienten etwa 30 000 in der Marine, 120 000 in der Luftwaffe, rund 5000 gehörten zum zentralen Bereich. Mit 345 000 Mann war das Heer die mit Abstand größte Teilstreitkraft. Es war in ein Feldheer mit drei Korps, zwölf Divisionen mit je drei Kampfbrigaden, also 36 Brigaden insgesamt untergliedert. Zu seiner Unterstützung stand das Territorialheer bereit. Es war in drei Territorialkommandos untergliedert und stellte nach einer Mobilmachung weitere zwölf Kampfbrigaden bereit, von denen zwei schon im Frieden voll einsatzfähig und dem Feldheer zugeordnet und vier weitere teilaktiv waren. Insgesamt umfasste das Heer somit 422 Bataillone. Mit der Wiedervereinigung und der Eingliederung der Verbände der Nationalen Volksarmee der DDR stieg der Heeresumfang kurzzeitig sogar auf 490 Bataillone an – um dann rasch zu schrumpfen. Zur Bewaffnung des Heeres gehörten (ohne das nie übernommene Gerät der NVA) 5119 Panzer, 2100 Schützenpanzer, 432 Flakpanzer, 143 Raketenflakpanzer, 1062 Geschütze mit einem Kaliber von mehr als 100 Millimetern und 235 Raketenwerfer mittlerer und großer Reichweite (MARS und LARS).

Die Metamorphose

Der Abbau dieses Heereskörpers (Heeresstruktur 4) begann 1992. Er war schon deshalb notwendig geworden, weil sich die Bundesregierung im Rahmen der Wiedervereinigungsverhandlungen dazu verpflichtet hatte, den Umfang der Bundeswehr auf 370 000 Mann zu verkleinern. Das Heer sollte mit der Heeresstruktur 5 auf acht Divisionen mit 26 Kampfbrigaden und 269 Bataillone verkleinert werden. Noch bevor dies umgesetzt werden konnte, war eine weitere Verkleinerung auf 24 Brigaden und 261 Bataillone (Heeresstruktur 5 N) beschlossen. Schon 1996 folgte eine weitere Verkleinerung auf nur noch 227 Bataillone und 228 000 Mann mit  2528 Kampfpanzern. Diesem „Neues Heer für neue Aufgaben“ bezeichneten Entwurf folgte 2001 der nächste – nun von Verteidigungsminister Scharping – beschlossene Verkleinerungsschritt. Er trug den euphemistischen Titel „Heer der Zukunft“ und strebte einen Heeresumfang von 134 000 Mann, 118 Bataillonen und noch 854 Panzern an. Der bislang letzte Beschluss stammt von Verteidigungsminister Struck. Er trägt die Bezeichnung „Heer 2010“ und zielt darauf, das  Heer noch weiter, nämlich auf 105 000 Mann mit 74 Bataillonen zu verkleinern. Dadurch schrumpft die Zahl der Panzerbataillone, die in Scharpings Planung noch 13 betrug, auf 6 mit insgesamt 350 Panzern; die der Panzergrenadierbataillone von 15 auf 8; die der Artillerie von 17 auf 6; die der Heeresflak von 5 auf 2 und die der Pionierbataillone von 9 auf 6. Für die Abwehr von atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen (ABC) bleiben von 4 nur 2 Bataillone übrig.

Mit diesem Abbau konventioneller Kampfkraft ziehen die politisch Verantwortlichen nicht nur Konsequenzen aus der für Deutschland günstiger gewordenen Sicherheitslage, die sich aus dem Ende des Ost-West-Konflikts ergeben hat, sondern auch aus neuen Anforderungen – vor allem aber aus der finanziellen Prioritätensetzung von Regierung und Parlament. Sie haben den Anteil des Verteidigungshaushalts von mehr als 20 auf weniger als 10 Prozent halbiert und damit auch die faktische Halbierung der Bundeswehr erzwungen.

Die veränderte Weltlage und die mit ihr verbundenen Auswirkungen auf das wieder vereinte Deutschland machten sich schon wenige Monate nach der Wiedervereinigung mit dem ersten Golf-Krieg brutal bemerkbar. Was damals noch möglich war – das Vermeiden einer militärischen Beteiligung an dem Feldzug der wichtigsten Alliierten Deutschlands – hat sich inzwischen längst als Ausnahme erwiesen. Über die humanitäre Hilfe in Kambodscha und die Unterstützungsoperation in Somalia, über die Einsätze in Kroatien, in Bosnien und im Kosovo sah sich Deutschland zu einer immer stärker werdenden Teilnahme an militärischen Operationen innerhalb wie außerhalb der NATO gezwungen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Es ist die Tatsache, dass Deutschland seine außen- und sicherheitspolitischen Interessen als Mitglied der UN, der NATO und der EU verfolgt und die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten berücksichtigen muss, wenn es nicht gegen seine Interessen verstoßen will. Das aber heißt, dass eine Beschränkung der Bundeswehr auf den Zweck, zu dem sie vor 50 Jahren gegründet wurde, nämlich zur Landesverteidigung auf eigenem Territorium („Vorne-Verteidigung“ – nicht „Vorwärts-Verteidigung“) nicht mehr möglich ist ohne den Wert der Bundesrepublik als Bündnispartner zu schmälern, den Einfluss auf die Verbündeten zu verringern und damit dem deutschen Interesse zu schaden.

Die sich daraus ergebenden neuen Anforderungen an die Bundeswehr sind wesentlich für die neuen Strukturen, die sie einnehmen muss. Der Wegfall einer akuten oder auch nur einer sich als realistische Möglichkeit konkret abzeichnenden militärischen Bedrohung Deutschlands und die wachsende Finanznot haben Verteidigungsminister Struck dazu veranlasst, die Strukturen zu beseitigen, die speziell als Vorsorge für den Verteidigungsfall erhalten wurden. Dazu gehört das Vorhalten der Ausrüstung für Einheiten, die nur im Mobilmachungsfall bemannt worden wären.

Das Territorialheer entfällt damit ebenso wie das Instrumentarium, das die Bundeswehr bis in die neunziger Jahre dazu befähigte, durch die Aufstellung von Reserveverbänden innerhalb weniger Wochen auf einen Umfang von deutlich mehr als einer Million Mann anzuwachsen. Die Befähigung zur Mobilmachung entfällt künftig ebenso wie die zur Landesverteidigung.

Neu hinzu kommt dagegen die Befähigung zu weltweiten Einsätzen. Dazu gehört das Instrumentarium, um militärische Verbände über große Distanzen durch die Luft verlegen und versorgen zu können; also eine Lufttransportfähigkeit, die die Bundeswehr bis heute nicht besitzt. Dazu gehört der Aufbau einer weltraumgestützten weltweiten Aufklärung durch entsprechende Satelliten ebenso wie der Erwerb von Kommunikations- und Führungssystemen, die den weltweiten Einsatz von Bundeswehrverbänden ermöglichen. Neu hinzu kommt die Befähigung zur „vernetzten Kriegführung“ (centric network warfare); eine neue Qualität der Führungsfähigkeit, mit der Amerika seine Streitkräfte ausgestattet hat. Damit hat es seine Verbündeten vor die Notwendigkeit gestellt, diese Qualitätsstufe und die sich daraus ergebende teure Ausrüstung in ihren Streitkräften ebenfalls einzuführen, wenn sie die Befähigung zur Teilnahme an militärischen Operationen der US-Streitkräfte (und damit ihren Rang als Verbündete) nicht preisgeben wollen. Schließlich müssen die dafür benötigten Verbände bereitgehalten, ausgebildet und so ausgerüstet sein, dass sie Aufgaben mit geringer Konfliktintensität („friedenserhaltende Aufgaben“) ebenso wie regelrechte Kampfeinsätze („friedenschaffende Einsätze“) erfüllen können.

Das ist mehr als eine Aufgabenerweiterung. Die Absicht, die Aufgaben der Bundeswehr um friedenserhaltende und friedenschaffende Einsätze zu erweitern, sie also dem seit jeher gegebenen Verteidigungsauftrag hinzu zu fügen, war den Strukturreformen zu Eigen, die zwischen den Jahren 1992 und 2001 beschlossen worden waren. Mit diesem konzeptionellen Ansatz brach Verteidigungsminister Struck, als er 2003 neue Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) und die darauf fußende „Bundeswehrstruktur 2010“ erließ. Damit nahm er der Bundeswehr den Verteidigungsauftrag als Daseinszweck, als Raison d’être, so wie es ihr das Grundgesetz in Artikel 87a vorgegeben hat: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“. Wie der Begriff „Verteidigung“ zu verstehen und anzuwenden ist, wird ebenfalls im Grundgesetz definiert, nämlich in Artikel 115a. Dort wird der Verteidigungsfall als eine Situation beschrieben, in der „das Bundesgebiet angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“.

Neue Aufgaben

Der Beitrag zu NATO- und zu EU-Einsätzen außerhalb Deutschlands und das, was bis 2003 als zusätzliche Aufgaben bewertet worden war, nämlich friedenserhaltende und friedenstiftende Einsätze im Auftrag der Vereinten Nationen, ist durch Struck nunmehr an die Stelle der Landesverteidigung gerückt, also zur Kernaufgabe erklärt worden. Die neuen VPR besagen, dass an die Stelle der Landesverteidigung ein neues, ein „weites Verständnis von Verteidigung“ getreten ist und dass „Verteidigung (...) heute (...) die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge“ einschließt, weshalb sie auch nicht mehr geographisch eingegrenzt werden könne. Dies zu leisten, ist der Bundeswehr seither als neue Raison d’être vorgegeben. Das, was 1992 als Anpassung der Streitkräfte an die veränderte Weltlage begann, führt durch die neuen VPR von Struck zu einer Armee neuen Charakters. Aus einer Verteidigungsarmee soll eine Interventionsarmee werden. Dies verändert unvermeidlich nicht nur ihre Ausrüstung und ihren Umfang. Es verändert Bewusstsein und Identität der Streitkräfte. Sie führt die Bundeswehr fort von dem geistigen Konzept Scharnhorsts und seiner Mitstreiter bei der preußischen Heeresreform von 1809, Gneisenau, Clausewitz und Boyen, die im Staatsbürger den geborenen Verteidiger seines Landes sahen und folglich die Wehrpflicht einführten.

Je dominierender der Auslandseinsatz für die Streitkräfte wird, umso schwieriger wird es, die Beibehaltung der Wehrpflicht, für die sich Verteidigungsminister Struck einsetzt, zu rechtfertigen. Die Entscheidung zu Auslandseinsätzen ergibt sich in der Regel aus politischen Abwägungen und Notwendigkeiten – aus dem, was man früher als Kabinettspolitik bezeichnet hat –, nicht aus der Abwehr eines Angriffs auf das eigene Land, so wie es das Grundgesetz in Artikel 115a zur Voraussetzung für die Feststellung des Verteidigungsfalls und den Einsatz der Bundeswehr macht. Deshalb fand auch keiner der fast 30 Auslandseinsätze, an denen die Bundeswehr seit 1991 beteiligt war, auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage statt. Die Rechtsgrundlage aller Einsätze war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994. Es stellt fest, dass Einsätze der Bundeswehr, die sich auf Entschließungen der Vereinten Nationen stützen oder direkt auf Ersuchen der Vereinten Nationen stattfinden, verfassungskonform sind.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich aber auf Einsätze. Eine ganz andere Frage ist die, ob der Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungs- in eine Interventionsarmee mit den Vorgaben des Grundgesetzes übereinstimmt. Unabhängig davon, wie diese Veränderung des Gesamtcharakters der Bundeswehr verfassungsrechtlich zu bewerten ist, stellt sich diese Frage vor allem unter politischen Gesichtspunkten.

Umso mehr fällt auf, dass dieses Thema bislang noch nicht einmal ins öffentliche Bewusstsein gerückt, geschweige denn diskutiert worden ist. Das ergibt sich aus einem fehlenden Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an der Bundeswehr. Sie ist auch die Folge davon, dass die modifizierte Wehrpflicht trotz formalen Fortbestands niemanden trifft, der nicht Soldat werden möchte. De facto hat die gesetzliche Wehrpflicht längst den Charakter der Freiwilligkeit. Wer nicht dienen will, kann sich mit einem Formschreiben selbst von der Erfüllung der Wehrpflicht dispensieren. Das prägt das Verhalten der Öffentlichkeit und trägt maßgeblich zu einem verbreiteten Desinteresse an der Bundeswehr in der Bevölkerung bei – unbeschadet einer vorwiegend positiven Grundeinstellung zu ihr.

Dass der Verteidigungsminister bei allen im Bundestag vertretenen Parteien weitgehende Zustimmung erfährt, ergibt sich aus einer im Wesentlichen gemeinsamen Beurteilung der Sicherheitslage der Bundesrepublik und einer weitgehenden Übereinstimmung über die sich daraus ergebenden Prioritäten für den Umbau der Bundeswehr. Noch wichtiger dürfte allerdings die Tatsache sein, dass keine Partei angesichts der finanziellen und wirtschaftlichen Notlage für höhere Verteidigungsausgaben einzutreten bereit ist. Sie aber wären unvermeidlich, wenn über die militärische Mitwirkungsfähigkeit im Kreis der Verbündeten und in der interna-tionalen Politik hinaus noch Vorkehrungen zur Abwehr von Risiken geringerer Wahrscheinlichkeit – etwa den Erhalt der Fähigkeit zur Landesverteidigung – finanziert werden sollten. Die Finanznot im Verteidigungshaushalt hat längst ein Ausmaß erreicht, das den Gestaltungsraum so sehr reduziert hat, dass Betrieb und Personalstand in den verbliebenen Strukturen auf das Notwendigste reduziert wurden und im Bereich der Beschaffungen nur noch rechtlich unausweichliche Verpflichtungen bedient werden.

Neue Wirklichkeit

Die Bundeswehr ist somit 50 Jahre nach ihrer Gründung in einer Wirklichkeit angelangt, die mit der ihrer Entstehungszeit nur noch wenig gemein hat. Für viele Soldaten, insbesondere für die militärische Führung, sind nicht nur Zustand und Ausstattung Anlass zur Unzufriedenheit. Sie stellen sich die Frage, ob das noch die Armee ist, in die sie eingetreten sind und in der sie dienen wollten. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Auftrag und Geisteshaltung, Struktur und inneres Gefüge der Streitkräfte stellten sich beim Aufbau der Streitkräfte nicht nur als Summe aus sicherheits- und militärpolitischen Bedürfnissen dar.

Das gilt für die am Aufbau beteiligten Politiker wie Adenauer oder Strauß, für Erler wie für Schmidt gleichermaßen und es gilt für ihre militärischen Ratgeber und Helfer beim Aufbau der Bundeswehr nicht weniger. Hier stehen die Namen von Kielmansegg, de Maizière und Baudissin stellvertretend für die Generation der kriegserfahrenen wie -gezeichneten Soldaten. In dem, was sie anstrebten, zogen sie auch Konsequenzen aus erlittener Erfahrung. Es war die Überzeugung aller, dass militärische Mittel ausschließlich zum Zwecke der Verteidigung eingesetzt werden dürften. Verteidigung aber war ein definierter Begriff, der keine Interpretation zuließ: Vorne-Verteidigung der eigenen Grenze und Hilfe bei der Verteidigung von NATO-Verbündeten, wenn sie Opfer eines Angriffs geworden waren. Dass diese Eindeutigkeit des Auftrags heute nicht mehr gegeben ist, bereitet mehr Unbehagen, als öffentlich zu Tage tritt. Die Teilhabe an der NATO-Intervention gegen das Serbien Milosevics, die ohne UN-Mandat begonnen wurde, hat die Frage nach dem Präzedenzfall aufkommen lassen. Auch macht es für die Soldaten einen grundsätzlichen Unterschied, ob sie Leib und Leben riskieren, um ihr Land und seine Bewohner vor einem Angreifer zu schützen, oder dazu, einen Kabinettsbeschluss umzusetzen, der von politischen Überlegungen bestimmt wird. Noch ist die Frage „Sterben – wofür?“ in der Bundeswehr nicht zum Problem geworden. Das kann sich mit den Umständen wechselnder Einsätze aber ändern. Dies lässt erkennen, wie wichtig es ist, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Wandlung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee samt der damit verbundenen Konsequenzen bewusst gemacht wird. Nur wenn dies geschieht, kann es auch zu einer belastbaren Akzeptanz der neuen Wirklichkeit kommen.

Die Frage, wie sich die Bundeswehr in den vor ihr liegenden Jahrzehnten entwickeln wird, ist damit, dass man sich der neuen Wirklichkeit stellt, nicht beantwortet. Von ihr die Fortdauer der Gegenwart zu erwarten und von ihrer Vorhersehbarkeit auszugehen, hat sich schon oft als Irrtum erwiesen. Der vielfach erbrachte Beleg des Gegenteils, die Tatsache, dass wichtige Ereignisse (etwa die Wiedervereinigung) unerwartet eintreten, hat in keinem anderen politischen Bereich so hohe Bedeutung wie in dem der Sicherheitsvorsorge. Dennoch sah sich die Bundesregierung aus finanziellen Zwängen dazu veranlasst, auf die für die Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung dieses Landes benötigten Strukturen weitestgehend zu verzichten. Der möglicherweise alsbald folgende Verzicht auf die Wehrpflicht würde, so muss man unterstellen, weitere Veränderungen bewirken: solche des Bewusstseins im Beziehungsgeflecht zwischen Bürger und Staat, die allenfalls über lange Zeiträume wieder herzustellen wären. Sie schließen die Frage ein, inwieweit der Einzelne sich noch mit „seinem“ Staat zu identifizieren bereit ist. Solange die Ereignisse in der Bandbreite dessen verlaufen, was als normal gilt, wird dies kaum bemerkt; jedenfalls nicht zum Politikum werden. Widerlegt die Wirklichkeit diese Hoffnung, dann sieht die Sache freilich ganz anders aus.

Dass der derzeitige Befund der Bundeswehr den Charakter des Vorläufigen trägt, ist nicht zu leugnen. Das liegt letztlich aber weniger an den für die Streitkräfte politisch oder militärisch Verantwortlichen. Es ergibt sich vielmehr aus der politischen Entwicklung, die der Staat Bundesrepublik Deutschland insgesamt nimmt. Seine politische Führungselite bemüht sich parteiübergreifend um die Weiterentwicklung der EU in Richtung eines Bundesstaats. Dabei sind die Bemühungen, eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen, ein Schwerpunkt. Die EU zielt darauf ab – wie ihr Verfassungsentwurf ausweist –, die NATO in Europa als Sicherheitsgarant zu ersetzen, sobald sie dazu in der Lage ist. Das ist eine Aussage, die – unabhängig davon, wie viel Zeit notwendig ist, um dieses Ziel zu erreichen (und auch unabhängig davon, ob es eine realistische Zielsetzung ist) – das Selbstverständnis der EU erkennbar macht. Sollte die EU in diesem Bemühen erfolgreich sein, so wird dies Konsequenzen für alle bislang nationalen Streitkräfte ihrer Mitgliedsländer haben, selbstverständlich auch für die Bundeswehr. Unabhängig davon, wie die Entwicklung im Bereich der Streitkräfte im Einzelnen verlaufen wird und zu welchen Strukturen sie führt, muss die Berechtigung, über diese Streitkräfte zu verfügen, in eine Hand gelegt werden. Das kann nur eine europäische sein, keine nationale. Damit wäre Europa die Zukunft der Bundeswehr. Sie würde in einer europäischen Streitmacht – wie immer diese im Einzelnen aussehen würde – aufgehen. Mit der Verantwortung für diese bewaffnete Macht würde sich auch das Interesse für sie und an ihr verlagern, von Berlin nach Brüssel, von Deutschland nach Europa.

Ob dieser Weg zum angestrebten Ziel führt, ob und wie weit dieser Weg gangbar ist, ob Umwege eingeschlagen werden oder ob sich der Weg insgesamt als unbegehbar erweist – all das ist bislang ganz ungewiss. Es wird aber bestimmenden Einfluss auf die Weiterentwicklung der Bundeswehr – wie auf die der Bundesrepublik haben. Insofern erweist sich die Situation der Bundeswehr bei ihrem 50. Geburtstag als ein Abbild der Situation des Staates, dem sie dient – und insofern zumindest als völlig normal.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 68 - 75.

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