Leidenschaftlich langweilig: Alok Sharma im Porträt
Fakten und Ergebnisse bringen einen weiter als Sprüche, lautet das Credo des britischen Politikers Alok Sharma. Wie gut der Spross indischer Einwanderer darin ist, Resultate zu liefern, kann er jetzt zeigen: als Präsident des Weltklimagipfels in Glasgow.
Nicht jeder Film im Bordkino ist so spannend, dass der Fluggast ihn bis zum Schluss verfolgt. Aber der Film „Eine unbequeme Wahrheit“ von Al Gore und die Warnung vor der Klimakatastrophe erschütterten Alok Sharma so sehr, dass er ihn sich gleich zwei Mal ansah. Später habe er Al Gore persönlich getroffen. „Das war durchaus emotional“, sagt der eher kühl wirkende britische Politiker.
Mittlerweile bekleidet Sharma die Rolle des Präsidenten der 26. UN-Klimakonferenz, die Anfang November in Glasgow stattfindet. Sharma hat zu dem als COP 26 (Convention on Climate Change) bekannten Treffen 196 Nationen und die EU geladen. Er hofft, dass er verbesserte Klimaschutz-Versprechen von der Staatengemeinschaft bekommt, vor allem nach dem Wechsel im Weißen Haus von Donald Trump zu Joe Biden.
Dafür fliegt Sharma – trotz Kritik von Umweltschützern – unermüdlich um den Erdball und versucht, konkrete Zusagen der Staatschefs zu erhalten, um die Konferenz zum Erfolg zu führen. Der wäre erreicht, wenn die geplanten Maßnahmen erwarten ließen, dass die Erderwärmung gegenüber dem Beginn der Industrialisierung auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann.
Dafür allerdings müssen die reichen Industrieländer zusätzliche 100 Milliarden Dollar aufbringen, um ärmeren Ländern unter die Arme zu greifen. „Wir sind alle voneinander abhängig“, warnte Sharma, als er im September mit Premier Boris Johnson nach New York reiste. „Jedes Land muss handeln, im Eigeninteresse und im Interesse aller.“ Noch zögerten zu viele Staaten. „Jeder verspricht, dass ‚etwas‘ unternommen werden muss“, klagte Johnson in New York. „Aber ‚etwas‘ ist nicht genug.“
Noch ist nicht klar, ob die Industrieländer die Klima-Finanzhilfe aufbringen werden. Die Beziehungen zu China sind angespannt. Von Präsident Xi Jinping wusste Sharma lange nicht, ob er nach Glasgow anreisen würde.
Sharma ist sich bewusst, wie schwer es ist, Länder zum Einlenken zu bewegen, nachdem der Westen jahrhundertelang seinen heutigen Lebensstandard mit einer rücksichtslosen Ausbeutung der Bodenschätze und erstickenden Emissionen erreicht hat. Jetzt maßregelt der Westen Länder wie China oder Indien, wenn die ihren Bauern zumindest eine Steckdose ermöglichen wollen, oft mit billiger Kohle.
Sharma wurde in Indien, in Agra geboren, wo das stolze Taj Mahal auf den oft ausgetrockneten Yamuna-Fluss blickt, auf dem der Müll an die Ufer schwappt und wo die Trockenheit die Fundamente des Mausoleums bedroht. Mit fünf Jahren kam Sharma nach Großbritannien, als seine Eltern auswanderten, der Vater Mitglied der Conservative Parliamentary Friends of India. Indische Einwanderer wurden damals keine Abgeordneten, egal, wie sehr die Familie Margaret Thatcher und ihren Unternehmergeist verehrte. „Sie war eine Heldin für uns“, erzählt Sharma. Er studierte angewandte Physik und Elektrotechnik, absolvierte die Prüfung zum Wirtschaftsprüfer und arbeitete in London, Stockholm und Frankfurt bei Banken.
„Ich bin ein Mann der Details“, sagt Sharma von sich selbst. „Ich versuche, ein langweiliger Politiker zu sein, achte auf Fakten und Ergebnisse. Das bringt einen weiter als große Sprüche“. Er höre lieber zu anstatt immer nur zu reden.
Als die Finanzkrise die Bankenwelt aufwühlte, wechselte Sharma in die Politik, wurde 2010 zum Abgeordneten von Reading West gewählt. Dann folgte der für heutige Politiker der Konservativen Partei typische Aufstieg mit schnell wechselnden Posten.
Premierministerin Theresa May berief ihn zum parlamentarischen Staatssekretär für Asien und den Pazifik. Dafür schlug sich Sharma, der gegen den EU-Austritt gestimmt hatte, auf die Seite einer Brexit-Regierung. Ein Jahr später holte ihn May als Staatssekretär ins Wohnungsbauministerium, ein weiteres halbes Jahr später ins Arbeitsministerium. Der neue Premier Johnson berief ihn zum Entwicklungshilfeminister, dann zum Wirtschaftsminister. Das Amt gab Sharma Anfang 2021 ab, als er zum COP 26-Chef ernannt wurde.
Johnson verlangt von seinen Ministern kein detailliertes Fachwissen. Das Kabinett soll seine Politik umsetzen, seine Winkelzüge verteidigen und ansonsten mit vielen Worten so wenig sagen wie möglich. So wurde Sharma schneller befördert, als dass man hätte erkennen können, welche Handschrift seine Politik tragen würde. Sharma schwimmt unauffällig mit. Als COP 26-Chef ist er für Johnson keine Gefahr. Vielleicht deshalb überlebte Sharma auch den letzten Kabinettswechsel unbeschadet.
Klimaschutz und Wählergunst
Der mit einer Schwedin verheiratete Sharma ist überzeugter Hindu, er schwor seinen Eid im Unterhaus auf die Bhagavad Gita. Er gibt sich als Umweltpolitiker, sagt, dass eine seiner beiden Töchter ihn überzeugt habe, kein Fleisch mehr zu essen. Als Ökokämpfer aber sieht er sich nicht. Nein, er selbst fahre keinen Elektrowagen, entgegnet er auf Nachfrage. Er habe auch immer noch den alten Gasboiler im Haus und keine Wärmepumpe, wie die Regierung es propagiert. „Ich weiß nicht, was es bringen soll, vor dem Ministerium zu protestieren und sich mit der Hand an die Tür zu kleben“, sagt er mit einem Seitenhieb auf die Protestbewegung Extinction Rebellion, deren Splittergruppe „Insulate Britain“ seit Wochen den Verkehr auf Autobahnen lahmlegt. Sie will, dass die Regierung auf Staatskosten die emissionsgerechte Isolierung aller Häuser vornimmt. Denn wer soll die teuren Umwälzungen hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft bezahlen?
Da ziert sich auch Sharma, denn ebenso wichtig wie Klimaschutz ist für die Partei die Gunst der Wähler. Die Installation einer Wärmepumpe würde jeden Haushalt derzeit mehr als 10 000 Euro kosten. Wer zahlt das? Sharma weicht aus: Die Kosten von Solar- und Windenergie seien ja gesunken, das werde schon. Ob die Regierung die Umsiedlung von Ortschaften plane, deren Einwohner heute schon von Überschwemmungen bedroht werden? Als Antwort redet Sharma über die Dürre in Madagaskar. Über die Londoner City, deren Rohstoffhändler davon profitieren, Rohöl und raffinierte Produkte hin- und her zu handeln, spricht er nicht. Von den Banken, die davon leben, die Verbrennung von fossilen Rohstoffen zu finanzieren, auch nicht. Von der Geldwäsche, mit der Milliardensummen aus China, Nigeria, dem Mittleren Osten und Russland an den Londoner Immobilienmarkt geschleust werden, erst recht nicht.
Immer wieder betont Sharma, Großbritannien habe der Welt gezeigt, dass ein Land „grün“ wachsen könne. Man verfüge über die größten Offshore-Windanlagen der Welt. Das stimmt. Andere Länder haben allerdings wesentlich größere Windkapazitäten, wenngleich an Land. Der britische COP 26-Präsident betont zudem, Großbritannien habe die Emission von Treibhausgasen seit 1990 um 43 Prozent reduziert. Die Wirtschaft sei in der Zeit aber um 70 Prozent gewachsen.
In der Tat hat sich Großbritannien aus der Kohle zurückgezogen. Es hat mehr auf Gas und Windenergie gesetzt, allerdings nicht immer ganz durchdacht, wie die jüngste Energiekrise zeigte. Jetzt plant die Regierung, in Cumbria eine neue Kohlemine zu öffnen. Großbritannien steht mit seiner Umweltbilanz freilich auch gut da, weil es keine starke verarbeitende Industrie mehr hat. Dafür importiert es Produkte, die in anderen Ländern mit entsprechendem Energieverbrauch und Emissionen produziert werden.
Der Gipfel COP 26 wird vielleicht ein Erfolg. Chinas Präsident Xi Jinping versprach, dass Peking mit der Finanzierung von Kohlekraftwerken auf der Welt aufhören werde. Präsident Sharma wird mit seinen geduldigen Gesprächen dazu beigetragen haben. Mehr noch aber werden China und andere Länder begriffen haben, dass die Erderwärmung viel schneller bedrohliche Ausmaße annimmt, als es die Welt noch vor wenigen Jahren erahnte.
Bettina Schulz berichtet seit bald 30 Jahren aus London, seit 2014 für DIE ZEIT/ZEIT online und die NZZ am Sonntag.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S.9-11
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