Internationale Presse

25. Febr. 2022

Die Boris-Party geht weiter

Der über Großbritanniens Medien gespielte „Partygate“-Skandal zieht sich in die Länge. Premierminister Boris Johnson bleibt vorerst im Amt, wenngleich offenkundig ist, dass er Lockdown-Vorschriften gebrochen und das Parlament belogen hat.

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Spannungen um die Ukraine, die Corona-Pandemie, steigende Energiekosten – Regierungen haben genug Sorgen. Da scheint es lächerlich, dass in Großbritannien ein Skandal über Partys im Amtssitz des Premierministers kein Ende nimmt.

Aber hinter dem Eklat steht mehr als nur die Empörung darüber, dass in der Nummer 10 Downing Street gefeiert wurde, während die britischen Bürgerinnen und Bürger Lockdon-Vorschriften einhalten mussten. „Partygate“ ist vielmehr der methodische Versuch der Gegner von Boris Johnson, den Premierminister – vor allem mit Hilfe der Medien – zu stürzen.



Maßgeblicher Strippenzieher ist Dominic Cummings, der ehemalige Chefberater von Johnson, den der Premier im November 2020 gefeuert hatte. Cummings hat geschworen, er werde so lange mit Enthüllungen gegen Johnson kämpfen, bis dieser aus dem Amt gejagt werde. In den britischen Medien wird kolportiert, Cummings habe eine Tabelle, wann er welche Informationen an die Öffentlichkeit bringe, um Johnson maximal zu schaden. Was sich in den vergangenen Monaten abspielte, war daher Ausgeburt einer systematischen Strategie, in den Medien Enthüllungen zu platzieren, die Johnson erwartungsgemäß leugnen würde, nur um dann zu beweisen, dass der Premier im Parlament gelogen hatte. Nach alter Konvention wäre dies ein Grund zum Rücktritt gewesen. Partygate hat allerdings gezeigt, dass dieses Kalkül bei dem populistischen Premier Johnson nicht mehr funktioniert.



Doch zunächst zum Schlachtplan: Am 1. Dezember 2021 brachte ein der Labour-Opposition nahestehendes Blatt, die Boulevardzeitung Daily Mirror, die Exklusivmeldung: „Boris’ Party brach die Corona-Regeln.“ Der Premier stand nicht nur als möglicher Straftäter dar. Der Skandal berührte die Öffentlichkeit auch deshalb besonders, weil sie während des Lockdowns darunter gelitten hatte, dass Kinder und Enkel nicht einmal ihre sterbenden Eltern und Großeltern ein letztes Mal hatten besuchen dürfen.



„Alle Regeln eingehalten“

Der Plan schien zunächst aufzugehen, denn Johnson behauptete im Parlament prompt: „Alle Regeln wurden in Nummer 10 komplett eingehalten.“ Der regierungskritische Nachrichtensender ITV News legte am 7. Dezember nach und veröffentlichte ein Video, das die Pressesprecherin Allegra Stratton zeigte, wie sie übte, auf potenzielle Nachfragen der Medien zu reagieren. Johnson feuerte sie und behauptete am 8. Dezember im Parlament, ihm sei mehrmals versichert worden, dass es keine Partys gegeben habe. In Wirklichkeit war er auf etlichen Downing-Street-Feiern selbst anwesend gewesen.



In der Hoffnung, es würde bei Gerüchten bleiben, beauftragte Johnson seinen eigenen Kabinettssekretär Simon Case, den Vorwürfen auf den Grund zu gehen. Johnson hatte sich verkalkuliert. Case war selbst auf einer der Partys gewesen und musste die Untersuchung daher an die Ministerialbeamtin Sue Gray abgeben. Die von den Medien als unnachgiebige Dame beschriebene Spitzenbeamtin ließ sich von Johnson nichts sagen, sondern sammelte stillschweigend Beweismaterial – letztlich über insgesamt 16 Partys. Die Öffentlichkeit kam kaum noch mit. Ros Atkins von der BBC wurde zum Star, da er den irritierten Zuschauern mit akribischer Sachlichkeit die immer wieder neuen Verästelungen von Partygate erklärte. Mittlerweile hat er auf Twitter fast 300 000 Follower.



Doch noch wankte der Premierminister nicht, es musste mehr Beweismaterial her. Nun mischten auch Mitglieder von Johnsons zerstrittener Entourage in Downing Street mit. Die Falle schien zuzuschnappen, als der Sender ITV im Januar 2022 eine E-Mail veröffentlichte, die Johnsons Privatsekretär, Martin Reynolds, am 20. Mai 2020 verschickt hatte. Darin forderte Reynolds die Mitarbeiter auf, das „herrliche Wetter“ im Garten auszunutzen: „Bringt Eure eigenen Getränke mit ...“. Der Beweis, dass es in Downing Street durchaus Partys gegeben hatte, war erbracht. Die Schlagzeilen in der Presse wurden grantiger, auch in den Johnson sonst gewogenen Zeitungen: „Genug Boris! Mit Partygate muss jetzt Schluss sein“, warnte der reaktionäre Daily Express. Selbst die Daily Mail, die Johnson immer die Stange hält, schrieb: „Großbritannien ist stocksauer. Boris muss sich entschuldigen und Demut zeigen.“ Der Evening Standard warnte: „Weich der Wahrheit nicht aus, Boris!“ Und der Mirror erklärte: „Die Party ist vorbei, Boris.“ Der Daily Telegraph, für den Johnson früher eine hochdotierte Kolumne schrieb, veröffentlichte vernichtende Meinungsumfragen: Die Mehrheit der Britinnen und Briten denke, Boris solle seinen Hut nehmen. Sein „Bulldog-­Spirit“ reiche nicht mehr, um die Öffentlichkeit und seine eigene Partei zu besänftigen.



Johnson reagierte formaljuristisch. Er entschuldigte sich im Parlament zwar „für den Eindruck“, den die fragliche Gartenparty hinterlassen habe, behauptete aber, er habe persönlich „implizit angenommen“, dass es sich am 20. Mai um ein Arbeitstreffen gehandelt habe. Johnson und seine Anwälte gingen offenbar davon aus, dass es unmöglich sein würde, das Gegenteil zu beweisen.



„Jämmerliche Schau“, kritisierte nicht nur die Times, die Johnson seine „legalistische“ Entschuldigung nicht abnahm. Aber die rechten Boulevardzeitungen stellten sich hinter Johnson. Er müsse jetzt beweisen, dass er für Großbritannien „liefere“, hieß es im Daily Express. Er habe zwar einen steilen Weg vor sich, warnte die Daily Mail. Aber nun ginge es darum, „Boris zu retten“.



Aber Cummings hatte auf den Moment offenbar nur gewartet. Er schrieb auf seinem Blog, Johnson sei im Büro von zwei Personen explizit gewarnt worden, die Party am 20. Mai wegen der Covid-Regeln besser nicht abzuhalten. Johnson habe sich darüber hinweggesetzt. „Der Sachverhalt vom 20. Mai – unabhängig von anderen Ereignissen – bedeutet, dass der Premierminister im Parlament gelogen hat. Nicht nur ich, sondern auch andere Augenzeugen würden dies unter Eid aussagen“, schrieb Cummings.



Die Times, Sky News und die BBC bestätigten dies. Im Prinzip war Johnson damit der Lüge überführt. Es hagelte Rücktrittsforderungen, allen voran von Oppositionsführer Keir Starmer, aber auch vom Vorsitzenden der Scottish Conservatives, Douglas Ross, den der Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg im Abend­fernsehen schnöde als „Leichtgewicht“ abkanzelte. So viel zum Zusammenhalt der Tories. Aber es kam noch schlimmer.



Wenige Tage später stellte sich heraus, dass am Abend vor der Trauerfeier für den verstorbenen Prinz Philip in Downing Street bis tief in die Nacht getanzt worden war: die Abschiedsparty für Pressechef James Slack, der als stellvertretender Chefredakteur zum führenden Boulevardblatt The Sun gewechselt war. Das erklärte, warum sich die Sun beim Partygate-Drama so zurückgehalten hatte. Downing Street musste sich bei Königin Elisabeth II. entschuldigen, die während der Trauerfeier für ihren Gemahl wegen der Corona-Bestimmungen allein in der Kirchbank hatte sitzen müssen. Es war womöglich der Zeitpunkt, an dem ein Großteil der Öffentlichkeit die Achtung vor Johnson verlor. Viele Tory-Abgeordnete spürten, dass sie ihren Premier – früher oder später – würden auswechseln müssen.



Schon knöpften sich die Medien die beiden potenziellen Nachfolger vor, Außenministerin Liz Truss und Schatzkanzler Rishi Sunak. Das Magazin The Spectator begann, die Liste all der Tory-Abgeordneten zu vermelden, die Johnson nach und nach ihr Vertrauen entzogen. Der Guardian berichtete als erster von einer Gruppe Abgeordneter des ehemals „roten“ Labour-Nordens, die einen „Putsch“ planten. Sie fürchteten um ihre Wiederwahl.

Nach der im Norden beliebten Schweinepastete zeterte die Daily Mail am 19. Januar: „Schweinepasteten-Verschwörung, um Premierminister zu stürzen“. Cummings wurde als Verräter und Lügner dargestellt, die Rebellen als „Nobodies“, die mit ihrem „dummen Putsch“ alles aufs Spiel setzten, was Johnson dem Land versprochen habe und liefern würde, hieß es in der Mail. Der Daily Telegraph warf sich ins Zeug: Johnson müsse wieder für den „richtigen Konservativismus“ kämpfen, für niedrige Steuern, geringe Ausgaben, weniger Staatseinfluss und vor allem für die „Erfolge des Brexit“. Diese Chance müsse man ihm geben.



Das war dann auch der Tenor all der Tory-Abgeordneten, die fürchteten, ohne Johnson nicht nur ihren Premier, sondern mit ihm ihre Posten zu verlieren. Dazu gehörten vor allem die Kabinettsmitglieder, die Johnson nach treuer Gefolgschaft und nicht nach Können ausgesucht hatte. Zahlreiche Tory-Abgeordnete schoben zudem vor, mit ihrer Reaktion auf den Untersuchungsbericht von Sue Gray warten zu wollen. Es gab zwar viele Kritiker von Johnson, aber sie zogen nicht an einem Strang.



„Operation Save Big Dog“

Derweil lancierte Johnson sein Verteidigungsprogramm, spielte sich staatsmännisch gegenüber Putin auf. Die Sonntagszeitungen wurden mit Informationen über „Operation Save Big Dog“ (Johnson) und „Operation Red Meat“ gefüttert. Mit einer Blitzkampagne versuchte die Regierung, den vermeintlichen Erfolg des Brexit hervorzuheben und die großartige Freiheit zu feiern, die Großbritannien nach der „schnellsten Impfkampagne“ mit dem „stärksten Wirtschaftswachstum der G7-Länder“ genieße. In Wirklichkeit hat die Bank von England gewarnt, dass das verfügbare Einkommen der Briten derzeit so massiv sinkt wie seit 30 Jahren nicht mehr.



Der ehemalige Brexit-Minister David Davis war das erste Tory-Schwergewicht, das Johnson zum Rücktritt aufforderte: „Bei Gott – gehen Sie endlich.“ Aber Johnson tat es nicht. Und just in dem Moment, als die Ministerial­beamtin Gray ihren Untersuchungsbericht veröffentlichen wollte, grätschte die Chefin der Londoner Polizei, Cressida Dick, in den Skandal hinein. Die Me­tropolitan Police würde nun doch ermitteln, verkündete Dick. Gray wurde gebeten, in ihrem Bericht die zwölf wichtigsten Partys – und damit potenziellen Gesetzesverstöße von Downing Street – nur „minimal“ zu erwähnen. „Jetzt sehen wir den Bericht nicht, der eigentlich zeigen sollte, dass Großbritannien von einem Lügner geführt wird“, schimpfte der Guardian. „Es sieht nach Vertuschung aus.“



Gray warf Johnson in ihrem nun zusammengestutzten Bericht zwar mangelnde Führungsqualitäten und Urteilsvermögen vor. Aber der Putsch blieb aus. Von den angeblich 160 Widerständlern in der Tory-Fraktion blieben nicht genug übrig, um ein Misstrauensvotum zu wagen (54 sind dazu notwendig), berichtete die Sunday Times. Es sei wohl doch noch nicht an der Zeit, das „gemästete Schwein zur Schlachtbank“ zu führen.



Johnson glaubte bereits, die Schlacht gewonnen zu haben. Er forderte das Unterhaus auf, die Polizeiermittlungen abzuwarten, bevor man über ihn urteile. Anstatt Demut zu zeigen, heizte er seine grölenden Tories mit dem üblichen Bravado an, darunter Behauptungen über den angeblichen Erfolg des britischen Arbeitsmarkts, die vom Statistik­amt postwendend dementiert wurden. Schlimmer noch: Johnson warf Starmer vor, er trage aus seiner Zeit als Generalstaatsanwalt mit die Verantwortung dafür, dass der Sexualstraftäter Jimmy Savile nie angeklagt worden sei. Die Lüge kostete Johnson seine wichtigste politische Beraterin, Munira Mirza, die als erste von einer Gruppe von fünf engsten Johnson-Mitarbeitern in Downing Street zurücktrat.



Erst als Oppositionsführer Starmer im Parlament eine beeindruckend staatsmännische Rede über Integrität hielt und die Hinterbänkler der Tories betreten schwiegen, wurde klar, wie sehr sich Johnson im Ton vergriffen hatte. Ian Blackford, Anführer der schottischen Nationalisten (SNP) im Unterhaus, sagte, was im britischen Parlament nie gesagt werden darf: Der Premierminister habe das Parlament getäuscht. Daraufhin wurde er des Saales verwiesen. So ist es in der „Mutter aller Parlamente“: Trotz aller Verhaltensregeln und des „ministerial codes“ gibt es keine juristische Handhabe gegen einen Premierminister, der im Parlament lügt. Dies jedoch im Parlament auszusprechen, ist verboten. Diesen Anachronismus nutzte Johnson aus – ein Umstand, der von den britischen Medien nicht aufgegriffen wurde.



Und so macht Johnson weiter. Die prokonservative Presse versucht, Johnson so lange zu stützen, wie es geht. Sie liefert Artikel, warum man „den bemerkenswertesten Premierminister seit Margaret Thatcher“ nicht stürzen solle. The Sun schrieb von „krankhafter Hysterie“. „Wenn Johnson die Partei mit nach unten zieht, nur um sich zu retten, sind seine Tage schneller gezählt als er denkt“, warnte allerdings der altgediente Kommentator Andrew Neil. Noch deutlicher formulierte es James Forsyth im Spectator: Die Tories seien wie gelähmt – kaum in der Lage, ihren Premier zu stützen, gleichzeitig aber unfähig, ihn abzusetzen: „Es dürfte schwer werden, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass eine Partei, die sich selbst nicht im Griff hat, die Probleme dieses Landes lösen kann.“

 

Bettina Schulz berichtet seit bald 30 Jahren aus London, seit 2014 für DIE ZEIT/ZEIT online und die NZZ am Sonntag.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2022, S. 116-119

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