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01. Nov. 2020

Der hohe Preis des Brexit

Im Vereinigten Königreich macht sich Ernüchterung breit. Auf den Abschied aus dem EU-Binnenmarkt ist das Land kaum vorbereitet.

Es ist so weit. In wenigen Wochen wird das Vereinigte Königreich in die Realität außerhalb des EU-Binnenmarkts und der EU-Zollunion entlassen. Dann ist die Schonfrist vorbei. Weder die Wirtschaft noch die Bevölkerung sind auf den Schritt ausreichend vorbereitet.



Premierminister Boris Johnson wird sein Versprechen gehalten haben, das da hieß: „Get Brexit done“. Aber das Land wid es ihm kaum danken. Die EU-Anhänger ertragen die Trennung von der EU mit Resignation. Die Brexit-Befürworter indessen sind sich nicht mehr ganz sicher, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen haben. Sie hoffen, dass das Thema bald erledigt ist.



Der Traum von Johnson, wie Perikles als großer Staatsmann in die Geschichtsbücher einzugehen, wird sich nicht erfüllen. Perikles kämpfte sich als ruchloser, populistischer Politiker gegen die Athener Volksversammlung an die Macht, läutete dann aber das goldene Zeitalter des Stadtstaats ein, gekrönt von der Akropolis. Die Büste von Perikles steht angeblich auf Johnsons Schreibtisch in der Downing Street. Aber ein Perikles ist er nicht. Im Gegenteil: Ein Großteil der Konservativen, die Johnson lange den Rücken gestärkt hatten, haben sich von ihm abgewandt. Er sei im Dezember 2019 nicht gewählt worden, „weil wir ihn als Premierminister verdient hätten, sondern weil wir ihn damals brauchten“, schrieb Paul Goodman für den rechtskonservativen Blog ConservativeHome.



Das Urteil ist vernichtend: „Vielleicht ist er doch nur ein Schreiberling, nicht mehr als ein Kampagnenführer, ein Entertainer – aber in Wirklichkeit kein Kämpfer“, warnte der Spectator im September. Johnson wolle geliebt werden und verspreche zu viel. Die Enttäuschung sei dann umso schmerzlicher. „Er ist einfach nicht mehr länger in der Lage, Premierminister zu sein, und sollte zurücktreten, sobald der Brexit vollzogen ist“, schrieb der Mitherausgeber Toby Young, einst einer von Johnsons größten Fans.

Vier Jahre nach der Volksabstimmung zum Brexit wird immer deutlicher: Der Austritt aus der EU erfüllt nicht, was versprochen wurde. Am ersten Tag nach dem Brexit werde es ein Freihandelsabkommen mit der EU geben? An der Grenzsituation von Nordirland werde sich nichts ändern? Das Vereinigte Königreich werde den Binnenmarkt und die EU-Zollunion verlassen, aber alle Vorteile genießen, die die EU-Mitgliedschaft biete? Nichts davon ist in Erfüllung gegangen.



Die Brexit-Anhänger, die die Bevölkerung 2016 auf das Referendum einstimmten, spielen keine Rolle mehr. Nigel Farages Sendung im politischen Hörfunksender LBC ist längst abgesetzt. Die Parteien Ukip und die Brexit-Partei sind in der Bedeutungslosigkeit versunken. Von den Brexit-Hardlinern David Davis, John Redwood, Mark Francois, Steve Baker, Robert Jenkin und Jacob Rees-Mogg ist kaum noch etwas zu hören.



Die Brexit-Stimmen sind verstummt

Die wenigen Stimmen der Industrie, die so vollmundig den Brexit herbeiwünschten, sind verstummt. Sir James Dyson verabschiedete sich vom „Global Britain“ in Richtung Singapur, um lieber dort sein Elektroauto bauen zu lassen. Der Baumaschinenkonzern JCB, dessen Bagger Johnson für einen seiner Brexit-Auftritte benutzte, kämpft mit der Corona-Rezession. Auch Tim Martin, Gründer der Wetherspoon-Pubs, hat andere Sorgen. Früher schwor er sein Publikum auf den „No Deal“ ein, um australischen Wein einmal billiger importieren zu können. Jetzt wettert er, dass die Corona-Maßnahmen der Regierung sein Geschäft verderben.



Dabei erschien all jenen der Austritt aus der EU als einmalige Chance, das Vereinigte Königreich wieder auf den Pfad der Wettbewerbsfähigkeit zu führen. Die Annahme, dass die Londoner City und der Dienstleistungssektor dem Land eine großartige Zukunft garantierten, war durch die Finanzkrise von 2008 widerlegt. Die Produktivität der verarbeitenden Industrie ließ zu wünschen übrig. Die Sparmaßnahmen der Regierung von David Cameron hatten den öffentlichen Sektor geschwächt, vom Gesundheitssystem über die Infrastruktur bis hin zum Beamtenapparat der Ministerien.



Da lag es nahe, das Experiment zu wiederholen, das dem Land so viel Erfolg mit der Londoner City beschert hatte: die Deregulierung. Was, wenn man die gesamte Wirtschaft deregulieren, sie von den kostspieligen Auflagen der EU befreien würde? Was, wenn die Arbeitszeiten gelockert, die Umweltauflagen erleichtert und der Forschung mehr Zugeständnisse gemacht würden? Was, wenn man die Erforschung der Künstlichen Intelligenz, der Biotechnologie und der Robotik kräftig subventionieren würde? Ein harter Brexit, der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion, schien genau das zu ermöglichen. Daher die Bereitschaft von Boris Johnson, eher einen „No Deal“ zu akzeptieren als sich den EU-Auflagen in Sachen „fairem Wettbewerb“ und Staatsbeihilfen zu beugen.



Es war freilich nicht Johnsons eigene Idee. Johnson hat keine Visionen. Er hat dem Vereinigten Königreich nicht einmal ein neues Selbstverständnis für die Zeit nach dem Brexit vermittelt. „Gerade weil wir den Krieg gewonnen haben, haben wir es nie geschafft, unsere Vergangenheit hinter uns zu lassen“, sagte der konservative Politiker und Autor Lord Waldegrave einmal. „Wir haben bis heute nicht akzeptiert, dass wir nur ein mittelgroßes Land sind. Erst, wenn wir das schaffen, könnten wir uns erfolgreich neu aufstellen.“



Aber Johnson folgte lediglich den in der sogenannten European Research Group zusammengeschlossenen Hardlinern der Partei, weil er die Chance sah, mit ihrer Hilfe Regierungschef zu werden. So fiel er dem damaligen Premierminister Cameron und später Theresa May in den Rücken, um im Juli 2019 zum Parteivorsitzenden und Premierminister gekürt zu werden. Ihm ging es um die Anerkennung, die seiner Ansicht nach mit dem Amt des Premierministers verbunden war. Welchen Standpunkt er dafür einnehmen musste, war sekundär.



In dem von ihm im Jahr 2004 geschriebenen Büchlein mit dem Titel „Die 72 Jungfrauen“ beschreibt Johnson in autobiografischen Zügen einen zerzausten, Fahrrad fahrenden Abgeordneten, der „aalglatt beide Seiten einer Sache sehen“ kann. Er mokiert sich über ideologisch gefestigte Politiker, sei doch „die ganze Welt ein großer Witz, ein zufällig zusammengewürfeltes Durcheinander von Dingen, die unseren eigenen Egoismus produzieren“.



Mit dieser Leichtfertigkeit nutzte Johnson die Aversion im Land gegenüber der EU, ohne dass der britischen Bevölkerung je das Treiben in Brüssel, der Sinn der Regulierungen und die Vorteile des Binnenmarkts und der EU-Zollunion erklärt worden wären. Wer auf die EU als Friedensprojekt hinwies, wurde belächelt. Dass die Anstrengung von 27 Staaten, täglich neue Kompromisse zu finden, für alle Beteiligten friedlicher, sicherer und wirtschaftlich erfolgreicher war als der Alleingang, fand kein Gehör mehr. Daher die Fehleinschätzungen der Briten, dass die EU sich über den Brexit zerstreiten werde und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der deutschen Automobilindustrie im Nacken letztlich auf einen Deal und einfache Kompromisse pochen werde. Es ist bis heute Wunschdenken geblieben.



Um Mehrheiten zu finden, instrumentalisierte Johnson die Hoffnung einer Bevölkerungsschicht, die vom Boom der Londoner City nichts abbekommen hatte. Sie lebte im englischen Norden der ehemaligen Schwerindustrie, der früheren Minen, Werften und Stahlwerke und hatte besonders unter der Finanzkrise und den Sparmaßnahmen des Staates gelitten.



Sunderland und Workington sind solche Städte, die 2016 für den Brexit gestimmt haben. Grund genug hatten die Bewohner, viele von ihnen arbeitslos oder „on the sick“: abhängig von Krankengeld und Sozialhilfe – eine verlorene Generation, für die es nie eine anständige Berufsausbildung gegeben hatte. An die Häuserwände waren Hakenkreuze geschmiert mit Parolen wie „Ausländer raus“. Die Stadtbehörde hatte kein Geld zu investieren. „Wir können es den Leuten nicht verübeln, dass sie für den Brexit stimmen. Die Labour Party hat sich hier nie gekümmert, weil die Partei ohnehin gewählt wurde“, lautete die Klage im Rathaus. „Und die Konservativen haben sowieso nie was getan.“



In den Pubs erzählten die Männer von der Ausbeutung in den ehemaligen Kohleminen. Ein Mann erinnerte sich an seinen Vater, der sich bei einem Sturz in der Mine das Becken gebrochen hatte. Nach sechs Wochen Krankheit habe er zurück in den Schacht gemusst. Da habe er dann auf dem Bauch liegend die Maschinen mit Fett einreiben müssen, obwohl er nicht mehr hätte laufen können. Gegen diese Zustände hätten die Konservativen nichts unternommen. Es fiel diesen Männern nicht leicht, Johnson zum Premierminister zu wählen. Aber viel zu verlieren gab es ohnehin nicht mehr.



Die Leute in Sunderland und Workington glaubten der Propaganda, dass die EU Schuld an ihrer wirtschaftlichen Misere habe. Dabei lag es nicht an der EU, dass es im Land keine ausreichenden Lehrstellen gibt, dass es immer noch an Pflegeheimen mangelt, die Schulen vernachlässigt sind und das Gesundheitssystem geschwächt und chaotisch organisiert ist. Die EU ist nicht schuld an der sozialen Kluft in Großbritannien und an den Privilegien einer „Mittelschicht“, die ihre Kinder über private Eliteschulen an renommierte Universitäten und dann schnurstracks in die Londoner City schleust. Es ist eine Laufbahn, die für die Normalbevölkerung illusorisch ist. Welcher Familienvater in Sunderland kann schon ein Studium finanzieren, das 9000 Pfund im Jahr kostet?



Jetzt verspricht Johnson das große „Leveling up“, mit dem er den Lebensstandard dieser Wähler heben will. Aber die staatliche Unterstützung der Wirtschaft in der Corona-Pandemie ist teuer. Das Haushaltsdefizit hat den Finanzbedarf, der während der Finanzkrise herrschte, weit in den Schatten gestellt. Die Staatsverschuldung ist so hoch wie seit 1960 nicht mehr. Da bleibt für große Ausgabenprogramme nach dem Brexit nicht viel übrig.



Schwerste Rezession seit 300 Jahren

Leider schlägt die Infektionswelle genau dort zu, wo die Armut ohnehin schon am größten ist: in den benachteiligten Gebieten im Norden Englands. Gemessen an der Übersterblichkeit hatte Großbritannien im Sommer bereits mehr als 65 000 Tote zu beklagen. Der Grund: Das Land hatte bis September kein funktionierendes Testsystem, mit dem die Bevölkerung hätte geschützt werden können. So musste die britische Regierung immer wieder neue Vorsichtsmaßnahmen einführen, die Wirtschaft litt. Das BIP wird nach Einschätzung des Office of Budget Responsibility (OBR) in diesem Jahr voraussichtlich um 12,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr einbrechen. Es ist die schwerste Rezession seit 300 Jahren.



An der Corona-Misere erkennen die Briten, dass ihr „Boris“ offenbar nicht die brillante Führungsperson ist, die sie sich von ihm erhofft hatten. Die Corona-Pandemie lässt nämlich – anders als der Brexit – internationale Vergleiche zu. Kein anderes Land wickelt derzeit einen Brexit ab, könnte also dabei beobachtet werden, wie es einen Austritt aus der EU vielleicht erfolgreicher verhandeln würde. Aber der Misserfolg der britischen Regierung bei der Bekämpfung der Corona-Infektionswelle lässt sich anhand der täglichen Statistiken mit anderen Regierungen vergleichen. Da schneidet Johnson nicht gut ab. Der Grund: Er regiert nicht selbst, er lässt regieren.



Johnson kündigt impulsiv hochtrabende Pläne an, überlässt die Umsetzung aber anderen und kümmert sich nicht um die Konsequenzen. Dass er die Details nicht beherrscht, wird ihm mittlerweile öffentlich von Gegnern wie dem Oppositionsführer Keir Starmer im Parlament vorgehalten. Johnson ist kein Arbeitstier, wie es Margaret Thatcher und Theresa May waren, die bis tief nachts die Arbeitsmappen vor dem Kamin durcharbeiteten. Das ist nicht seine Art. In seinem Roman beschreibt Johnson den Abgeordneten, der morgens die Mappe mit den Staatspapieren unter dem Küchenstuhl seines Sohnes hervorzieht, dem die Ehefrau hinterherräumen muss und der dennoch unvorbereitet ins Parlament kommt.



Der britische Premier verlässt sich auf Dominic Cummings, seinen Kampagnenleiter aus Zeiten von „Vote Leave!“ im Jahr 2016. Cummings ist Chefberater von Johnson und Stratege der Regierungsgeschäfte im Hintergrund – gemeinsam mit dem zweiten Kopf der ehemaligen Vote-Leave-Kampagne, Michael Gove. Cummings ist kein Ideologe, was den Brexit angeht. Parteien sind ihm egal. Er ist lediglich interessiert an rigoroser Umsetzung politischer Ziele, „modernem“ Regierungsmanagement und einer Reform des in seinen Augen schwerfälligen Beamtenapparats.



Unter effizientem Regierungsmanagement verstehen Johnson und Cummings vor allem die Zentralisierung der Entscheidungen in Number 10 Downing Street. „Take back control“ gilt nicht nur gegenüber der EU, sondern auch im Innenverhältnis. Kritiker werden gegen getreue Brexit-Anhänger ausgewechselt, die Fraktion gesäubert. Wer als führender Beamter, Staatssekretär oder Botschafter Kritik am Regierungsstil übt, wird abgesetzt – selbst wenn es der Sicherheitsberater und Kabinettschef Mark Sedwill ist. Macht erhalten getreue Berater wie David Frost, der die Funktion des Sicherheitsberaters und EU-Unterhändlers in den Händen hält. Als Generalstaatsanwältin wurde Suella Braverman berufen, die leichtfertig den Bruch internationaler Verträge sanktioniert.



Das Kabinett ist ein Spiegelbild des Brexit-Gehorsams. Damit die Minister nicht aufmucken, berichten ihre engsten Berater, die „special advisor“, an Cummings. Demokratische Institutionen, gegenüber denen die Regierung Rechenschaft ablegen müsste, wie parlamentarische Ausschüsse oder kritische Medien, werden gemieden, wenn nicht gar boykottiert.



Gleichzeitig wird die bisherige „devolution“, der britische Ansatz des Föderalismus, unterminiert. Im Gegensatz zu den Verhandlungen Kanadas mit der EU wurden Schottland und Wales nicht in die Verhandlungen über ein Abkommen mit der EU einbezogen. Im Gegenteil: Das neue Binnenmarktgesetz (Internal Market Bill) soll London die Befugnis geben, Dinge zu bestimmen, die eigentlich Sache von Cardiff und Edinburgh wären. Johnson nimmt diesen Vertrauensbruch in Kauf, selbst wenn das Risiko steigt, dass sich Schottland endgültig von der Union abwenden könnte.



So viel zu einem auch dem Parlament versprochenen „Take back control“: Johnson und Cummings scheuen sich nicht, für ihr Ziel die Pfeiler der britischen Demokratie – die Monarchie, die Legislative und die Judikative – zu unterminieren. „Das ist bedenklich in einem Land, dessen Demokratie nicht auf einer geschriebenen Verfassung beruht, sondern auf einem Zusammenspiel von Gesetzen und Gepflogenheiten“, warnte Lord Waldegrave. Aber wie tönt noch der Abgeordnete in Johnsons Roman? „Religion, Gesetze, Prinzipien und Traditionen sind ohnehin nur Krücken, derer man sich auf dem eigenen, strauchelnden Weg bedient.“



Vielleicht erklärt dies die Leichtfertigkeit, mit der Johnson 2019 Königin Elisabeth II. täuschte und das Parlament zu übergehen versuchte, nur um einen ungeregelten Austritt aus der EU durchboxen zu können. Der Schritt war verfassungswidrig. Johnson rügte den Obersten Gerichtshof ob seines „politischen“ Urteils.



Auch der Wirtschaft gegenüber begegnet Johnson mit erstaunlicher Gleichgültigkeit. Die britische Handelskammer BCC warnt bereits das ganze Jahr, dass zu viele Unternehmen nicht ausreichend auf die Trennung vom EU-Binnenmarkt vorbereitet seien. Aber es ist nicht der Fehler der Unternehmen, sondern vor allem der britischen Regierung, die verschleiert hat, welche Handelshemmnisse auf die Wirtschaft zukommen werden, egal, ob ein Handelsabkommen mit der EU vereinbart werden würde oder nicht.



Wie sollte sich die britische Wirtschaft vorbereiten, wenn nicht klar war, ob es einen zoll- und quotenfreien Handel überhaupt geben würde, ob der Datentransfer geklärt sein würde und an welche Auflagen des „fairen Wettbewerbs“ sich die Unternehmen würden halten müssen? Welche Äquivalenzregelungen würden für die Londoner City gelten? Die Corona-Krise überlastete Wirtschaft und Staat ohnehin. So fehlten Geld und Personal, das für die Brexit-Vorbereitungen hätte abgestellt werden müssen.



„Vereinbarungen sind nicht dauerhaft“

Mit der gleichen Unbekümmertheit unterzeichnete Johnson im Oktober 2019 den Austrittsvertrag, das Nordirland-Protokoll und damit eine Zollgrenze in der Irischen See. „All diese Vereinbarungen sind doch sowieso nicht dauerhaft und werden von der nächsten Regierung, die sich nicht von diesen blöden Rechtsberatern ins Bockshorn jagen lässt, wieder gekippt“, sagte Cummings über die Verhandlungen mit der EU. So kam es dann auch. Mit Sprachlosigkeit beobachtete die eigene Partei, wie die Regierung ungerührt den Entwurf des Binnenmarktgesetzes präsentierte. Es sollte Vereinbarungen des Nordirland-Protokolls aushebeln und war explizit darauf ausgelegt, internationales Recht zu brechen. Aber dieses Mal hatte sich Johnson verkalkuliert. Die Partei folgte ihm nicht auf dem Weg, den internationalen Ruf der Nation als Rechtsstaat zu opfern. Plötzlich regte sich der Verdacht, dass Johnsons Regierungspolitik bei der Umsetzung des Brexit ähnlich versagte wie bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Johnson verlor schlagartig an Autorität und Vertrauen.



Seine Anhänger suchten derweil nach Ausflüchten: Der 56 Jahre alte Premier habe sich von seiner eigenen Corona-Krankheit nicht endgültig erholt, sei müde, unkonzentriert und gar schwermütig. Das Leben mit seiner jungen Verlobten und dem neuen Baby in dem Appartement in Downing Street sei anstrengend. Die finanziellen Sorgen nach einer kostspieligen Scheidung und der Versorgung seiner älteren Kinder seien nicht zu unterschätzen. Johnson könne gar die Lust an dem zermürbenden Job des Regierungschefs verlieren.



Schon positionieren sich die Nachfolger, allen voran Michael Gove direkt an seiner Seite. Labour-Chef Starmer hat derweil die Parlamentswahl in gut drei Jahren im Auge. Er ist erst seit April im Amt. Er ist als ehemaliger Strafverteidiger so besonnen, eloquent und fachlich versiert, dass seine Partei in Umfragen mit den Konservativen gleichgezogen hat. Das ist eine Leistung, zeigt aber auch, welch schwache Figur Johnson abgibt – nicht mal ein Jahr nach der Parlamentswahl.



In Johnsons Roman klagt die Assistentin des Abgeordneten: „Was für ein Politiker ist er eigentlich? Merkt er gar nicht, dass es die Leute ernst meinen? Er wird doch mit ihren Steuern bezahlt. Dann sollte er sich doch wenigstens für sie einsetzen und arbeiten.“ Johnson hat das nicht getan. Die Briten zahlen dafür einen hohen Preis.   



Bettina Schulz berichtet seit bald 30 Jahren aus London, seit 2014 für Die Zeit/Zeit online und die NZZ am Sonntag.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 87-93

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