Lehren statt Gewissheiten
Buchkritik
Laisser-faire oder Regulierung? In Zeiten der Wirtschaftskrise steht die Politik vor komplexen Herausforderungen, Patent-rezepte zur Krisenbewältigung gibt es nicht. Nikolaus Piper plädiert für Regulierung – aber bitte mit Maß. Denn perfekte Sicherheit ist illusionär, und eine Wirtschaft, in der niemand Risiken eingeht, droht einzufrieren.
Dieses Krisenbuch tut gut: Es dramatisiert nicht unnötig. Aber es nennt die Dinge beim Namen. Und vor allem: Es ordnet ein. Nach der Prognose von Nikolaus Piper hat die Weltwirtschaft ein gefährliches nächstes Jahrzehnt vor sich. Denn vieles, was bis vor Kurzem noch selbstverständlich aussah, ist es nicht mehr. Die Wirtschaft wird, wenn überhaupt, nur mit schwachen Raten wachsen. Die Finanzen vieler Staaten gelten als äußerst fragil. Die Gefahr eines Rückschlags bleibt groß. Eine zweite Rezession könnte ausbrechen, bevor die erste zu Ende ist. Viele Banken werden noch Jahre brauchen, um ihre Bilanzen zu sanieren. Die Arbeitslosigkeit wird in beinahe allen Industriestaaten bis ins kommende Jahr hinein weiter steigen.
Gewissheiten für die Politik – das ist dem Wirtschaftskorrespondenten der Süddeutschen Zeitung in New York mehr als bewusst – kann es in dieser Situation nicht geben. Aber ein paar Lehren will er ziehen: Die Finanzmärkte bedürfen einer fortwährenden Regulierung – immer und immer wieder. Doch Piper bleibt auch hier Realist: „Wie in Fragen der Innen- und Verteidigungspolitik ist das Konzept perfekter Sicherheit eine gefährliche Illusion.“ Denn eine Wirtschaft, in der niemand mehr Risiken eingehe, erstarre. Als Preis, den die Gesellschaft für ihre wirtschaftliche Freiheit zu zahlen hat, nennt Piper Spekulationsblasen und Krisen, Phasen der Euphorie und der Panik. Die eigentliche Herausforderung besteht daher für ihn darin zu verhindern, dass Krisen katastrophale Ausmaße annehmen.
Der Erfolg der gegenwärtigen Krisenpolitik hängt nach Piper davon ab, dass die Regierungen richtig mit dem Schuldenproblem umgehen. Wichtig sei, dass sie nicht zu früh auf Konsoli-dierung umschalten. Denn letztlich sei Wirtschaftswachstum der Schlüssel zur Sanierung der Staatsfinanzen. Daher mahnt er, die zu erwartenden Steuererhöhungen nicht zu wachstumsfeindlich ausfallen zu lassen. Wie schwer es den Vereinigten Staaten fallen wird, ihre Defizite zurückzufahren, zeigt Piper anhand einer Modellrechnung der Commerzbank: Selbst unter unrealistisch optimistischen Annahmen dauert es bis ins übernächste Jahrzehnt, bis die USA wieder den Schuldenstand von vor der Krise erreicht haben werden. Gelingt es Präsident Obama, den Haushalt 2011 auszugleichen, und wächst die Wirtschaft nominal um vier Prozent, dann ist das Ziel 2026 erreicht. Bleibt das Wachstum dagegen bei drei Prozent, dauert es bis 2033. Bei noch schlechteren Bedingungen ist das Ziel gar nicht zu erreichen.
Auch die Frage des Energiesparens hat elementarische ökonomische Implikationen: Sollte der Energiebedarf Chinas derart weiterwachsen wie im vergangenen Jahrzehnt und die Ölnachfrage der USA auf dem bisherigen Niveau bleiben, dann sei die nächste Wirtschaftskrise vorprogrammiert. Daher lautet für Piper eine der Schlüsselfragen, ob die Vereinigten Staaten und China in eine globale Strategie des Energiesparens einbezogen werden.
Zugleich erinnert Piper daran, dass große Finanz- und Wirtschaftskrisen in der Geschichte immer von breiten antikapitalistischen Bewegungen begleitet waren: Im Zuge der Krisen von 1848 und 1857 wurden die Wurzeln der Arbeiterbewegung gelegt. Während der langen Rezession nach dem Börsenkrach von 1873 entstand in den USA der Populismus – eine widersprüchliche Bewegung, die basisdemokratische Elemente und berechtigten Protest mit ökonomischer Scharlatanerie, Kulturpessimismus und Antisemitismus mischte. Auch die „Knights of Labor“, eine Vorläuferorganisation der amerikanischen Gewerkschaften, begannen ihren Aufstieg. Die ersten Tarifverträge wurden geschlossen. In Deutschland gründeten August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Ferdinand Lasalle 1875 die SPD.
Gleichzeitig begannen jedoch in den 1870er Jahren der Niedergang des deutschen Liberalismus und der Auf-stieg völkischer und antisemitischer Organisationen. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre schließlich förderte Nationalismus, Faschismus und Kommunismus und führte in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.
Diese letzte globale Krise gab aber auch den Anstoß zu einer grundlegenden Erneuerung der Weltwirtschaftspolitik: 1936 erschien die „Allgemeine Theorie“ von John Maynard Keynes. Sie wird nun neu entdeckt in einer Rezession, in der die internationale Gemeinschaft auf bislang beispiellose Weise zusammenarbeitet, um die Folgen der Krise einzudämmen. Denn es ist kein anderes Modell als die Marktwirtschaft bekannt, mit dem bald sieben Milliarden Menschen ökonomisch integriert werden könnten. Daher geht es im kommenden Jahrzehnt nicht nur um Wohlstand und Beschäftigung, sondern auch um die Zukunft von Freiheit und Demokratie. Daran zu erinnern, klingt dramatisch, ist es aber nicht. Nikolaus Piper nennt die Dinge lediglich beim Namen.
Nikolaus Piper: Die Große Rezession. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft. München: Carl Hanser 2009. 300 Seiten, 19,90 €
Dr. THOMAS SPECKMANN ist stellvertretender Referatsleiter der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen und lehrt an der Universität Bonn.
Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 134 - 135.