Lehren für den „Tag danach“
Wie Wahrheitskommissionen helfen können, Konflikte beizulegen
Erfahrungen mit Wahrheitskommissionen konnten bislang in rund 40 Ländern gesammelt werden – und sie fallen sehr unterschiedlich aus. Ihre Hauptaufgabe liegt in der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen, manchmal in der Wiedergutmachung. Doch in jedem Fall tragen sie zu einem etwas wirklichkeitsnäheren Geschichtsbild bei.
Zum ersten Mal in seiner Geschichte beschloss der UN-Sicherheitsrat Anfang April 2005 mit der Stimme der USA, den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag mit Ermittlungen zu Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu beauftragen: in Darfur/Sudan. Der sudanesische Präsident Omar al-Baschir erklärte sofort, sein Land werde mit dem Gericht nicht kooperieren. Gleichwohl überreichte UN-Generalsekretär Kofi Annan dem IGH eine Liste mit den Namen von 51 Verdächtigen, die von einer UN-Delegation ermittelt worden waren, die kurz zuvor das Land besucht hatte. Mindestens 180 000 Menschen hätten ihr Leben verloren, weitere zwei Millionen seien geflohen, seit vor zwei Jahren der Konflikt begann.1 Hier handelt es sich nicht um eine Wahrheitskommission – außer man sieht auch den IGH in einer solchen Rolle –, aber doch um die Suche nach der Wahrheit, ebenso wie im nächsten Fall.
Einen Monat vorher war eine Delegation der Zivilgesellschaft aus Nord-uganda nach Den Haag gereist, um die IGH-Staatsanwaltschaft davon zu überzeugen, Rebellenführer der Lord Resistance Army nicht anzuklagen, weil diese für die noch ausstehenden Verhandlungen dringend benötigt würden. „We all need justice. Peace and justice go together. But let’s work on the peace first and the justice later on”,2 so wird das Delegationsmitglied David Onen Acana II zitiert.
In Osttimor und Indonesien war die strafrechtliche Aufarbeitung der Massaker und Vertreibungen vor und während des Plebiszits von 1999, das zur Unabhängigkeit Osttimors führte, durch den Ad-hoc-Strafgerichtshof in Jakarta bisher völlig unzureichend. Die UN haben eine internationale Expertenkommission eingesetzt, die die bisherige Aufarbeitung evaluieren soll. Menschenrechtsorganisationen fordern jetzt entweder eine Reform des Menschenrechts-Sondergerichts in Osttimor oder einen vom UN-Sicherheitsrat einzusetzenden internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshofs.3
Da es keine allgemein verbindliche Definition gibt, was eine Wahrheitskommission ist, scheint es sinnvoll, diese zunächst anhand der bisherigen empirischen Erfahrung zu charakterisieren: Wahrheitskommissionen werden fast immer nach einem Krieg oder einem anderen schweren Konflikt bzw. einer Diktatur von einer staatlichen Stelle ins Leben gerufen, meist durch die Regierung, manchmal durch das Parlament. Als Hauptaufgabe wird ihr die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen übertragen,4 die vom Militär, von anderen Regierungsstellen oder auch von der bewaffneten Opposition begangen wurden – manchmal auch in anderen Ländern (z.B. Operation Cóndor im Süden Lateinamerikas während der Zeit der Militärdiktaturen).
Sie werden in der Regel von der Regierung finanziert, manchmal auch von der Legislative, den Vereinten Nationen oder von Nichtregierungsorganisationen (NGOs).5 Am Ende ihrer Arbeit steht der große Bericht, mit dem sie ihre Aktivitäten fast immer beenden. Es gibt aber auch Fälle, in denen bemerkenswert umfassende Berichte durch private Akteure über die Vergangenheit veröffentlicht wurden, etwa „Niemals wieder“ der katholischen Kirchen in Brasilien über Folter und in Guatemala über Menschenrechtsverletzungen, oder „Uruguay niemals wieder“ von der NGO Servicio Paz y Justicia über die Zeit der Militärdiktatur.
Aufgaben und Befugnisse
Wahrheitskommissionen werden mit unterschiedlichen Befugnissen ausgestattet, vor allem mit der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen. In Südafrika erhielt die Kommission zusätzlich den Auftrag, eine Amnestie für diejenigen Täter auszusprechen, die ein volles Geständnis ablegen.6 Dies ist aber ein Ausnahmefall.
Auch entwickeln diese Kommissionen viele Vorschläge zur Vorbeugung von Menschenrechtsverletzungen, zur besseren Verankerung der Menschenrechte in der Politik, zu Justizreformen, Menschenrechtstraining für Polizei und Militär, zur Lösung der Landfrage, etwa in Guatemala, bis hin zur Menschenrechtsbildung. Aber nach einigen Jahren zeigt sich häufig, dass diese Empfehlungen und Initiativen nur wenig vom politischen System aufgegriffen worden sind.7
Ein anderes Thema ist die Wiedergutmachung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Hierzu gehören sowohl einmalige Zahlungen als auch Pensionen über einen bestimmten Zeitraum hinweg, Unterstützung durch kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem besonders für Opfer mit körperlichen Verletzungen und psychischen Belastungen sowie Vergünstigungen wie zum Beispiel die Freistellung vom Militär, wie in Argentinien, wo die Söhne von „Verschwundenen“ freigestellt wurden, um nicht in der Institution dienen zu müssen, die für den Tod ihrer Eltern oder eines Elternteils verantwortlich war.
Die bisherigen Erfahrungen mit den über 40 Wahrheitskommissionen beziehen sich vor allem auf Latein-amerika8 und in zweiter Linie auf Afrika. In Asien ist es selten zur Einrichtung von Wahrheitskommissionen gekommen. Ausnahmen sind Osttimor und Sri Lanka – dort ist der Versuch allerdings fehlgeschlagen. Für den Nahen Osten kommt es jetzt mit Marokko zum ersten Mal zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit (Näheres weiter unten). Erfahrungen in bestimmten Weltregionen dominieren daher die bisherige Forschung und ihre Ergebnisse.
Völkerrechtliche Anforderungen
Sind Organisation, Mandat und Vorgehensweise eher offen, stellt das Völkergewohnheitsrecht für Staaten doch gewisse Grundanforderungen an eine Aufarbeitung der Vergangenheit, die sie über eine Kommission oder auch andere Instrumente einhalten sollten. Es gibt das absolute Verbot für bestimmte Menschenrechtsverletzungen im Völkergewohnheitsrecht, so der Völkerrechtler Kurt Draisbach, wie z.B. Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, somit groß angelegten und systematischen Mord, Folterungen, Vertreibungen, Menschenhandel, Versklavung, Ausrottung, das „Verschwinden lassen“, sowie das Verbrechen der institutionellen Diskriminierung aufgrund der Rasse, Ethnie oder Religion. Für diese schweren Menschenrechtsverletzungen lassen sich durchaus eine universelle Verfolgungs- und Bestrafungspflicht begründen. Im Umkehrschluss ergebe sich, dass Generalamnestien für solche Verbrechen nicht erlaubt seien.9
Eine andere wichtige, doch rechtlich noch nicht verbindliche Quelle sind die UN-Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von Verletzungen internationaler Menschenrechtsnormen oder des humanitären Völkerrechts auf Rechtsschutz und auf Wiedergutmachung von 2003. Darin wird eine Pflicht der Staaten zur Ermittlung von Verletzungen und strafrechtlichen Verfolgung bei systematischen Menschenrechtsverletzungen und ernsten Verletzungen des humanitären Völkerrechts festgeschrieben. Der Zeitraum, innerhalb dessen wirksame Rechtsmittel gegen die Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts eingereicht werden können, soll nicht beschränkt werden. Dem Opfer wird Rechtsschutz zugesprochen. Hierzu gehört das Recht auf den Zugang zur Justiz, auf Wiedergutmachung für erlittene Schäden und auf Zugang zu Tatsachen und anderen Informationen in Bezug auf die begangenen Verletzungen.10
Wirkungschancen und -grenzen
Die Chancen, eine Wahrheitskommission ins Leben zu rufen, hängen in erster Linie vom politischen Willen von Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft, manchmal auch von den Interessen einflussreicher, interessierter Länder ab. Fast immer gibt es auch starke Gegenkräfte. Mühsam geschlossene Waffenstillstandsabkommen sollen, so heißt es dann, nicht dadurch einem Risiko ausgesetzt werden, dass nach mutmaßlichen Tätern und deren Befehlsgebern gesucht wird. Aber auch ausländische Politiker, Militärs und Geheimdienstangehörige befreundeter Staaten fürchten Untersuchungen, die Beweise für die Unterstützung der Diktatur oder für eine Kriegspartei bekannt machen und in der eigenen Öffentlichkeit Unruhe hervorrufen würden.
Hierzu lassen sich unterschiedliche Wege des Übergangs von der Diktatur oder dem Ende des Krieges zur Demokratie vorstellen, die die Einsetzung einer Kommission fördern oder behindern. Es gibt den häufigen Weg eines verhandelten Übergangs zwischen der alten Führungselite und der Opposition, wie meist in den lateinamerikanischen Fällen. Manchmal kommt es zum Zusammenbruch des alten Regimes, häufig durch eine militärische Niederlage, wie in Griechenland während der Militärdiktatur, Portugal unter Salazar, Argentinien unter den Generälen und Kambodscha unter den Roten Khmer. Eine zweite Ursache können massive politisch-soziale Oppositionsbewegungen in der Zivilgesellschaft darstellen, wie in der DDR, der Ukraine oder Kirgistan.11
Politisch durchsetzbar sind Kommissionen in aller Regel nur bei Systemzusammenbruch. Eine aktuelle und faszinierende Ausnahme hierzu ist jedoch Marokko: Dort hat 2004 die Kommission Equity and Reconciliation mit der Anhörung von rund 200 Opfern von Menschenrechtsverletzungen in der Zeit von 1956 bis 1999 unter König Hassan II. begonnen. Die Täter dürfen jedoch nicht genannt werden. Hier hat es keinen Zusammenbruch des Regimes gegeben, im Gegenteil: der Sohn von König Hassan II. – Mohammed VI. – übernahm die Regierung und setzte gleichwohl beide Kommissionen ein.12 Wie weit die Aufklärung hier geht und gehen kann, bleibt abzuwarten.
Konfliktbewältigung in Sierra Leone
Einer der schwierigeren Fälle eines Bürgerkriegs und Friedensprozesses war die Phase 1998 bis 2000 in Sierra Leone.13 Dort hatte der Kampf zwischen der Regierung, die von der Friedenstruppe ECOMOG unterstützt wurde, und den Rebellen des Armed Forces Revolutionary Council sowie der Revolutionary United Front zu zahlreichen massiven Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts geführt, darunter zu weit verbreiteten Verstümmelungen und Massenhinrichtungen. Bei den Rebellen handelte es sich vielfach um Kindersoldaten, die unter Drogeneinfluss agierten.
Gleichwohl hatte sich seit Mitte der neunziger Jahre eine kleine, aber aktive Menschenrechtsbewegung entwickelt, der es gelang, eine regelmäßige Berichterstattung zu organisieren. Eingeschränkt wurde dies aber durch den fehlenden Zugang zu den von Rebellen kontrollierten Gebieten.
Menschenrechts-NGOs in Sierra Leone schlossen sich zum Nationalen Forum für Menschenrechte zusammen und kooperierten mit dem vor Ort arbeitenden Team des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.
Vier zentrale Funktionen für die Menschenrechtsarbeit lassen sich nach der Studie von O’Flaherty über Sierra Leone hervorheben:
1. Die Zivilgesellschaft wurde in Bezug auf Menschenrechte dadurch gestärkt, dass Kompetenzen zur Informationssammlung und -analyse (monitoring) sowie Berichterstattung durch lokale Menschenrechts-NGOs und auch religiöse Gruppen in der Zivilgesellschaft verbreitet wurden.
2. Die NGOs trugen entscheidend sowohl während des Konflikts als auch in der Zeit unmittelbar nach dem Waffenstillstandsabkommen zum „monitoring“ der Menschenrechtssituation für die internationale Gemeinschaft bei. Zusätzlich informierten auch internationale Menschenrechts-NGOs wie amnesty international und Human Rights Watch über das Land. Die Berichterstattung floss dann ein in die offiziellen Berichte des UN-Generalsekretärs an den UN-Sicherheitsrat und in ausführlichere Berichte an die UN-Menschenrechtskommission und das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte.
3. Die Menschenrechts-Community wurde wiederholt gegenüber der Regierung sowie der Führung der Rebellen vorstellig. Leider hatte dies nur begrenzte Wirkung. Das Nationale Forum intervenierte z.B., als das Lomé-Friedensabkommen zu Sierra Leone eine umfassende Amnestie vorsah, die den Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit völlig unterminierte.
4. Noch während des Krieges, besonders aber unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen wurde durch die Berichterstattung die Grundlage für Ermittlungen zu den Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen gelegt. Allerdings erschwerte mangelnde Finanzierung durch ausländische Geberinstitutionen diese Bemühungen erheblich.
Die politische Lage, besonders die Invasion der Rebellen in der Hauptstadt Freetown, stellte die Wirkungsmöglichkeiten der Arbeit immer wieder in Frage. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es Fälle wie Sierra Leone gibt, in denen sowohl während des Konflikts als auch kurze Zeit danach eine aktive, mutige Menschenrechts-Community einen wesentlichen Beitrag zur kontinuierlichen Menschenrechtsberichterstattung und -intervention leistete und auch Vorschläge für die Aufarbeitung der Vergangenheit formulierte. 2001 hat der UN-Sicherheitsrat einen gemischten Ad-hoc-Strafgerichtshof (d.h. mit Richtern aus Sierra Leone und anderen Ländern) eingerichtet, der Verfahren gegen mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen führt.
Bisherige Erfahrungen
Wahrheitskommissionen werden meist unmittelbar nach dem Übergang zur Demokratie eingesetzt und haben eine relativ kurze Lebensdauer – sechs Monate bis vielleicht zwei Jahre, um ihre Arbeit durchzuführen. Sie sollen in der Regel Einzelfälle von Menschenrechtsverletzungen aufklären und nicht unbedingt die Schuldigen identifizieren. Tatsächlich haben aber einige Wahrheitskommissionen vertrauliche Listen mit Beschuldigten angelegt und diese später der Regierung oder auch der Justiz übergeben.
Eine wichtige Rolle bei Wahrheitskommissionen spielt neben den meist wenig interessierten politischen Akteuren die Zivilgesellschaft. Zu nennen sind NGOs und kirchliche Gemeinschaften, aber auch ausländische Akteure, die politischen Druck aus-üben, damit eine Wahrheitskommission eingerichtet wird. Von der Zivilgesellschaft kommen bei weitem die meisten Informationen, die dann die Grundlage für weitere Ermittlungen der Kommission bilden. Das Hauptprodukt ist dann der große Abschlussbericht, der, je nach Land, Entwicklungen zwischen fünf und 30 Jahren behandelt.
In einigen Fällen wie in El Salvador und Guatemala sind Wahrheitskommissionen entscheidend durch Beschlüsse der Vereinten Nationen zustande gekommen. Wahrscheinlich hätte man diese Kommissionen ohne eine so starke Beteiligung internationaler Akteure nicht gründen können. In diesem Fall stellt die „internationale Gemeinschaft“ das funktionale Äquivalent zu einer halbwegs stabilen Opposition oder Zivilgesellschaft dar, die es aber in einer Reihe von Nachkonfliktgesellschaften aufgrund der Verwüstungen durch Krieg und massenhafte Menschenrechtsverletzungen nicht (mehr) oder erst wieder in Ansätzen gab.
Vergleichsweise wenig untersucht wurde bislang, inwieweit Ermittlungen der Kommissionen von der Justiz aufgenommen wurden. Wurde das Material zur Grundlage von Ermittlungen genutzt und in welchem Umfang wurde Anklage erhoben? In der Forschung besteht der Eindruck, dass eine meist schwache Justiz nur wenige Fälle weiterverfolgte (in der Hälfte der lateinamerikanischen Fälle verhinderten überdies vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetze eine strafrechtliche Verfolgung). Wenn es zu Anklagen kam, betraf dies vor allem die unmittelbaren Täter, seltener Personen der mittleren oder Spitzenebene, die die Befehle gaben. Nur in Ausnahmefällen wurden politische Führungspersönlichkeiten angeklagt oder sogar verurteilt.
Die mögliche Beteiligung des Auslands an der Förderung von Diktatur und Krieg blieb in den Berichten der Wahrheitskommissionen weitgehend außen vor. Eine Ausnahme bildete der Bericht über Folter während der Militärdiktatur in Brasilien durch die katholische Kirche, der sich mit der Rolle von US-amerikanischen Polizeikräften und Militärausbildern beschäftigte. Im Fall Guatemala hat sich Präsident Clinton 1999 öffentlich für die Rolle der USA in Guatemala entschuldigt.14
Zu persönlicher Rache ist es nach dem Übergang zur Demokratie kaum gekommen, entgegen Vermutungen, dass eine Aufklärung der Vergangenheit und ernsthaftere Strafverfolgung die Motivation von Angehörigen von Opfern stärken würde, persönlich Rache zu nehmen.
Finanzielle Entschädigung oder Wiedergutmachung in anderer Form war bei einigen Kommissionen Teil ihrer Arbeit – z.B. in Chile oder Südafrika. In anderen Ländern, wie in Argentinien oder Brasilien, waren zwei Amtsperioden notwendig, bevor die Regierung Maßnahmen ergriff, den Opfern Wiedergutmachung zu leisten.
Wahrheitskommissionen werden fast immer in der Erwartung eingesetzt, dass sie bei der Ver- und Bearbeitung von Konflikten und damit ihrer Lösung helfen. Ihre Arbeit bezieht sich jedoch auf Konflikte der Vergangenheit, die meist indirekt auf das aktuelle und potenzielle Konfliktgeschehen einwirken. Hier liegt auf der Hand, dass zusätzlich aktuelle Konfliktlösungsmechanismen, seien es nationale Menschenrechtsinstitutionen, Ombudsstellen, zivilgesellschaftliche Lösungsmechanismen oder auch eine reformierte Justiz, dringend benötigt werden, etwa wenn es um vielfältige Landrechtskonflikte wie in Guatemala geht.15
Die Option einer Wahrheitskommission zur Durchsetzung von Aufklärung oder zumindest Identifizierung von politischen Verantwort-lich(keit)en ist sicher weiterhin attraktiv, auch wenn unterdessen die Grenzen ihrer Wirksamkeit deutlich ins Bewusstsein gerückt sind.
Wahrheitskommissionen beanspruchen einen erheblichen politischen Raum zur Diskussion über Fragen der Vergangenheit. Nachdem ihre Arbeit beendet ist, verschwindet das Thema Umgang mit der Vergangenheit häufig aus der öffentlichen Diskussion oder findet sich auf einem hinteren Platz der nationalen Agenda wieder; die wirtschaftliche und soziale Lage, die Innenpolitik (Kriminalitätsbekämpfung) und andere Themen stehen wieder im Vordergrund. Mit Recht wird dann kritisiert, dass Wahrheitskommissionen häufig nur zu einem geringeren Grad als erwartet zu mehr Gerechtigkeit beigetragen haben. Es muss aber die sicher spekulative Frage gestellt werden, wie denn in einem alternativen Szenario der Umgang mit der Vergangenheit ausgesehen hätte, wenn es keine Wahrheitskommission gegeben hätte und dieser „freie Raum“ nur für politische Diskussionen und eine in der Regel schwache Strafverfolgung genutzt worden wäre. Es ist zu vermuten, das es höchstens zur Aufnahme einiger Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen durch die Justiz kommen würde.
Wahrheitskommissionen stellen den ungewöhnlichen Versuch dar, zu einem etwas wirklichkeitsnäheren Geschichtsbild zu kommen. Dies klingt fast vermessen, neigen doch die meisten politischen Gruppierungen dazu, ihre eigene Rolle in der Vergangenheit heroisch zu konturieren. Sie würden über die historische Verantwortung streiten, wer die Hauptschuld für den Zusammenbruch des politischen Systems hätte. Oder es würde geschwiegen werden, aus Scham oder Angst, alte Konfliktlinien wieder zu beleben. Wahrheitskommissionen bilden in manchen Ländern den Ausgangspunkt für eine nationale Erinnerungskultur. Michael Ignatieff schrieb Mitte der neunziger Jahre etwas lakonisch, aber zutreffend: „All that a truth commission can achieve is to reduce the number of lies that can be circulated unchallenged in public discourse.“16
Wahrheitskommissionen können sogar deutlich mehr leisten, natürlich immer in Abhängigkeit von der politischen Kräftekonstellation und der Stärke der Zivilgesellschaft: das Schicksal von Tausenden von Menschen zumindest teilweise aufklären, mutmaßlichen Tätern indirekt einen weiteren Aufstieg erschweren (durch Anlegung vertraulicher Listen, die der Regierung bzw. der Justiz übergeben werden) und nachvollziehbare Kriterien für eine Wiedergutmachung für die Opfer formulieren. Dies alles ist ein nicht unerheblicher Beitrag zum Rechtsfrieden in Ländern, in denen dieser lange Zeit nicht mehr existierte.
1 BBC, UN sets Darfur trials in motion, 5.4.2005. Das Statut des IGH wurde von 98 Staaten ratfiziert, darunter Deutschland. Die USA haben so genannte „Bilateral Immunity Agreements“ mit mehr als 90 Staaten geschlossen, von denen 11 ratifiziert wurden und 19 als „Executive Agreement“ keiner Ratifikation bedürfen, www.iccnow.org.
2 BBC, Ugandans ask ICC to spare rebels, 16.3.2005. Zu der ziemlich erfolglosen ugandischen Wahrheitskommission siehe Joanna R. Quinn, Constraints; The Un-Doing of the Ugandan Truth Commission, Human Rights Quarterly, 2/2004, S. 401–427.
3 Vgl. Leonie von Braun, Monika Schlicher: Gerechtigkeit für Osttimor. Positionspapier zur Reform der Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen in Osttimor und Indonesien, Berlin 2005.
4 Hierdurch entsteht eine Chance für ein wirklichkeitsnäheres Geschichtsbild, das durchaus nicht selbstverständlich ist. Meist existieren „Geschichten“ weiter, die vom jeweiligen Standpunkt innerhalb des Konflikts abhängig sind, ob man Mitglied des Militärs oder der Guerilla, einer Kriegspartei, einer bestimmten ethnischen bzw. politischen Gruppe war – und ob man den Konflikt „gewonnen“ oder verloren hat.
5 Zu Kriterien siehe Priscilla B. Hayners, Unspeakable Truths. Facing the Challenge of Truth Commissions, New York 2000, S. 72-85.
6 Vgl. Gunnar Theissen, Chancen und Grenzen von Wahrheitskommissionen: Das Beispiel Südafrika, Berlin 2004 (Ms.).
7 In der Entwicklungspolitik wird seit einigen Jahren versucht, diese Reformprozesse zu unterstützen, besonders durch die Aktivitäten kirchlicher Hilfswerke wie Misereor, Brot für die Welt, politischer Stiftungen und der staatlichen EZ. Siehe u.a. GTZ, Vergangenheits- und Versöhnungsarbeit – wie die TZ die Aufarbeitung von gewaltsamen Konflikten unterstützen kann, Eschborn 2002.
8 Vgl. Lateinamerika-Analysen Nr. 9, Vergangenheitspolitik und Geschichtskonstruktion Lateinamerika, Hamburg, Oktober 2004.
9 Kurt Draisbach: Zur völkerrechtlichen Beurteilung nationaler Amnestieregelungen – ein Überblick, MenschenRechtsMagazin (Universität Potsdam), Nr. 3, 2000; http://www.uni-potsdam.de/u/mrz/mrm/mrm13-2.htm. Zur Rolle der Justiz in Nachkonfliktgesellschaften siehe M. Cherif Bassiouni (Hrsg.): Post-Conflict Justice, Ardsley, N.Y. 2002.
10 United Nations, The right to remedy and reparation for victims of violations of international human rights and humanitarian law, note by the High Commissioner for Human Rights, UN doc. E/CN.4/2004/57.
11 Zu den Entstehungsbedingungen vgl. Alexandra Barahona de Brito, Carmen González-Enríquez, Paloma Aguilar (Hrsg.): The Politics of Memory. Transitional Justice in Democratizing Societies, Oxford 2001, S. 304 ff.
12 Eine Kommission befasst sich mit Menschenrechtsverletzungen der vorherigen Regierung, etwa Inhaftierung ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Wüstenorten, auch Hinrichtung von einzelnen politischen Oppositionellen und soll die institutionelle Verantwortlichkeit klären. Eine zweite Kommission half dabei, dass zahlreiche Opfer im Fernsehen über ihr Schicksal im Januar 2005 und Februar 2005 berichten konnten; allerdings durften sie keine Täter nennen, weil dies ja Aufgabe der ersten Kommission sei.
13 Ich folge hier Michael O’Flaherty, Sierra Leone’s Peace Process: the Role of the Human Rights Community, Human Rights Quarterly, 1/2004, S. 29–62.
14 Die Vereinigten Staaten waren maßgeblich an der Unterstützung der Aufstandsbekämpfung durch das guatemaltekische Militär mit Ressourcen und Militärausbildern bis hin zu Strategien beteiligt, die auf die gezielte Tötung von Gefangenen und deren Folterung abzielte.
15 Vgl. z.B. Gerd Addicks, Wolfgang S. Heinz, Katharina Hübner: Friedensentwicklung und Krisenprävention in Guatemala, Eschborn: GTZ, 2003.
16 Michael Ignatieff, Articles of Faith, in: Index on Censorship, 1996, Nr. 5, S. 110–122 (113).
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 44 - 51.