Leerlauf im deutsch-französischen Tandem
Hat es noch eine Existenzberechtigung?
Zwar hat sich nach dem Gipfel von Laeken das Tandem auf die politische Bühne zurückgemeldet; die großen gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben stehen aber noch bevor: Föderalisierung eines sich erweiternden Europa; Reformen in der Agrarpolitik – und Frankreich, aber auch Deutschland, stehen in diesem Jahr vor entscheidenden Wahlen.
Nach langer Zeit in der politischen Versenkung ist das deutsch-französische Tandem vor dem EU-Gipfel in Laeken am 14./15. Dezember 2001 mit neuer Vehemenz wieder in Erscheinung getreten. Etwas überraschend hatte es schon auf dem deutsch-französischen Gipfel in Nantes am 23./24. November 2001 eine „Gemeinsame Erklärung über die großen europapolitischen Prioritäten“1 gegeben. Und – neu in der Geschichte – verabschiedeten die Ausschüsse für Außen- und Europa-Politik des Deutschen Bundestags und der Assemblée Nationale auf einer gemeinsamen Sitzung am 10. Dezember 2001 in Paris eine Erklärung, in der sich die Abgeordneten beider Länder für ehrgeizige und tief greifende politische Reformen der EU aussprachen. Darf also neue Hoffnung gesetzt werden in den alten europäischen Motor, damit die anstehenden Herausforderungen für die EU, namentlich die Osterweiterung und der Verfassungsprozess, durch deutsch-französische politische Führung bewältigt werden?
Der Blick zurück zeigt zunächst, dass das deutsch-französische Tandem nach Nizza besser funktioniert hat als davor. Die deutsch-französische Krise vor und während der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza2 ist gerade deshalb entstanden, weil das Tandem über den gesamten Zeitraum der neunziger Jahre gleichsam von schleichender Erosion befallen war, die – zuletzt nur noch mühsam – mit politischer Rhetorik zugekleistert wurde.3 Weder war die tektonische Verschiebung, die die deutsche Wiedervereinigung in der bis dahin subtilen, aber wirksamen Asymmetrie der deutsch-französischen Beziehungen verursacht hat, offen thematisiert worden, noch wurden die Zwistigkeiten über die Modalitäten der Wirtschafts- und Währungsunion oder die divergierenden konzeptionellen Vorstellungen über die Politische Union ausdiskutiert. Betörende Beschwichtigungsformeln verhinderten eine ehrliche Aussprache, während gleichzeitig die deutsch-französischen Interessenkollisionen immer größer wurden.
Der erste großeZusammenprall erfolgte dann auf dem EU-Gipfel 1999 in Berlin, auf dem mit der „Agenda 2000“ der Finanzrahmen der zukünftig erweiterten Union festgelegt wurde, und Frankreich sich weigerte, dem deutschen Vorschlag der Kofinanzierung in der Agrarpolitik zuzustimmen. Die zweite Kollision erfolgte knapp zwei Jahre später, auf dem EU-Gipfel in Nizza, der die EU institutionell auf die Osterweiterung vorbereiten sollte, und auf dem sich Deutschland und Frankreich über die Frage der Stimmengewichtung im Rat entzweiten. Die mageren Ergebnisse beider Gipfel legten bloß, was zuvor tabuisiert worden war: Deutschland und Frankreich hatten kein schlüssiges und gemeinsames Konzept für die institutionelle und finanzielle Bewältigung der Osterweiterung.
Zu Recht oder zu Unrecht fühlte sich Frankreich in Nizza von Deutschland nicht nur alleingelassen, sondern sogar hintergangen. In französischen Augen ging Deutschland mit Blick auf das zukünftige Machtgefüge in den europäischen Institutionen als „Sieger“ aus Nizza hervor, ausgestattet mit einer Bevölkerungsklausel von 62%, die es in Zukunft Deutschland als einzigem Mitgliedsland der EU erlaubte, mit nur zwei weiteren Koalitionspartnern die Sperrminorität bei Abstimmungen im Rat zu erlangen, und als einziges Land verschont blieb von der Reduzierung seiner Abgeordneten im Europäischen Parlament, um Platz für die Parlamentarier aus den Kandidatenländern zu schaffen. Das Trauma der Marginalisierung geisterte durch französische Gazetten; Deutschland der Gewinner der Osterweiterung: man hatte es geahnt, jetzt war es handfest geworden.
Angesichts des Ausmaßes des offenbar angerichteten Schadens war das deutsch-französische Krisenmanagement erstaunlich besonnen. Nur einen Monat später, Ende Januar 2001, wurde der so genannte „Bläsheim-Prozess“ ins Leben gerufen, benannt nach dem Ort eines vertraulichen Treffens zwischen dem französischen Staatspräsidenten und dem ddeutschen Bundeskanzler, einem Dorf im Elsass. Auf höchster Ebene und hinter verschlossenen Türen treffen sich seitdem alle sechs Wochen die beiden Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister – ein heilsamer Versuch, eine Art vertrauensbildende Maßnahme zu schaffen, die es Jacques Chirac, Lionel Jospin und Gerhard Schröder sowie Joschka Fischer und Hubert Védrine erlauben soll, ein neues Gespür für die Befindlichkeit des „besten Partners“ zu bekommen und die jeweiligen politischen Sorgen und Zwänge des anderen besser zu verstehen. Und es funktioniert, vielleicht gerade, weil davon nichts oder so gut wie nichts an die Öffentlichkeit dringt und weil es erlaubt, sensitive Themen auf höchster Ebene zu erörtern und abzusprechen.
Fern der Öffentlichkeit konnte so im Lauf des Jahres 2001 eine Konsolidierung der deutsch-französischen Beziehungen gelingen: die französischen Probleme mit der Liberalisierung des Energiemarkts, die deutschen Probleme mit der Freizügigkeit angesichts der Osterweiterung, die zeitweiligen deutsch-französischen Spannungen bezüglich des Transportflugzeugs A 400M, dies alles konnte im Vorfeld der EU-Gipfel in Göteborg und in Laeken entkrampft werden. Mit dem Bekenntnis zu einer europäischen Verfassung auf dem bilateralen Gipfel in Nantes haben Deutschland und Frankreich sogar den Mut und das Engagement bekundet, sich inhaltlich und politisch wieder an die Spitze der europäischen Reform zu setzen.
Zank um Osterweiterung
Das Gros der gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben steht dem Tandem aber noch bevor. Das schlüssige Konzept zur Bewältigung der EU-Osterweiterung muss her, und zwar umgehend. Endlich ist auch in Frankreich die öffentliche Diskussion hierüber erwacht. Die Frage, wer es wagen wird, „Nein“ zur Erweiterung zu sagen,4 hat Frankreich allerdings zu spät gestellt. Frankreich scheint sich der Osterweiterung eher resigniert fügen, denn sie konstruktiv gestalten zu wollen. In diese Richtung interpretiert wurde auch die Äußerung von Außenminister Védrine anlässlich der Veröffentlichung der Fortschrittsberichte der Kommission Mitte November.5 Da man nun voraussichtlich zehn Staaten aufzunehmen gedenke, könne man auch über einen „Big Bang“ mit allen zwölf Beitrittskandidaten nachdenken. Védrine warf damit – mit Blick auf Polen – die Frage auf, ob sich die Kommission mit den Fortschrittsberichten tatsächlich nur auf objektive Kriterien stütze, oder ob durch die Einbeziehung Polens in die erste Runde nicht die Weichen gestellt worden seien für eine politische Begründungen der Osterweiterung. In Deutschland hingegen wurde der Vorstoß von Védrine als Verzögerungstaktik gewertet.
Realität ist, dass die Osterweiterung viel Geld kosten wird, und Frankreich den Preis möglichst gering halten möchte. Simulationen von verschiedenen Reformszenarien6 in der Agrar- und Strukturpolitik der EU haben ergeben, dass Frankreich als größter Profiteur von Rückflüssen in der Agrarpolitik ein besonderes Interesse am Status quo hat. Auch wenn der Rat formal in der Agrarpolitik eine Reform mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann, scheint es politisch ausgeschlossen, keinen Konsens mit Frankreich in dieser Frage zu erzielen.
Rein rechnerisch ist genügend Geld da, um auch ohne Reformen die EU um zwölf Staaten zu erweitern. Allerdings müsste dann in Kauf genommen werden, dass die heutigen Empfänger von Strukturfondsmitteln in der EU-15 hohe Einbußen hinnehmen müssten und auch die Einkommensverteilung der Bauern in den neuen Mitgliedstaaten belastet. Der Ausgangspunkt der „Agenda 2000“, wonach die Einkommensdirektbeihilfen für die Landwirte nicht auf die neuen Mitglieder übertragen werden, wird nicht durchzuhalten sein. Schon allein deshalb werden an dieser Stelle Reformen unausweichlich sein. Zusätzlicher Reformzwang liegt auch darin begründet, dass die EU in ihrem Haushalt Mittel für neue Aufgaben bereitstellen muss. Bei einer bisher von Deutschland favorisierten Kofinanzierung in der Agrarpolitik bleibt die Einkommensstützung für die Landwirte zwar erhalten, wird aber zu 50% national finanziert. Darunter würde Frankreich ungleich mehr leiden als Deutschland. Die radikalere Alternative wäre ein schrittweiser, aber vollständiger Abbau der Direktzahlungen. Ob Frankreich für einen solchen Schritt aber die politische Kraft hat, ist fraglich.
Fraglich ist auch der Moment der Reform. Die Friedensklausel der WTO in der Agrarpolitik läuft Ende 2003 aus. Spätestens dann werden die USA auf einen radikalen Abbau der EU-Subventionen in der Landwirtschaft dringen. In der Sprachregelung von EU-Kommissar Pascal Lamy indes soll die Reformagenda der EU-Landwirtschaft nicht durch die WTO bestimmt werden. Ob der EU-interne Druck aber ausreicht, noch vor der Erweiterung durchgreifende Reformschritte zu unternehmen, muss bezweifelt werden. Frankreich jedenfalls hat kein ausgeprägtes Interesse daran, denn es würde durch den Wegfall der Agrarrückflüsse zum Nettozahler. Deutschland würde seine Nettozahlerposition insgesamt zwar auch verschlechtern, aber relativ ungleich geringer. Im Klartext heißt dies, dass Deutschland, obgleich in französischen Augen Nutznießer der Erweiterung, Frankreich dafür den Löwenanteil bezahlen lassen will. Natürlich ist die Reform der Gemeinschaftspolitiken keine bilaterale Angelegenheit zwischen Deutschland und Frankreich. Spanien etwa ist der große Blockierer im Bereich der Strukturpolitik, und beide Reformen müssen in Zusammenhang gebracht werden; keine leichte Aufgabe für das Tandem. Sollte es nicht gelingen, vor 2004 eine Einigung zu erzielen, dann werden 2006 wohl 25 Staaten am EU-Ratstisch sitzen und um einen Kompromiss feilschen. Frankreich könnte es darauf ankommen lassen wollen.
Frankreich vor Wahlen
Die andere Frage lautet, mit welchem politischen Frankreich wird Deutschland diese komplizierten Fragen lösen müssen? Das Land erscheint seit Monaten politisch gelähmt. Der Präsidentschaftswahlkampf im Mai 2002 wird seit geraumer Zeit für die französische Taten- und Positionslosigkeit in der Europa-Politik verantwortlich gemacht; gleichzeitig dümpelt der Wahlkampf geradezu themenlos vor sich hin: kaum grundsätzlich strittige Fragen und erst recht keine zukunftweisenden Vorstellungen von einem politisch wie wirtschaftlich modernisierten Frankreich und dessen Rolle in Europa. Das Land wird sich zwischen dem amtierenden Präsidenten Chirac, der noch am ehesten durch seine Jovialität überzeugt, und dem sozialistischen Anwärter auf das Präsidentenamt, Premierminister Jospin, dem eben diese fehlt, entscheiden müssen.
Jospin haftet der Nimbus antiquierter wirtschaftspolitischer Vorstellungen an; die Einführung der 35-Stunden-Woche wird ihm als Fehler angekreidet. Die Ereignisse des 11. September haben ihn zudem um die eigentlich positive wirtschaftspolitische Bilanz seiner Regierung gebracht. Der Versuch seiner Regierung, die Ereignisse des 11. September als Anlass zu benutzen, Konjunkturbelebung wieder auf die europapolitische Agenda zu setzen und den Stabilitätspakt in Frage zu stellen,7 hat viel Kritik hervorgerufen. Die Zurückhaltung der französischen linken Regierung in der Frage des Afghanistan-Krieges und die Tatsache, dass Frankreich im internationalen Management der Afghanistan-Krise im Vergleich zu Großbritannien oder Deutschland nicht in der ersten Reihe stand, ist ein weiteres Indiz für ein gewisses Phlegma der politischen Führung.
Nation und Republik
Der „Leerlauf“ der Hauptakteure begünstigt die Rolle von Nebendarstellern. Einer von ihnen ist momentan mit Erfolg der Präsidentschaftskandidat Jean-Pierre Chevènement, dem die Umfragen derzeit 11% geben. Der ehemalige Verteidigungs- und Innnenminister nutzt in der Tat das europapolitische Vakuum, um mehr denn je die Rolle von Nation und Republik zu thematisieren.8 Mit feinsinnigem Gespür wittert er, dass Frankreich der Frage der notwendigen Föderalisierung eines erweiterten Europas nicht mehr lange ausweichen können wird. Der EU-Gipfel in Laeken hat dem europäischen Verfassungskonvent ein umfassendes und breites Mandat gegeben, das weit über die vier Fragen des „Post-Nizza-Prozesses“ hinausgeht. Zusammen mit anderen Staaten hatte Frankreich im Vorfeld das Mandat des Konvents eher begrenzen wollen, gleichzeitig aber zusammen mit Deutschland die Erklärung für eine europäische Verfassung verabschiedet. Es ist diese Ambivalenz, die Chevènement, der im übrigen „Republikaner“ von links und von rechts um sich sammelt, zugute kommt. Frankreich will und kann es sich nicht leisten, in der europäischen Verfassungsfrage als Zauderer und nicht an der Seite Deutschlands dazustehen. Aber der institutionelle Kompromiss mit Deutschland berührt das neuralgische Nervensystem der französischen Republik. Die von Deutschland geforderte Politisierung der EU, im wesentlichen durch die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament (EP), den Ausbau der Kommission zu einer europäischen Exekutive und einer Stärkung des EP steht der französischen Staatstradition diametral entgegen.
Wenn Frankreich in der EU eine Exekutive sieht, dann im Europäischen Rat. Die Akzeptanz föderal-parlamentarischer Institutionen für eine effiziente, erweiterte EU kommt mithin einer Selbstauflösung der Republik gleich. Chevènement legt seinen Wahlkampf-Finger genau in diese Wunde. Damit ist Frankreich aber gewissermaßen in einer „No-win-Situation“: Der Tatsache bewusst, dass seine Zukunft in Europa liegt, dieses Europa erweitert wird und sein eigener Einfluss in diesem Europa von einer strategischen Partnerschaft mit Deutschland abhängt, so ahnt es doch zugleich, dass ein erweitertes Europa notwendigerweise föderal sein muss. Historisch gesehen ist es das französische Dilemma, dass ein starkes Europa und Gleichheit sowie Partnerschaft mit einem europäischen Deutschland nur um den Preis der Akzeptanz von EU-Institutionen zu haben ist, die seiner eigenen politischen Kultur nicht entsprechen. Als „republikanischer Spiegel“ wird Chevènement er es allen anderen Kandidaten sehr schwer machen, das große Europa gemeinsam mit Deutschland zu konzipieren.
Raison d’être des Tandems
Das Tandem hat nicht nurden Beweis seiner Existenzberechtigung, sondern die größte historische Aufgabe in der europäischen Integration erst noch vor sich. Ohne deutsch-französischen Konsens kann und wird die Osterweiterung nicht gelingen, denn weder die Reform der Gemeinschaftspolitiken, noch der Aufbau effizienter Strukturen für das erweiterte Europa sind ohne oder gar gegen Frankreich möglich. Nur Deutschland kann Frankreich an Bord dieses politischen Gestaltungsprozesses holen.
Laut Außenminister Fischer ist es das historische Projekt Europas heute, Globalisierung zu gestalten. Und Frankreichs Europa-Minister Pierre Moscovici hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Europa, eine Macht in der Globalisierung“.9 Europa von der Friedenssicherung zur Globalisierungsgestaltung zu bringen – das ist die neue Aufgabe für das Tandem. An dieser Perspektive gemessen, sollten sich kleinliche Probleme in der Agrarpolitik und institutionelle Zwistigkeiten lösen lassen. Das Tandem hat nicht nur eine Existenzberechtigung; es ist, wie schon immer, zum Erfolg verpflichtet.
Anmerkungen
1 Vgl. die Dokumentation, S. XXX ff.
2 Vgl. dazu ausführlich Guérot, Nizza – ein unnötiges Psychodrama, in: Dokumente, 1/2001, S. 13–21.
3 Zur Erosion vgl. dies., Nach der Krise die „relance“?, in: Politische Studien, Nr. 376, März/ April 2001, S. 31–48, hier S. 34.
4 Vgl. dazu Arnaud Leparmentier, Qui osera dire non à l’élargissement?, in: Le Monde, 25./26. November 2001.
5 Vgl. die Dokumentation....
6 Vgl. Christian Weise et al., Reformbedarf bei den EU-Politiken im Zuge der Osterweiterung der EU. Studie für das Bundesministerium der Finanzen, Berlin und Göttingen, Mai 2001, sowie Barbara Lippert und Wolfgang Bode‚ Die Erweiterung und das EU-Budget – Reformoptionen und ihre politische Durchsetzbarkeit, in: integration, Heft 4/2001, S. 369–389.
7 Vgl. Jean-Paul Fitoussi, L’Europe: restaurer la confiance, in: Le Monde, 3.11.2001.
8 S. Jean-Pierre Chevènement, La démocratie en péril à Laeken, in: Le Monde, 14.12.2001.
9 Vgl. Pierre Moscovici, L’Europe, une puissance dans la mondialisation, Paris 2001.
Internationale Politik 1, Januar 2002, S. 33 - 38.