Las Vegas für Mullah-Müde
Armenien ist das Land nirgendwo, weder Orient noch Okzident, nicht mehr sowjetisch, noch nicht ganz westlich. Der älteste christliche Staat der Erde ist heute ein-gezwängt zwischen den islamischen Mittelmächten Türkei und Iran. Früher war er eingezwängt zwischen Rom und Persien, Byzanz und den Kalifen, den Zaren und den Ottomanen. Immer befand er sich an der Peripherie der großen Reiche, zuletzt der Sowjetunion, die ihre materiellen Spuren hinterlassen hat in Gestalt riesiger Industriebrachen, halb fertiger Plattenbausiedlungen, protziger Verwaltungsgebäude im „armenischen“ – sprich stalinistischen – Stil, einer überdimensionierten Statue der „Mutter Armenien“, die mit erhobenem Schwert auf die Hauptstadt Jerewan herabblickt, und der dampfenden Kühltürme des mitten in einem noch aktiven Erdbebengebiet erbauten Atomkraftwerks Metsamor.
Die bekanntesten immateriellen Spuren aus der Sowjetzeit sind die pathetischen armenischen Gedichte Ossip Mandelstams: „Ewig zu Asiens Silberposaunen hinfliegendes / Armenien, Armenien! / Persisches Sonnengeld freigebig hinschenkendes / Armenien, Armenien!“, und die ganz und gar nicht pathetischen Witze um Radio Eriwan (Jerewan), mit denen hinterlistig die bestehende Ordnung in Frage gestellt wurde. „Frage an Radio Eriwan: Kann es in Kanada auch den Sozialismus geben? Antwort: Im Prinzip ja, aber wer liefert uns dann den Weizen?“
Auch heute steht Armenien im Abseits: ein Land, das trotzig seine christliche Tradition betont und – wie mir ein Diplomat versicherte – langfristig in die Europäische Union strebt, dessen Nationalhelden der französisch-armenische Chansonnier Charles Aznavour und der ameri-kanisch-armenische Multimilliardär Kirk Kerkorian sind, das Soldaten in den Irak und nach Afghanistan schickte, dessen bester Freund in der Region aber der Iran ist. Strom zum Beispiel beziehen die Mullahs aus Metsamor. (Und bauten ihren eigenen Reaktor Buschehr auch in einem Erdbebengebiet.)
Die guten Beziehungen zwischen Jerewan und Teheran werden auch nicht dadurch gestört, dass Armenien mit seinem islamischen Nachbarn Aserbaidschan einen Krieg geführt, einen Teil Aserbaidschans – „urarmenisches Gebiet“ natürlich – besetzt und die muslimischen Bewohner zur Flucht veranlasst hat. Und auch nicht dadurch, dass Armenien mit seinem islamischen Nachbarn Türkei in Dauerspannung lebt.
Geopolitik ist auf beiden Seiten wichtiger als der „Kampf der Kulturen“. Armeniens Grenze zur Türkei – von Lenin ausgehandelt und laut Vertrag bis 2044 von den Russen bewacht – ist geschlossen, solange sich die Türken weigern, die Katastrophe von 1915/16, bei der 1,5 Millionen Armenier auf Veranlassung der Jungtürken getötet wurden, als Völkermord anzuerkennen. Die Grenze zu Aserbaidschan ist natürlich auch dicht. Georgien wird periodisch von Russland destabilisiert. So bleibt der Iran Armeniens einziger verlässlicher Handelspartner, und Armenien für den Iran ein wichtiges Durchgangsland auf dem Weg zu den georgischen Häfen am Schwarzen Meer.
Und nicht nur das. Armenien ist so etwas wie ein Ventil geworden für die frustrierten Bürger der sittenstrengen islamischen Republik. Nicht nur Atomreaktoren können bei Überdruck explodieren. Zu den hohen is-lamischen Festtagen kommen Hunderttausende Iraner ins christliche Armenien. Sie haben die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion daniederliegende armenische Touris-musindustrie gerettet, auch wenn sich viele Armenier beschweren, dass die Iraner sich nicht in Hotels einmieten, sondern in ihren Kleinbussen und Autos übernachten, in den Parks ihre Grills aufbauen und überhaupt alles vollmüllen.
Das Ziel dieser Besucher ist nicht die schöne iranische Moschee in Jerewan, ein Relikt der Jahrhunderte persischer Oberherrschaft. Eher wollen sie „Las Vegas“ besuchen, die Casino-Meile entlang der Straße zum Flughafen, die allerdings in erster Linie zum Abzocken russischer Neureicher gebaut wurde. Taxifahrer bringen die Spielwütigen umsonst hin (den Fahrpreis zahlen die Casinobesitzer), die Rückfahrt müssen die Ausgenommenen selber zahlen – oder laufen.
Allabendlich flanieren die schönen armenischen Mädchen auf dem Republikplatz, wo wie zu Sowjetzeiten die ferngesteuerten und illuminierten Springbrunnen ein Wasserballett zu Aram Chatschaturians „Säbeltanz“ aufführen, und entzünden sicherlich – wie ein deutscher Reiseführer missbilligend bemerkt – „durch besonders auffallende, moderne und aufreizende Kleidung und vorgetäuscht freizügiges Verhalten“ zusammen mit dem hier frei erhältlichen Alkohol die Fantasie so mancher Männer, die in Teheran froh sein können, wenn ein verrutschtes Kopftuch den Blick auf eine unzüchtige Haarsträhne freigibt. Dass ausgerechnet Jerewan zum Sehnsuchtsort der „persisches Sonnengeld freigebig hinschenkenden“ Unterdrückten würde – wer hätte das gedacht? Apropos: Warum gibt es eigentlich keine Fragen an Radio Teheran?
ALAN POSENER ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt am Sonntag.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 128-129