Kriegsenden, Kriegsdenken
Der Bürger als Krieger und das geteilte Gedächtnis Europas
Victor Davis Hanson trägt Präsident Bush seine Vision des Bürgers als Krieger vor; das geteilte Gedächtnis Europas belastet die Beziehungen in der EU
Wer kennt Victor Davis Hanson? Mit dieser Frage kann man die Spreu vom Weizen unter den Amerika-Experten trennen. Auch wer Verteidigungsminister Donald Rumsfeld für einen Neocon hält, oder wer meint, die amerikanischen Neokonservativen würden ein religiöses, gar christlich-fundamentalistisches Programm verfolgen, der hat sich mit dieser Demonstration mangelnder Sachkenntnis schon selbst entzaubert.
Victor Davis Hanson hilft zu verstehen, wie das heutige Amerika den Krieg denkt. Dabei ist Hanson alles andere als Mainstream. Seine Positionen sind häufig in der intellektuellen Szene isoliert, und selbst unter seine konservativen Freunde lässt er sich nicht klar einordnen. Und dennoch wurzelt Hansons Denken mitten in Amerika. Es ist noch nicht lange her, dass Präsident Bush fünf Denker zum großen Ratschlag einbestellte: John Lewis Gaddis, Elliott Abrams, Fouad Ajami, Charles Krauthammer – und Hanson. Wie geriet der kalifornische Farmer und Kriegshistoriker in diese illustre und politisch einflussreiche Runde? Ein Hanson-Porträt von Jonathan Kay im Weekly Standard vom 14. März verschafft Aufklärung.
Hanson hat in Stanford studiert, wurde mit 26 promoviert und zog sich dann auf die Farm seiner Familie zurück. Nach einigen Jahren, als es gerade wieder einmal nicht besonders gut lief, stellte sich Hanson an der nächsten Universität vor, in Fresno. Es gelang ihm, dort ein altertumswissenschaftliches Institut aufzubauen und den mexikanischen Einwandererkindern die Antike nahe zu bringen. Die ganze Zeit über bestellte er weiter seine Farm. Erst seit seiner Emeritierung tritt er landwirtschaftlich etwas kürzer. Als Fellow der Hoover Institution in Stanford schreibt er politische Artikel, etwa als Kolumnist der konservativen National Review, aber weiterhin auch Bücher. Einige seiner Werke zur antiken Kriegführung haben große Anerkennung gefunden. Hansons politisches Engagement leitet sich unmittelbar aus seiner Farmerbiographie und aus seinen althistorischen Forschungen ab. Im Mittelpunkt eines Denkens steht der „citizen-soldier“, der Bürger als Krieger. Die militärische Überlegenheit des Westens hängt für ihn mit dem freien Kampf freier Bürger zusammen. Das Fundament der athenischen Demokratie sieht er in den freien Bürgerbauern, die sich für ihr Gemeinwesen bei politischen Abstimmungen wie im Kampf einsetzten. Weil sie schnell zurück wollten, um wieder ihre Felder zu bestellen, suchten sie schnelle Entscheidungsschlachten. Amerika heute gehe es nicht anders. Auch hier verteidigt Hanson die ländliche Grundlage der Demokratie. Lobgesänge auf den unbeschränkten Kapitalismus sind ihm fremd – für die Schwächeren in der Gesellschaft, die auf dem Markt nicht bestehen könnten, müsse man sorgen. Nur der Bürger, der für sein Eigentum kämpft, sichere auf Dauer das Überleben der Demokratik, lautet seine feste Überzeugung.
Mit den Großprojekten der Neocons verband Hanson anfangs wenig. Doch nach dem 11. September ist er zu einem der unerschütterlichsten intellektuellen Unterstützer Bushs geworden. Im Commentary vom Februar erklärt er, Amerika habe durch den Irak-Krieg einen strategischen Vorteil errungen, weil die Entschlossenheit Amerikas allen Feinden deutlich geworden sei. Nachdrücklich ruft Hanson dazu auf, so lange im Land zu bleiben, bis das Ziel einer demokratischen Regierung erreicht ist – denn nichts würden Amerikas Feinde mehr fürchten. Unserem postheroischen Zeitalter sei unbegreiflich, dass Krieg nicht ohne Blutvergießen zu führen sei, aber am Ende siege, wer weniger Fehler begeht, so erklärt er häufig, etwa in der New Republic vom 14. Februar. Die Gefahren des „postmodernen Krieges“ erörtert Hanson im City Journal vom 13. Januar. Ohne den unbedingten Willen zum Sieg, ohne die Bereitschaft, den Feind völlig zu vernichten und ihm damit die Chance zu nehmen, seine Feindseligkeit fortzuführen, ist Krieg sinnlos. Deutlich ist seine Skepsis zu spüren, ob die amerikanische „postmoderne“ Gesellschaft diesen Widerspruch auf Dauer aushalten kann. Ein „schreckliches Dilemma“, wie Hanson zugibt, aber: Der Weg zum Frieden führe über die Vernichtung, die Erniedrigung. Der Feind muss seine umfassende Niederlage anerkennen.
Aus diesem Grund preist Hanson Präsident Bush. Er vergleicht ihn mit Epaminondas, dem thebanischen Feldherrn, der die Sicherheit seiner Heimat gewann, indem er den Kampf zu den Feinden trug: Um die Gefahr, die von Sparta für die Stabilität Griechenlands ausging, ein für allemal zu beseitigen, unternahm er einen großen „Demokratisierungsfeldzug“. Die Heloten, unfreie Untertanen Spartas, von deren Ausbeutung Sparta lebte, wurden befreit, und von Sparta ging niemals mehr Gefahr für den Frieden aus. Ob man die National Review vom 1. April, 11. Februar oder 21. Januar oder den American Enterprise vom 14. April oder 21. März liest, immer kehrt dieses Motiv wieder.
Hanson erklärt die neokonservative Strategie der Demokratisierung des Nahen Ostens zur einzig verbliebenen Möglichkeit, nachdem alle anderen politischen Ansätze seit Jahrzehnten gescheitert sind. Er geißelt die Unterstützung von vermeintlich stabilisierenden Diktaturen in Vergangenheit wie Gegenwart genauso wie die Energiepolitik der USA. Er will die Abhängigkeit vom Erdöl beenden, durch Nutzung von alternativen Energien und Kernenergie, um den Mittleren Osten vom Fluch des Öls zu befreien. Hanson ist der radikalste aller Demokratisierer, die sich derzeit in der amerikanischen Debatte tummeln. Gleichzeitig ist er kein blind Gläubiger. Dass auch Demokratien gegeneinander Krieg führen können, weiß er als Historiker Griechenlands nur zu gut. Doch es ist für ihn die beste Option, die es gibt.
Zur größten Tugend erklärt er Selbstkritik. Seit die Athener die Demokratie erfanden, gehört die offene Debatte zu den Stärken des Westens, auch wenn diese Offenheit kurzfristig schwächen kann. Und die wichtigste Lektion aus der Antike ist für ihn der Sinn für das Tragische: Wir müssten ernst und erwachsen werden, Verantwortung übernehmen. Und das heißt für ihn auch: einen Krieg bis zum totalen Sieg führen, selbst wenn der Preis dafür hoch ist.
Das Modell des erfolgreichen Krieges, das Hanson immer wieder beschwört, ist neben Beispielen aus der Antike der Zweite Weltkrieg. Der Feind wurde völlig niedergeworfen, der Wille zum Sieg bis zum äußersten demonstriert, Amerikas Macht stand außer Frage, der Neuaufbau der Gesellschaft konnte von Grund auf beginnen. Die Lektionen aus den Schrecken dieses Krieges und des 20. Jahrhunderts insgesamt, nicht nur in militärischer Hinsicht, wurden kürzlich am Einsteinforum in Potsdam erkundet.
Das Erbe von Nationalsozialismus und Kommunismus überschattet nach wie vor die politischen Kulturen Europas und Amerikas. Es ist kaum möglich, die Gesellschaften und ihr Verhalten auf der internationalen Bühne zu verstehen, ohne ihre Vergangenheiten zu kennen. Für Deutschlands Verhältnis zum Nationalsozialismus mag das schon lange einleuchtend sein. Aber noch immer klafft ein schwarzes Loch, wo es um die Geschichte der anderen mörderischen Ideologie, des Kommunismus, in Ostmitteleuropa und Russland geht. Europas Gedächtnis ist geteilt. Für eine EU, die sich nach Osten erweitert hat und nach ihrer Identität sucht, ist das eine Frage von lebenswichtiger Bedeutung.
Susan Neiman drückte die Unterschiede westlicher Wahrnehmung so aus: Mit einem Stalinisten würde man sich im Café zusammensetzen und über seine Vergangenheit reden, mit einem Nazi nicht. Warum? Zum Unterschied von Nationalsozialismus und Kommunismus – wobei immer wieder deutlich wurde, dass sich der direkte Vergleich zumeist nur auf den Stalinismus bezieht – erklärte sie: Nazis wie Stalinisten glaubten, ihre Ziele seien gut; der Unterschied bestehe darin, dass Stalins Henker tatsächlich ein gutes Ziel verfolgten, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber auf dem Weg dorthin Verbrechen begingen.
Die Entgegnung formulierte nicht als einziger, aber am schärfsten Vladimir Tismaneanu von der University of Maryland: Wir müssten nicht nur das absolut Böse, sondern auch das absolut Gute fürchten. Auf die Intentionen der Täter komme es überhaupt nicht an. Das Ergebnis sei das Entscheidende: Millionen von Toten durch beide Terrorsysteme. Es unterblieb auch nicht der Hinweis darauf, dass den weltweiten Verbrechen des Kommunismus – Maos China oder Pol Pots Kambodscha eingeschlossen – mehr Menschen zum Opfer fielen als Hitlers Herrschaft, selbst wenn man nicht nur die Opfer deutscher Völker und Massenmorde, sondern alle Toten des Zweiten Weltkriegs dem Nationalsozialismus zurechnet.
Das Grundproblem skizzierte Tony Judt. Nach dem Ende des Kalten Krieges verschoben sich die geschichtspolitischen Koordinaten. Der kommunistische Feind war verschwunden. Die Anerkennung des Holocaust als schlimmstes Menschheitsverbrechen wurde zum „entrée-billet“ nach Europa. Eine Mitgliedschaft in der EU ist seitdem ohne diesen Nachweis undenkbar, die Aussöhnungspolitik des polnischen Präsidenten Kwasniewski mit den polnischen Juden und mit Israel steht als Beispiel dafür. Doch auch der Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus wurde auf diese Weise unvermeidlich. Denn die neuen Mitglieder Europas brachten auch ihre Leidenserfahrung unter kommunistischer und – wie im Falle Polens oder der Ukraine – zugleich nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in die Gemeinschaft ein.
Judt betonte die Gemeinsamkeiten der terroristischen Systeme, bis in die Sozialpolitik hinein, aber auch er erkannte in der Intention ein Kriterium: Mit Raymond Aron unterschied er zwischen einem Regime, das das Böse für seine Ziele verfolgt, und einem Regime, das das Böse selbst zum Ziel hat. Als empirische Differenz nannte er, dass den stalinistischen Massenmorden keine so klar definierte Gruppe wie die Juden so umfassend zum Opfer fiel. Der bolschewistische Terror war anfangs berechenbar. Unter Stalin konnte es willkürlich jeden treffen, der „falsch denkt oder denken könnte.“
Von der Geschichte kam Judt zurück zur aktuellen Geschichtspolitik. Als Reaktion auf den Holocaust habe sich eine Rhetorik der Menschenrechte entwickelt und weltweit ausgebreitet. Im Mittelpunkt stehen hier Opfer, Individuen, verletzte Rechte. Wenn es aber nur um die Rechtsverletzung geht, werden die Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsverletzungen eingeebnet. Wenn jeder Opfer ist, gibt es keine Täter mehr. Damit erspart man sich auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in die Untaten – besonders in Osteuropa sei es leicht gewesen, Opfer und Täter in einem zu sein, so auch Dariusz Stola aus Warschau. Der Unwille des Westens, mehr über die östliche Leidensgeschichte zu erfahren, ist genauso zu beklagen wie die falsche Erinnerung in Osteuropa: In Russland etwa gibt es nicht nur die liberale Erinnerungspolitik von Memorial, sondern auch die nationalistischen Exzesse von Pamyat. Es spricht für sich, dass die Forschung in russischen Archiven immer noch eingeschränkt ist und man in Russland, anders als in Ostmitteleuropa, vergeblich nach Gedenkstätten für die Opfer des Kommunismus sucht.
Den umfassenden Vergleich von Stalinismus und Nationalsozialismus wagte als einziger Norman Naimark aus Stanford. Seine Frage traf den Kern der europäisch-atlantischen Erinnerungspolitik: Waren beide Regimes „genozidal“? Und war Völkermord systemimmanent oder von historischen Konstellationen bestimmt? Naiman fügte dem Völkermordbegriff der UN Konvention politische und soziale Gruppen hinzu und kam zu dem Schluss: Beide Regimes verübten Völkermorde. Sie taten dies, weil es ihrer Ideologie und dem Willen ihrer Führer entsprach. Beide waren in zweifacher Hinsicht revolutionär – zuerst gegen die alte Ordnung, dann für eine neue Gesellschaft; erst die zweite Revolution führte zum Völkermord, weil in ihrem Gefolge die Repressionsapparate ausgebaut wurden und die Ideologie sich radikalisierte. Die großen Pläne der beiden kalkulierten den Tod von Millionen Menschen ein. Schon der „Generalplan Ost“ mit seiner Neuordnung des „deutschen Lebensraums“ bedeutete faktisch den Völkermord. Stalin fielen nach den genauesten vorliegenden Zahlen fünf Millionen Ukrainer durch gezielt ausgelöste Hungersnöte und Zehntausende durch den „Großen Terror“ zum Opfer, mehr als eine Million wurden in Lager verschleppt. Außerdem sind die „nationalen Aktionen“ gegen Polen oder Tschetschenen zu nennen, die direkt oder indirekt zum Tod von Hunderttausenden führten. In Stalins wie Hitlers System war Völkermord eine zwangsläufige Konsequenz, doch ohne die beiden Führer, so meinte Naimark, hätte es zwar Verbrechen und Massaker, aber nicht die gewaltigen Völkermorde gegeben.
Mit Naimarks klarem Plädoyer, als Gedankenexperiment vorgetragen und heftig erörtert, rückt ein gemeinsames Gedächtnis Europas in den Bereich des Möglichen. Spannend bleibt, ob es sich durchsetzen oder ob es an mangelnder wissenschaftlicher Differenzierung oder politischen Widerständen scheitern wird.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 122 - 125.