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01. März 2015

Krieg in unserer Zeit?

Im Ukraine-Konflikt ist nur eines klar: Einfache Antworten gibt es nicht

Ist es klug, eine militärische Lösung auszuschließen, wenn der Gegenspieler diese Lösung energisch betreibt? Vielleicht schon. Doch wer die militärische Option ablehnt, muss alles tun, um die Gewalt in der Ostukraine mit diplomatischen und anderen Mitteln zu beenden. Und dazu gehörte, wesentlich mehr Aufbauhilfe für die Ukraine zu leisten.

In der Krise schlägt die Stunde der schrecklichen Vereinfacher, der großen wie der kleinen. Weil sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen Waffenlieferungen an Kiew aussprach, warf ihr US-Senator John McCain vor, entweder wisse sie nichts vom Leid der Ukrainer oder es sei ihr gleichgültig. Damit hat er sich nicht nur schwer im Ton vergriffen, er irrte auch. Niemand unter den Europäern hat sich mehr abgemüht, Moskau zur Vernunft zu bringen und eine Katastrophe zu verhindern.

Eine alte Bekannte, eine Menschenrechtsanwältin vom Balkan, warf mir kürzlich vor, ich hätte nicht genügend Angst vor einem Krieg mit Russland. Auch sie müsste es besser wissen. Die Angst vor Krieg ist Teil der europäischen DNA. Für eine Deutsche, die im Nachkriegsfrieden geboren wurde, ist sie untrennbar von Gefühlen der Scham, Trauer und Verantwortung. Dann sind da die Erinnerungen eines Reporterlebens: der Hauch der Verwesung, der durch den Duft nächtlicher Holzfeuer in Kigali wehte, die mutwillige Zerstörung verlassener Bauernhöfe in Bosnien, die ledrigen Überreste äthiopischer Soldaten, die von eritreischen Scharfschützen erschossen worden waren, oder die bleichen, traumatisierten Kinder von Afghanistan.

Tatsächlich ist der Krieg schon nach Europa zurückgekehrt. Der zweite Minsker Waffenstillstand soll der Gewalt Einhalt gebieten. Aber die Erfahrung lehrt uns, dass die Pause kurz sein könnte. Und er entlässt uns nicht aus einem grundsätzlichen Dilemma: Was führt nach menschlichem Ermessen zu größerem Leid: die Ukrainer zu bewaffnen oder sie nicht zu bewaffnen?

Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten. Wir stehen vor einer tragischen Wahl – eine, bei der alle Optionen schlecht sind und wir nur über unvollkommenes Wissen verfügen. Und dennoch entscheiden müssen. Umso mehr sollten wir uns hüten vor simplen Dichotomien wie „Waffen oder Appeasement“ oder „Verhandeln oder Öl ins Feuer gießen“.

An der Tatsache, dass die Ukraine ein Opfer russischer Aggression ist, besteht kein Zweifel. Das Nationalgefühl der Ukrainer scheint das nur gestärkt zu haben – und ihre Entschlossenheit, den Weg nach Europa und dem Westen anzutreten, allen tiefen Verbindungen des Landes zu Russland zum Trotz. Allerdings werden die Legitimität und die fragile Staatlichkeit der Ukraine durch Oligarchen infrage gestellt, die sich wie Warlords aufführen und sogar Privatarmeen unterhalten. Alle diese Verbände müssen in Uniformen der ukrainischen Armee gesteckt und ihrem Kommando unterstellt werden. Großzügige Zusagen eben jener Oligarchen, in einen ukrainischen Fonds zum nationalen Wiederaufbau einzuzahlen, würden westliche Geber sicher zu größerer Freigebigkeit animieren.

Russland verfügt, wie die Realisten uns unermüdlich erinnern, über „Eskalationsdominanz“ – oder, in schlichtem Deutsch: Es kann die Ukraine gefügig schießen und den Westen nötigen, dabei tatenlos zuzusehen. Wir haben auch keinen Grund anzunehmen, dass es damit sein Bewenden haben würde. Aber glaubt die Moskauer Führung allen Ernstes, dass es ihr Macht und Respekt verschaffen wird, wenn sie die Ukraine und danach womöglich die anderen Staaten der Region zurück in das Schattenreich einer „ausschließlichen Interessensphäre“ von Russland zerrt? Statt die verlorene Größe Russlands wiederherzustellen, wird dies seine Beziehungen zum Westen vergiften und es zum Paria machen – verhasst und bekämpft von denen, die es erobert hat, von den anderen gefürchtet und verachtet. Was wir zu fürchten haben, ist nicht Russlands Stärke, sondern seine Schwäche; nicht seine Fähigkeit zu erobern, sondern seine Unfähigkeit, Kompromisse einzugehen; nicht seinen imperialen Größenwahn, sondern seine sich abzeichnende Unfähigkeit, das Wohlergehen seiner Bürger sicherzustellen.

Zerfall oder Vorbild

Die USA sehen sich nach wie vor zu globaler Führungsverantwortung bestimmt. Doch im Fall der Ukraine hat die Regierung von US-Präsident Barack Obama, die eng und konstruktiv mit Europa und Deutschland zusammenarbeitet, ihnen klugerweise die Initiative größtenteils überlassen. Trotz der militanten Rufe aus dem Kongress wägt das Weiße Haus weiterhin die Argumente für und wider Waffenlieferungen nach Kiew ab. Mit gutem Grund: Wann immer sich die Amerikaner in der Vergangenheit entschlossen, einen Stellvertreterkrieg zu führen, wurden sie am Ende doch stets direkte Kriegspartei, was sie oft teuer zu stehen kam und andere allzuoft noch teurer. Wie weit ist Amerika dieses Mal zu gehen bereit, wird es Kurs halten können? Wenn den USA die Ukraine am Herzen liegt (will sagen: wenn es nicht nur darum geht, Russland in die Schranken zu weisen), warum investieren sie dann nicht viel mehr in demokratische Reformen? Warum tun sie dann nicht mehr, um der wachsenden humanitären Krise zu begegnen?

Diese Fragen gehen allerdings erst recht an Europa, denn wir haben die größere Verantwortung, und für uns geht es um ungleich mehr als für die USA. Die amerikanische Adlerperspektive – von der aus die Ukraine für „strategisch irrelevant“ erklärt werden kann, aus der heraus Washington sich aussuchen kann, bei welchen Themen eine Zusammenarbeit mit Russland infrage kommt, oder gleich ganz nach China abdrehen kann – sie ist ein Luxus, den sich die erdgebundenen Bewohner des Kontinents nicht leisten können.

Gewiss, die Ukraine ist ein in jeder Hinsicht schwerer Fall. Aber ihre Institutionen sind demokratisch gewählt, ihre Zivilgesellschaft will die eigene Zukunft selbst bestimmen, und das Land grenzt an vier EU-Mitgliedstaaten – das sind alles überwältigende Gründe, es zu unterstützen. Ein zerfallender Staat an unseren Grenzen würde die gesamte Nachbarschaft von Weißrussland bis zum Kaukasus destabilisieren und könnte sich zu einer Gefahr für ganz Europa auswachsen. Eine Ukraine, die sich dagegen am Modell der demokratischen Verwandlung Polens orientiert, könnte eine gewaltige Strahlkraft entwickeln – bis hinein nach Russland. Das ist es auch, wovor Wladimir Putin und seinesgleichen am meisten Angst haben müssen. Denn warum sollte nicht auch Russland das können, was Polen gelungen ist und was die Ukraine will?

Bis zu dieser besten möglichen Entwicklung würden allerdings Jahrzehnte vergehen. Einstweilen teilt sich Europa einen Kontinent mit Russland. Wenn Moskau seine Nachbarn, die auch unsere sind, erpresst, bedroht und mit Gewalt überzieht, geht uns das etwas an; es muss uns empören, aber es beeinträchtigt auch unsere Interessen. Indes kann es uns auch nicht gleichgültig sein, was in Russland und vor allem mit seiner Gesellschaft geschieht.

Korrupte Eliten, eine marode Wirtschaft, Repression von Andersdenkenden und als ideologische Fototapete ein zynisch-verquaster Ethnonationalismus, demzufolge in Europa überall atheistische, schwule und dekadente Faschisten am Werk sind: Mehr hat der ehemalige KGB-Oberstleutnant Putin seinem Land nicht zu bieten. Auch wenn in Umfragen sich noch immer Mehrheiten für den Kurs ihrer Regierung aussprechen, die zunehmende Flucht des Kapitals und der russischen Mittelklasse ins Ausland spricht für sich. Russland wird auf absehbare Zeit ein Quell von Unsicherheit für den gesamten Kontinent sein. Der Umgang mit Moskau mag Europa noch viel Mut abverlangen – aber auch Besonnenheit bleibt eine strategische Notwendigkeit.

Viel getan und doch zu wenig

Berlin liegt im Auge des Sturms, der sich über Europa zusammenbraut. Die Anspannung und das Gefühl von Dringlichkeit sind hier mit Händen zu greifen. Wie schon beim Ringen mit der Drohung eines griechischen Austritts aus dem Euro, bei den Handelsverhandlungen mit den USA und der nach wie vor schwelenden Staatsschuldenkrise ist Deutschland auch beim Schulterschluss gegen Russland die entscheidende Schlüsselmacht in Europa – nicht zuletzt, weil es das am wenigsten verwundbare Glied in der Kette ist. Doch dieser Konflikt ist die größte Bedrohung der europäischen Sicherheitsordnung und des europäischen Projekts seit dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion.

Sich unter diesen Umständen Russland entgegenzustellen, ist – und das könnten auch der Senator und seine Kollegen würdigen – schon an sich ein erheblicher Kraftakt. Sanktionen gegen Russland schaden auch Europa, und zwar deutlich mehr als den USA. Sollten die USA die Ukraine aufrüsten (und „defensive Waffen“ werden kaum reichen, das militärische Gleichgewicht zugunsten von Kiew zu verändern), wird Europa die Folgen dieser Entscheidung spüren, lange bevor man auf der anderen Seite des Atlantiks etwas davon mitbekommt. Bundeskanzlerin Merkel hat recht damit, dass Europa gewinnen wird, wenn es auf lange Sicht spielt – aber nur, wenn wir nicht die Nerven verlieren.

Und doch … bislang ist nichts zu erkennen, das Berlins Überzeugung stützt, der Ukraine-Konflikt könne sich „einfrieren“ lassen – oder die Hoffnung euroatlantischer Realisten, ein neues Machtgleichgewicht auf dem eurasischen Kontinent sei auf dem Verhandlungsweg zu erreichen. Weder die EU noch Berlin unternehmen echte Anstrengungen, um den Wandel der Ukraine hin zu einer pluralistischen Demokratie zu befördern. Unterdessen sterben weiter Soldaten und Zivilisten; nach in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zitierten Schätzungen aus „Sicherheitskreisen“ sind es bereits 50 000 Tote, zehn Mal mehr als die offiziellen Zahlen der UN. Mehr als eine Million Ukrainer sind auf der Flucht.

Wie viel Leid kann Europa vor seiner Tür im Namen „strategischer Geduld“ ertragen? Ist es klug, eine „militärische Lösung“ auszuschließen, wenn wir es mit einem Gegenspieler zu tun haben, der genau diese militärische Lösung mit allen Mitteln betreibt? Können wir es verantworten, schweigend beiseite zu stehen, falls die Amerikaner doch Waffen liefern? Wäre es nicht besser, gemeinsam mit ihnen zu entscheiden und zu handeln, und der Ukraine wenigstens Aufklärungsmittel oder Ausbilder zur Seite zu stellen? Und wollen wir ausschließen, dass wir nicht einmal bereit wären, einen Waffenstillstand oder humanitäre Hilfsleistungen mit Friedenstruppen zu schützen? Eines ist jedenfalls sicher: Wer die militärische Option ablehnt, trägt die Beweislast, dass er alles leistet, um die Gewalt mit anderen Mitteln zu beenden.

Wir Europäer haben den Segen eines langen Friedens genossen. Wenn wir Russland nicht mit militärischen Mitteln bremsen wollen, müssen wir alles andere tun, um es davon abzuhalten, die Ukraine zu zerlegen. Scheitern wir, müssen wir womöglich am Ende doch kämpfen. Vor diesem Ausgang sollten wir wirklich Angst haben.

Dr. Constanze Stelzenmüller ist Robert Bosch Senior Fellow bei der Brookings Institution in Washington, DC.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 44-47

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