Kreuz des Südens
Das Jahr der Wende für den Sudan – Neubeginn oder Chaos?
Nach jahrelangen Verhandlungen wurde endlich ein Friedensvertrag zwischen Khartum und den südsudanesischen Aufständischen unterzeichnet. Nun sollen Millionen in den Aufbau des „Neuen Sudan“ im Süden fließen. Damit ist das von ethnischen Konflikten zerrissene Land noch lange nicht befriedet. Denn die Wurzel des Übels muss erst noch beseitigt werden: die ungerechte Verteilung von Macht und Wohlstand.
Es klingt wie eine Utopie: Wir gründen einen neuen Staat in einem weitläufigen, fruchtbaren Land, in dem fast keine Infrastruktur existiert. Es stehen Milliarden zur Verfügung und moderne Technologie. In den Tiefen der Erde verbergen sich gewaltige Ölvorkommen. Experten aus aller Welt strömen in das Land, um beim Bau von Schulen, Krankenhäusern und Straßen zu helfen. Andere geben guten Rat für den Aufbau einer effizienten Verwaltung und eines Rechtssystems. Die Bevölkerung ist jung und motiviert. Was für eine Chance!
Diesen Staat soll es in spätestens sechs Jahren geben, und er soll den Namen „Neuer Sudan“ tragen. Das ist zumindest die Hoffnung vieler Sudanesen, die im Süden des riesigen Landes leben. Der Südsudan hat mehr als zwei Jahrzehnte Bürgerkrieg hinter sich, auch wenn auf den ersten Blick davon nicht viel zu sehen ist. Der Krieg hinterließ wenig Ruinen. Es war kaum etwas da, was zerstört werden konnte. Aber der Krieg verhinderte jede Entwicklung.
Eine Reise in den Südsudan gleicht einer Zeitreise in die Vergangenheit. Dörfer aus runden Lehmhütten mit Strohdächern ducken sich unter gewaltigen tropischen Bäumen. Auf rötlichen Lehmwegen, die sich während der Regenzeit in unpassierbare Schlammrinnen verwandeln, schlendern die Menschen zu Fuß. Einige haben Fahrräder, Autos sind kaum zu sehen. Viele Frauen, oft mit dem jüngsten Kind auf dem Rücken, tragen Kanister mit Wasser auf dem Kopf, das sie vom Fluss holen müssen. Abends leuchten in den Hütten Petroleumlampen. Strom haben nur die Reichen, die sich einen Generator leisten können.
Die Generation der 20-Jährigen hat nie etwas anderes als den Kriegszustand kennen gelernt. „Ich war 15, als ich zur SPLM (Sudanesische Volks-befreiungsbewegung) kam“, erzählt Moses Majong aus Rumbek. „Ich hütete am Dorfrand die Rinder meines Vaters, als eine Gruppe Bewaffneter vorbeikam und mich einfach mitnahm.“ Moses kam zunächst in ein Ausbildungslager, musste Gräben ausheben und Bambus schneiden. Später zeigten sie ihm, wie man eine Waffe bedient.
Seine Einheit griff eine Stellung der Regierungsarmee an. „Nach drei Tagen konnten wir den Ort besetzen, aber dann wurden wir von der Armee und einer arabischen Miliz eingekesselt und auch noch aus der Luft bombardiert“, erzählt er. „Von elf Mann haben wir sieben verloren.“ Als der Krieg endete, war Moses erwachsen. Er hatte weder lesen noch schreiben gelernt.
Der Krieg zwischen Nord und Süd im größten Flächenland Afrikas hatte viele Gründe. Er flammte 1983 auf, als die islamistische Regierung die Scharia, die islamische Rechtsprechung, auch im christlich und animistisch geprägten Süden einführen wollte. John Garang, der aus einem winzigen Dorf im Südsudan stammt, hatte zu dieser Zeit gerade seine Promotion in den USA abgeschlossen. Anstatt seine Karriere als Wirtschaftswissenschaftler weiter zu verfolgen, stellte sich Garang an die Spitze der Rebellenbewegung in seiner Heimat.
Die Islamisten in Khartum schickten Kampfflugzeuge und hetzten lokale Stammesmilizen auf. Der Konflikt verschärfte sich, als sich herausstellte, dass es im Südsudan beachtliche Ölvorkommen gibt. Von da an ging es dem Süden nicht nur um die Abwehr der Scharia, sondern auch um die Verteidigung der eigenen Bodenschätze.
Neuer Staat, alte Probleme
Nach jahrelangen Verhandlungen unter kenianischer Vermittlung unterzeichneten Regierung und SPLM im Januar 2005 schließlich ein Friedensabkommen. Darin wird dem Südsudan zugesichert, dass die Bevölkerung nicht dem im übrigen Sudan geltenden islamischen Recht unterworfen ist. Die Öleinnahmen sollen zu gleichen Teilen nach Khartum und an den Süden gehen. Vor allem aber hat der Süden das Recht auf weitgehende Selbstbestimmung. Er darf eine eigene Regierung bilden und eine eigene Armee haben.
Nach sechs Jahren soll die Bevölkerung in einer Volksabstimmung entscheiden, ob der Süden sich ganz von Khartum löst. Das hieße die Teilung des größten Flächenstaats des Kontinents und die Gründung eines neuen afrikanischen Staates – das erste Mal seit der Abspaltung Eritreas von Äthiopien 1993. Eine neue UN-Mission soll mit bis zu 10 000 Mann die Umsetzung des Friedensabkommens überwachen. Die Bundeswehr ist daran mit maximal 75 Soldaten beteiligt.
Für die Übergangszeit hat das Parlament in Khartum Anfang Juli eine Verfassung verabschiedet, die die neue Freiheit für nichtmuslimische Sudanesen festschreibt. Auch der Passus, nach dem das Staatsoberhaupt des Sudans Muslim sein muss, wurde gestrichen. Dem promovierten Rebellenchef Garang fiel dem Friedensvertrag gemäß nicht nur das Amt des Regierungschefs für den Süden, sondern auch das des Vizepräsidenten in der gesamtsudanesischen Regierung zu. Es dürfte ihm besondere Genugtuung bereiten, dass er damit den Job seines langjährigen Verhandlungspartners Ali Osman Taha übernimmt.
Doch trotz der „Allahu akbar“- und „Halleluja“-Rufe bei der Unterzeichnung des Friedensvertrags im Januar in Nairobi gibt es zahlreiche schwelende Konfliktherde. John Garang ist einer davon. Der Friedensvertrag mit der Regierung trägt seine Unterschrift – aber er ist keineswegs der alleinige Repräsentant des gesamten Südens. Mehrere Milizen, die sich von der SPLM abgespalten haben und mehr oder weniger der Regierung nahe stehen, sind im Süden weiterhin aktiv.
Auch innerhalb der SPLM gibt es Probleme. Viele nehmen es Garang übel, dass er versucht, alle Schlüsselpositionen selbst zu besetzen. Es wird ihm nachgesagt, dass er das Ziel eines unabhängigen Südens längst aufgegeben habe und gesamtsudanesische Ambitionen verfolge. Wer weiß, ob er nicht davon träumt, der erste nicht-muslimische Präsident des Sudan zu werden? „Dafür haben wir nicht gekämpft“, sagt ein alter SPLM-Kämpfer in Rumbek. „Wenn Garang die Unabhängigkeit nicht mehr will, dann erkämpfen wir sie uns zur Not auch ohne ihn.“
In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Situation im Südsudan längst vom wesentlich jüngeren Konflikt in der westsudanesischen Region Darfur überlagert. Obwohl es zwischen beiden Konflikten fundamentale Unterschiede gibt, hängen sie dennoch eng zusammen: Der jüngere flammte auf, als sich im älteren eine Lösung abzeichnete, und das aus gutem Grund.
Letztlich besteht das Problem im Sudan, der etwa sieben Mal so groß ist wie Deutschland, in der Verteilung von Macht und Wohlstand zwischen der Zentrale und den abgelegenen Regionen. Im Süden war das Missverhältnis besonders krass, da zunächst nur der Norden von den beträchtlichen Öleinkünften profitierte. Als die Regierung sich nun in den Friedensverhandlungen darauf einließ, diesen Wohlstand zu teilen, kamen auch in Darfur politisch Unzufriedene auf den Gedanken, sich ihren Anteil am Reichtum des Landes zu erkämpfen.
Zwei Rebellengruppen, die SLA (Sudanesische Befreiungsarmee) und JEM (Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung), begannen Anfang 2003 Stellungen der Regierungsarmee massiv anzugreifen. Khartum reagierte nach dem im Süden bereits erprobten Muster. Die Regierung heizte seit langem existierende Spannungen zwischen verschiedenen Stämmen an, bewaffnete und trainierte verbündete Milizen.
Innerhalb weniger Monate war ein Großteil der Bevölkerung auf der Flucht. Unterstützt von Bombern der Luftwaffe aus Khartum griffen die Milizen ein Dorf nach dem anderen an, töteten, plünderten, vergewaltigten und setzten die strohgedeckten Hütten in Brand. Niemand konnte die Zahl der Toten bestimmen, Schätzungen der Hilfsorganisationen reichen von 180 000 bis mindestens 300 000. Die amerikanische Regierung sprach bald von „Völkermord“, die Vereinten Nationen von der „derzeit größten humanitären Katastrophe“.
In vielen Medien war dieser Kon-flikt mit den seit Urzeiten andauernden Stammesfehden um Land und Wasser schnell erklärt: Auf der einen Seite die afrikanischen Stämme der Fur und Zaghawa, die Landwirtschaft betreiben. Auf der anderen Seite die arabischen Nomaden, die von Rinder- und Kamelzucht leben. Doch so scharf lässt sich die Trennungslinie in Wirklichkeit nicht ziehen. Aufgrund der Hautfarbe sind „Araber“ und „Afrikaner“ in Darfur kaum zu unterscheiden, viele Familien sind seit Genera-tionen durch Heirat gemischt.
Staatlich organisierter Völkermord
Anders als im Süden gibt es in Darfur weder eine religiöse Trennungslinie noch nennenswerte Bodenschätze. Alle Bewohner sind Muslime, und die Gegend ist so unwirtlich und trocken, dass es schwer verständlich scheint, warum von dort jemand vertrieben werden sollte. Doch Khartum wollte ein Exempel statuieren und zeigen, was passiert, wenn eine Region plötzlich Ansprüche erhebt.
Die Regierung machte sich den alten Darfur-Konflikt zu Nutze und ging mit Hilfe arabischer Milizen massiv gegen Rebellen und Zivilbevölkerung vor. Das hatte den Effekt, dass zunächst die so genannten Dschandschawid als Täter in die internationale Kritik gerieten. Erst langsam wurde deutlich, wie sehr die Regierung in Khartum den Konflikt schürte und steuerte. Im Auftrag von UN-Generalsekretär Kofi Annan untersuchten Experten Entstehung und Verlauf des Konflikts und ermittelten Drahtzieher. Ihr Bericht enthält eine nicht veröffentlichte Liste mit 51 Namen von Verdächtigen, auf der auch sudanesische Regierungsmitglieder stehen sollen.
Sudan wehrt sich nach Kräften gegen die Aufnahme von Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof, der die Täter zur Verantwortung zieht. Schon mehrfach kündigte die Regierung in Khartum die Festnahme mutmaßlicher Darfur-Verbrecher an, die sie jedoch ausschließlich vor sudanesische Gerichte stellen möchte. Die neue Verfassung garantiert Regierungsmitgliedern zudem weitgehende Immunität.
Die internationale Gemeinschaft brauchte lange, bis sie auf die Krise in Darfur reagierte. Es dauerte Monate, bis die Hilfsmaschinerie anlief. Mitt-lerweile sind jedoch zahlreiche Organisationen in den Flüchtlingslagern aktiv, bauen Sanitäranlagen, verteilen Lebensmittel oder versorgen die Kranken. Die Sterblichkeitsrate ist hoch, die Menschen sind von der Flucht geschwächt, und es gibt nicht genügend sauberes Trinkwasser.
Zu einer Militärintervention konnten sich die westlichen Länder nicht durchringen. Stattdessen finanzieren sie eine Friedensmission der Afrikanischen Union (AU). Die bestand zunächst aus ein paar Hundert unbewaffneten Militärbeobachtern und bewaffneten Soldaten, die jedoch nicht die Zivilbevölkerung, sondern das AU-Kontingent schützen sollten. Es fehlte nicht nur an Truppen, sondern auch an Ausrüstung: Fahrzeuge, Satellitentelefone, Landkarten. Vor allem aber fehlte der klare Auftrag.
Bis Ende September soll die AU-Mission in Darfur auf etwa 7700 Mann anwachsen. Nach Einschätzung der International Crisis Group ist die Zahl noch immer viel zu klein, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Die Organisation schlägt vor, dass die NATO nicht nur wie versprochen Transporthilfe leistet, sondern am besten gleich eigene Truppen schickt, die so lange das Kommando übernehmen, bis die AU-Mission ihre volle Stärke erreicht hat.
Die Krise in Darfur hat die internationale Gemeinschaft in ihrem Umgang mit der sudanesischen Regierung in eine schwierige Lage gebracht. Einerseits will sie Druck auf Khartum ausüben, damit es eine friedliche Lösung für Darfur findet. Andererseits muss sie anerkennen, dass Khartum das Friedensabkommen mit dem Süden unterzeichnet hat. Bei einer Geberkonferenz in Oslo wurden etwa 4,5 Milliarden Dollar Hilfsgelder zugesagt – ein Teil davon geht an die Regierung, die zugleich im Westen des Landes weiter Krieg führt.
Wendejahr für den Sudan
Unterdessen kündigt sich im Osten Sudans der nächste Konflikt an, der ähnliche Ursachen hat. Die halbnomadische Bevölkerungsgruppe der Beja, die in der Nähe der Grenze zu Eritrea lebt, fühlt sich ebenfalls von der Regierung in Khartum vernachlässigt. Wegen einer langen Dürrezeit ist die Ernte knapp ausgefallen. Das Ausmaß der Unterernährung ist nach UN-Schätzungen schon mit der Situation in Darfur vergleichbar. Seuchen haben den Viehbestand um fast die Hälfte verringert. Im Juni kam es bereits zu heftigen Gefechten zwischen der sudanesischen Armee und Rebellengruppen, die von Eritrea unterstützt werden. Auch hier setzte die Regierung die gefürchteten Antonov-Bomber ein.
Alle drei Konflikte – der langjährige mit dem Süden, der durch die Religionsgrenze und die Ölvorkommen verschärft wurde, der jüngere in Darfur und der gerade aufflackernde im Osten des Landes – weisen auf das Grundproblem des Sudans: Bislang profitierte eine arabisch-islamisch geprägte Machtelite in Khartum allein vom Reichtum des Landes. Damit das so bleibt, hat sie in der Vergangenheit nicht davor zurückgeschreckt, grausame Kriege gegen die Zivilbevölkerung zu führen.
Jan Egeland, UN-Koordinator für Nothilfe im Sudan, bezeichnete das Jahr 2005 als das „Wendejahr für den Sudan“: Entweder kommt es zum Durchbruch, oder das ganze Land droht, ins Chaos abzugleiten.1 Die Bildung einer neuen Regierung, die den einzelnen Bevölkerungsgruppen mehr Toleranz und politischen Einfluss verspricht und die weit gehende Selbstbestimmung des Südens anerkennt, ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Aufgabe der internationalen Gemeinschaft bleibt es, den Aufbau des „Neuen Sudans“ zu begleiten und zugleich auf eine friedliche Lösung des Grundkonflikts zwischen Zentralregierung und vernachlässigten Regionen zu drängen.
1 Bei einer Pressekonferenz in Khartum am 9.3.2005.
Internationale Politik 8, August 2005, S.104 - 109