Weltspiegel

19. Okt. 2023

Konfrontation statt Annäherung

Durch sein regionales Eskalationspotenzial gewinnt der Konflikt um Gaza besondere Bedeutung. Denn Hamas, Hisbollah und Iran haben eine gemeinsame Agenda.

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Bild: die Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate und Israels.
Die Abraham-Abkommen nährten Hoffnungen auf Frieden in Nahost; hier die Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate und Israels. Ein solcher Vertrag mit Saudi-Arabien liegt nun auf Eis.
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Schon vor Jahrzehnten hat der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern seine einst zentrale Bedeutung für die Politik des Nahen Ostens eingebüßt.

Grund war vor allem der Jom-Kippur-Krieg 1973, der von einem beispiellosen Anstieg der Ölpreise begleitet war, der wiederum zum Aufstieg der Anrainerstaaten des Persischen Golfs und zu einer Verschiebung des geopolitischen Schwerpunkts er Region weg von Tel Aviv/Jerusalem, Kairo und Damaskus hin nach Riad, Teheran und Bagdad führte.

Während Saudi-Arabien, Iran und zunächst auch Irak aufgrund ihres Ölreichtums zu regionalen Schwergewichten wurden, verloren Länder wie Ägypten und Syrien ihre einst starken Positionen. Die großen Konflikte der folgenden Jahrzehnte wurden am Golf ausgetragen, darunter der Iran-Irak-Krieg 1980–1988, der Kuwait-Krieg 1990/91 und der Irak-Krieg 2003. Alle diese Auseinandersetzungen fanden vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Saudi-Arabien und Iran statt, die nach dem Ausfall des Irak ab 2003 immer verbitterter um die Hegemonie am Golf stritten. Die israelisch-palästinensische Auseinandersetzung schien im Vergleich nur noch ein Nebenschauplatz zu sein.

Oberflächlich betrachtet mögen der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober und der folgende Krieg um Gaza diesem Bild widersprechen, denn plötzlich schaut die ganze Welt wieder auf Israel und die palästinensischen Gebiete. Doch gewinnt der Konflikt um Gaza vor allem durch sein regionales Eskalationspoten­zial an Bedeutung, ohne dass er trotz aller Dramatik der Ereignisse doch wieder nur eine auf das kleine Territorium des Mandatsgebiets Palästina begrenzte Episode im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis wäre. Glaubt man entsprechenden Aufrufen, ist es offenbar ein Ziel der Hamas, die libanesische Hisbollah und auch Iran in den Krieg hineinzuziehen, um auf diese Weise nicht ganz allein den israelischen Angriffen ausgesetzt zu sein und den Gegner zu zwingen, an mindestens zwei Fronten zu kämpfen.

Damit wird der Konflikt aber zu einer Folge des iranischen Expansionsstrebens und des Versuchs der Teheraner Führung, mit der Hisbollah, dem Assad-Regime in Syrien, der Hamas, den jemenitischen Huthis, irakischen Milizen und weiteren Terrorgruppen eine „Achse des Widerstands“ gegen die USA und ihre Verbündeten aufzubauen und eine Vormachtstellung zunächst am Golf und dann im Nahen Osten insgesamt zu erkämpfen. Diese enge Bindung an den Konflikt am Persischen Golf könnte noch stärker sein als bisher nachweisbar, weil noch Informationen ans Licht kommen könnten über eine Beteiligung Irans und/oder der Hisbollah an der Planung der Anschläge in Israel. Bisher gibt es aber nur Hinweise, dass die Hisbollah und damit wahrscheinlich auch Iran kurz vor dem 7. Oktober von den Planungen wussten, nicht aber, dass sie in irgendeiner Weise Einfluss nahmen. Der Verdacht, dass dies dennoch der Fall war, liegt vor allem deshalb nahe, weil die Interessen der Hamas, der Hisbollah und Irans weitgehend deckungsgleich sind.

 

Friedensgespräche torpedieren

Der Hamas ging es mit dem Angriff auf Israel darum, einen Friedensschluss zwischen Saudi-Arabien und Israel zu verhindern. Sollte es zu einem solchen kommen, wäre dies ein schwerer Rückschlag für Iran, die Hisbollah und die Hamas. Dabei sind Israel und Saudi-Arabien einander schon lange nicht mehr feindselig gesinnt. Eine wichtige Rolle spielt dabei seit jeher, dass sie eng mit den USA verbündet sind, sodass sich ihre Interessen oft überschneiden. Besonders deutlich wurde dies 2002, als der saudische Kronprinz und spätere König Abdallah Israel Frieden anbot, wenn es sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehe. Seitdem kam es immer wieder zu geheimen Treffen zwischen saudischen und israelischen Politikern und Beamten. Beide Seiten sprachen vor allem über Sicherheitsfragen, die infolge der ab 2015 verstärkten iranischen Expansion im Nahen Osten immer dringlicher wurden. Riad und Tel Aviv sehen in der aggressiven Hegemonialpolitik der Islamischen Republik die größte Gefahr für ihre nationale Sicherheit, sodass eine Annäherung fast zwangsläufig war.

Hinzu kam ab 2017 mit US-Präsident Donald Trump ein Akteur, der die Annäherung zwischen Israelis und Saudis unter anderem mit dem Ziel förderte, eine breite Front gegen Iran aufzubauen. Von Beginn seiner Präsidentschaft an setzte er auf enge und freundschaftliche Beziehungen zum saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman, zum damaligen Kronprinzen von Abu Dhabi, Mohammed Bin Zayed, und zum israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Jared Kushner, den er zu seinem Nahost-Beauftragten machte, setzte Trump auf das alte Konzept der US-Republikaner, den israelisch-palästinensischen Konflikt dadurch zu lösen, dass prowestliche Nachbarstaaten unter Umgehung der Palästinenser mit Israel Frieden schließen.

Dass die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrain 2020 zeitgleich Friedensabkommen mit Israel schlossen, war ein großer Erfolg für die USA. Vor allem die Beteiligung Bahrains war bemerkenswert, denn das kleine Inselkönigreich ist faktisch ein saudisches Protektorat, sodass davon auszugehen war, dass Riad seine Zustimmung gegeben hatte. Trotzdem war Saudi-Arabien nicht mit von der Partie, weil König Salman darauf beharrte, dass ein Friedensschluss mit Israel mit der Gründung eines palästinensischen Staates einhergehen müsse.

Erst während der Präsidentschaft Joe Bidens kam neue Bewegung in die Gespräche über eine Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien. Im März 2023 wurden Berichte publik, dass Riad von den USA mehr moderne Waffen, weitreichende Sicherheitsgarantien und Hilfe beim Aufbau eines zivilen Nuklearprogramms verlange, wenn es einem Frieden mit Israel zustimmen solle. Zum Zeitpunkt des Angriffs der Hamas am 7. Oktober liefen die Gespräche zwischen den USA und ­Saudi-Arabien noch.



Abkommen zwischen Riad und Teheran

Die Ereignisse in und um Gaza überraschten viele Beobachter auch deshalb, weil im Nahen Osten des Jahres 2023 die Zeichen eher auf Entspannung zu stehen schienen. Vor allem ein Abkommen zwischen Saudi-Arabien und Iran vom März 2023 hatte die Optimisten beeindruckt, in dem sich die beiden regionalen Schwergewichte Entspannung versprachen. Die Übereinkunft schien den Kalten Krieg zu beenden, den die beiden Staaten rund ein Jahrzehnt lang geführt hatten, und der die Konflikte in Syrien, Irak, im Libanon und im Jemen angeheizt hatte. Doch blieben die Grundlinien des Streites zwischen Iran und seinen Gegnern bestehen, wie der Angriff der Hamas vom Oktober 2023 allzu deutlich demonstrierte.

Eigentlich standen die Zeichen auf Entspannung, denn Verhandlungen über die Normalisierung von Beziehungen zeitigten Erfolg



Der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran war vor allem ab 2015 eskaliert. Saudi-Arabien (und andere prowestliche Staaten wie Israel und die VAE) nannten als Gründe vor allem das iranische Nuklearprogramm, das sie für ein militärisches hielten, die Expansion Irans in der Region, die mit der Unterstützung von antiamerikanischen, antiisraelischen und antisaudischen Organisationen wie der libanesischen Hisbollah einherging, und seine Raketen, mit denen Iran und seine Verbündeten ihre Nachbarn bedrohten. Saudi-Arabien stellte sich dem iranischen Expansionsdrang in erster Linie im Jemen entgegen, wo die von Iran unterstützten Huthi-Rebellen 2014 die Hauptstadt Sanaa und anschließend große Teile des Landes einnahmen. Das Königreich intervenierte im März 2015 gemeinsam mit den VAE auf der Seite der Huthi-Gegner in den Bürgerkrieg. Es gelang Riad und Abu Dhabi jedoch nicht, den erwarteten schnellen Sieg zu erzielen und es entwickelte sich eine jahrelange Auseinandersetzung.

Besonders folgenreich waren die ab 2017 verstärkten Angriffe auf saudische Städte und Infrastruktur mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen. Im September 2019 traf ein solcher Angriff, zu dem sich die Huthis bekannten, der aber in Iran seinen Ausgang nahm, die saudischen Ölanlagen von Abqaiq und Khurais und legte gut die Hälfte der Ölproduktion des Landes für zwei Wochen lahm. Die saudische Führung hoffte auf einen amerikanischen Militärschlag gegen Iran, doch als Präsident Trump sich verweigerte, begriff Kronprinz Mohammed, dass die Ölinfrastruktur seines Landes den Angriffen der Huthis und Iraner schutzlos ausgeliefert war. Deshalb entsandte Saudi-Arabien rasch Entspannungssignale in Richtung Teheran.

Dass es mehr als zwei Jahre bis zum Abkommen mit Iran und zur Beruhigung im Jemen dauerte, lag vor allem daran, dass Iran im Bewusstsein der eigenen Stärke keinen Grund sah, auf die saudischen Avancen einzugehen. Dies änderte sich erst 2022, als das Ende der Atomverhandlungen mit den USA der Führung in Teheran verdeutlichte, dass an ein baldiges Ende westlicher Sanktionen nicht mehr zu denken war. Dies war vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise und den im September ausbrechenden landesweiten Protesten so bedrohlich, dass auch Teheran sich für einen Entspannungskurs entschied.

Der Angriff der Hamas und der neue Gaza-Krieg könnten nun einen Frieden zwischen Israel und Saudi-Arabien unmöglich machen. Das liegt auch daran, dass die USA und Israel großes Interesse an einem Abkommen haben, während Saudi-Arabien die Vor- und Nachteile noch abzuwägen scheint und zögert, ob es ein so klares Bekenntnis zur Bindung an den Westen abgeben soll – wo die USA aus Sicht Riads doch auf dem Rückzug aus dem Nahen Osten sind und China seine Position ausbaut. Die saudische Führung setzte die Gespräche mit den USA Mitte Oktober aus und entschied sich, erst einmal den weiteren Verlauf des Konflikts abzuwarten.



Iran und die „Achse des Widerstands“

Problematisch ist darüber hinaus, dass die Hamas auf eine regionale Eskalation des Krieges um Gaza abzielt. Dies wurde schon am ersten Tag des Angriffs deutlich, als der Hamas-Militärführer Mohammed al-Daif in einer Rede betonte, wie eng seine Organisation der von Iran geführten „Achse des Widerstands“ verbunden sei. Die Hamas hofft offenbar auf eine Ausweitung des Konflikts auf die israelische Nordgrenze, wo die ungleich mächtigere Hisbollah Israel in ähnlicher Weise bedroht wie die Hamas im Süden. Auch wenn es zu Beginn des Konflikts so schien, als wollten Iran und die Hisbollah einen Krieg mit Israel zumindest zurzeit nicht, ist die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation jederzeit gegeben – schon allein, weil die Hisbollah, um ein wenig Solidarität mit der Hamas zu zeigen, vereinzelt Raketen auf Israel abgeschossen hat.

Saudi-Arabien befürchtet, im Falle einer Eskalation ebenfalls zum Ziel iranischer Angriffe zu werden. Dies dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass die US-Regierung kurz nach dem Angriff der Hamas zwei Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer beorderte. Sie will ebenso wie Israel eine regionale Ausweitung des Konflikts verhindern – und so auch die Op­tion auf einen Frieden zwischen Israel und Saudi-Arabien bewahren.   

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember, S. 63-66

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Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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