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01. März 2016

König Salman und die Krisen

Doch Saudi-Arabien spielt auch weiterhin eine wichtige geostrategische Rolle

Innen- wie außenpolitisch steht die saudische Regierung vor großen Problemen. Die Wirtschaft leidet unter dem niedrigen Ölpreis, die junge Generation verlangt nach besseren Perspektiven. Und in Syrien, im Irak und Jemen verfolgt der ewige Rivale Iran seine Interessen. Der Westen muss beide Regionalmächte einbinden, um zu Lösungen zu kommen.

Es klang fast trotzig, was der saudische Verteidigungsminister und stellvertretende Thronfolger, Königssohn Mohammed bin Salman, in einem Interview mit dem Economist über die saudische Wirtschaft sagte: „Wir werden gestärkter aus dieser Situation hervorgehen, als die meisten Menschen glauben.“

Mit „dieser Situation“ meinte er den Verfall des Ölpreises auf etwa 30 Dollar pro Barrel, der auf die saudische Wirtschaft gravierende Auswirkungen hat: 2015 lag das Haushaltsdefizit bei 16,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Während offizielle Verlautbarungen von 38,5 Milliarden Dollar sprachen, prognostizierte der Internationale Währungsfonds sogar Einbußen von 107 Milliarden Dollar – das höchste Defizit in der saudischen Geschichte. Auch in diesem Jahr soll es sich nur geringfügig auf 11,6 Prozent des BIP reduzieren. Saudi-Arabien, das über ein Sechstel der weltweiten Ölreserven verfügt, generiert etwa 85 Prozent seiner Staatseinnahmen aus dem Ölgeschäft. Es kalkuliert mit einem Ölpreis von um die 90 Dollar pro Barrel, um seine bisherigen Staatsausgaben gegenfinanzieren zu können. Doch allein zwischen 2014 und 2015 fielen die Öleinnahmen von 285 Milliarden Dollar 2014 auf 165 Milliarden Dollar, während die Staatsausgaben im gleichen Zeitraum etwa konstant blieben.

Aber nicht nur der niedrige Ölpreis bedroht die wirtschaftliche Stabilität, das gesamte Wirtschaftssystem leidet unter grundlegenden Strukturschwächen: Fast ein Drittel der Bevölkerung von 30 Millionen sind Ausländer; zumeist arbeiten Migranten aus Pakistan, Indonesien oder ­Bangladesch als Bauarbeiter, Hausangestellte, Taxifahrer und Gärtner. Sie sind das Rückgrat der saudischen Wirtschaft. Gleichzeitig investierte der saudische Staat Milliarden in das Bildungssystem, sodass jährlich etwa 400 000 junge Absolventen auf den Arbeitsmarkt drängen, der aber kaum Per­spektiven bietet. Der Lohn im unterentwickelten Privatsektor liegt deutlich unter den Gehältern im öffentlichen Dienst, doch dessen Kapazitäten sind erschöpft. Der Staat hat mit Subventionen und einem kostenlosen Bildungs- und Gesundheitssystem bei den saudischen Arbeitnehmern eine Erwartungshaltung geschaffen, die er nun nicht mehr erfüllen kann. Denn durch die ausbleibenden Öleinnahmen gerät das Rentiersystem immer mehr unter Druck und die strukturellen Missstände werden größer.

 

Großer Reformbedarf

Der Staat muss darauf mit langfristigen Reformen reagieren, zu denen auch gekürzte Staatsgehälter und Subventionen sowie erhöhte Benzinpreise gehören. Diese Einschnitte könnten die verwöhnten Saudis in Aufruhr versetzen. Der erst 31-jährige Mohammed bin Salman, der als Vorsitzender des neu geschaffenen Wirtschaftsrats die Wirtschaftspolitik des Königreichs maßgeblich voran­treiben soll, nennt die Einführung einer Mehrwert- und einer „Sündensteuer“ auf Tabak, den Abbau von Mineralien und die Bebauung freier Flächen um Medina als wesentliche Pfeiler der neuen Wirtschaftspolitik. Allein daraus erhofft er sich Einnahmen von 100 Milliarden Dollar in den kommenden fünf Jahren.

Des Weiteren sollen Krankenhäuser, Militäreinrichtungen und staatseigene Betriebe privatisiert werden. Außerdem wurde angekündigt, den größten saudischen Konzern, das Ölunternehmen Saudi Aramco, an die Börse zu bringen. Dennoch leidet der saudische Staat unter einem wirtschaftlichen Abschwung: Sollten die Ölpreise weiterhin so niedrig bleiben, drohen dem Haushalt in drei bis fünf Jahren finanzielle Engpässe – trotz der enormen Auslandsdevisen in Höhe von etwa 670 Milliarden Dollar. Werden die Ausgaben nicht drastisch reduziert, müsste 2030 ein Barrel Öl schon 320 Dollar kosten, um den heutigen Status aufrechterhalten zu können.

So wächst die Unzufriedenheit ­unter der jungen Bevölkerung. Hunderttausende von ihnen genossen eine exzellente Ausbildung an amerikanischen oder britischen Universitäten, die ihnen vom Staat finanziert worden ist. Sie kehrten zurück mit hohen beruflichen Ambitionen – und wurden enttäuscht: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 Prozent. Vielen ist bewusst, dass die Annehmlichkeiten des öffentlichen Dienstes der Vergangenheit angehören. Sie gründen stattdessen kleine IT-Unternehmen oder entwickeln Apps für Smartphones, sodass sich eine nachwachsende Generation von mittelständischen Unternehmen herausbildet. Die Mehrheit der jungen saudischen Arbeitnehmer ist jedoch nicht ausreichend qualifiziert, verlangt überzogene Gehälter und kann mit den Ausländern nicht konkurrieren.

So benötigt das Land nicht nur eine Wirtschaftsreform, sondern auch einen Mentalitätswandel. Als vor einigen Jahren alle ausländischen Taxifahrer in der Hauptstadt Riad durch Saudis ersetzt werden sollten, musste das Projekt eingestellt werden: zu wenig Interesse von saudischer Seite. Noch immer ist es verpönt, Dienstleistungen für Lands­leute zu erbringen – schließlich waren dafür jahrzehntelang die Aus­länder zuständig.

Doch ohne Job sinkt auch das soziale Ansehen – insbesondere bei den Männern. Wenn sie es sich nicht mehr leisten können, das Brautgeld zu bezahlen oder eine Wohnung zu kaufen, gelten sie in einer patriarchalischen Gesellschaft schnell als Versager. Dies führt zu Frustration. Nicht ohne Grund steigen der Drogenkonsum sowie die Selbstmordrate stetig. Viele junge Männer fahren sich bei illegalen Straßenrennen zu Tode – Saudi-Arabien gilt als Land mit der höchsten Verkehrstotenrate der Welt. Und auch die religiöse Radikalisierung wir ein immer größeres Problem: Etwa 2500 saudische Dschihadisten haben sich bereits dem „Islamischen Staat“ angeschlossen – die zweitgrößte Gruppe ausländischer Kämpfer nach den Tunesiern.

Doch daneben sind es insbesondere die jungen Frauen, die vermehrt auf den Arbeitsmarkt drängen, aber durch die geschlechtergetrennte Gesellschaftsordnung vielerorts ihre Karriere nicht verwirklichen können: Häufig dürfen sie in ihren erlernten Berufen nicht arbeiten, kleinere Firmen haben keinen separaten Gebetsraum oder Damentoiletten, oftmals können sich die Frauen keinen Fahrer leisten und sind deswegen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, weil ein öffentlicher Nahverkehr nicht existiert.

Da 55 Prozent aller Universitätsabsolventen weiblich sind und sich viele Frauen nicht mehr auf die Rolle des Mannes als Ernährer verlassen können, streben sie nach beruflichem Fortschritt. Sie gründen Firmen, arbeiten in der Finanzbranche, der Modeszene oder als Galeristinnen. Dem saudischen Königshaus ist längst bewusst, dass es das Potenzial der Frauen nutzen muss, um die Wirtschaft auf Kurs zu halten. Staatlich unterstützte Initiativen wie Glowork, die junge Frauen in den Arbeitsmarkt integrieren wollen, sind ebenso ein Indikator für eine modifizierte Geschlechterpolitik wie die überfällige Maßnahme, Frauen zu erlauben, in Dessousläden als Verkäuferinnen zu arbeiten. Bis dahin war es nur ausländischen Männern erlaubt, was in einer Gesellschaft, in der die Frau als „heiliges Gut“ gilt, die Absurdität der saudischen Realität aufzeigte.

Doch der religiöse Widerstand gegen die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt bleibt stark. Der erzkonservative wahhabitische Klerus drängt auf ein islamisches Geschlechterbild, in dem Frauen als Beschützerinnen von Haus und Familie, aber nicht als vollwertige Mitglieder der Arbeitswelt fungieren sollen. Und viele Frauen drängen auch gar nicht nach zu viel Emanzipation. Als sich im Jahr 2011 mehrere Frauen beim verbotenen Autofahren filmen ließen und gleichzeitig Kritik an der dominanten Rolle der Männer übten, entstanden Facebook- und Twitterkampagnen von Frauen, die dieses „unislamische“ und „unsaudische“ Verhalten kritisierten.
 

Der ewige Rivale Iran

Es sind diese gesellschaftlichen und sozioökonomischen Widersprüche, die König Salman und seinen Sohn unter enormen Druck setzen. Sie müssen beweisen, dass sie in der Lage sind, das Land als starke Führer zu steuern. Dementsprechend hat in ­Salmans erstem Jahr als König ein Paradigmenwandel stattgefunden, der sich vor allem in der Außenpolitik niederschlägt und von den innenpolitischen Verwerfungen ablenken soll. Während Saudi-Arabien in der Vergangenheit zumeist als zurückhaltender Mediator in Regionalkonflikten auftrat und mithilfe seiner Scheckbuchdiplomatie moderieren, kontrollieren und kooptieren wollte, setzt Salman auf eine Politik der Konfronta­tion. Diese richtet sich vor allem gegen den Iran.

Die saudische Führung fühlt sich von iranischen Vasallen umzingelt: In Syrien, Bahrain, im Irak und vor allem im Jemen sieht das Königshaus mit Sorge einen wachsenden Einfluss des ärgsten Konkurrenten. Auch um diesen Einfluss zu stoppen, begannen Salman und sein Sohn in dessen Funktion als Verteidigungsminister im März 2015 eine militärische Intervention im Jemen. Ziel ist es, die Huthis, die von Saudi-Arabien als schiitisch-iranische Klienten gesehen werden, zurückzuschlagen. Gleichzeitig soll die Invasion aber auch dazu dienen, eine Wagenburgmentalität in Zeiten der Krise zu schaffen. Doch die militärischen Erfolge sind bescheiden, die Kosten hingegen enorm: ­Konservative Schätzungen gehen von 50 bis 70 Milliarden Dollar aus, die das Budget weiter belasten.

Den Konkurrenzkampf mit dem Iran führt die saudische Regierung an mehreren Fronten: Im Januar 2016 ließ Riad den einflussreichen saudischen Schiitenprediger Nimr al-Nimr exekutieren – woraufhin die saudische Botschaft in Teheran attackiert wurde; der saudische Botschafter wurde abgezogen und die wirtschaftlichen Beziehungen gekappt. Es folgte eine hass­erfüllte Propagandakam­pagne von iranischer wie saudischer Seite gegen den jeweils anderen. Bereits im Herbst 2015, als bei einer Massenpanik während der Hadsch Tausende Pilger ums Leben kamen, wurden als erste Reaktion iranische Muslime dafür verantwortlich gemacht. Der Iran reagierte umgehend mit harscher ­Kritik an den ­saudischen Organisatoren. Zwar weisen beide Seiten darauf hin, eine direkte militärische Konfrontation vermeiden zu wollen, doch insbesondere Saudi-Arabien sieht sich gegenüber dem Iran in einer Position der Schwäche und reagiert dementsprechend irrational. Die Folge: Der Konkurrenzkampf wird immer schärfer. Durch den erfolgreichen Atomdeal und die bevorstehende Aufhebung der Sanktionen ist der Iran international wieder salonfähig geworden, während Saudi-Arabiens Bedeutung für die Welt gesunken zu sein scheint. Die saudische Führung fühlt sich vom engsten Verbündeten, den USA, im Stich gelassen und will nun beweisen, dass sie auch allein in der Lage ist, ihre Interessen zu vertreten.

Diese Politik ist riskant. Denn in Syrien, im Jemen, aber auch in Pakistan oder im Libanon hat sich der iranisch-saudische Konflikt längst auch zu einem Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten entwickelt. Während sich Saudi-Arabien als sunnitische Vorreiternation und Hüter der beiden heiligen Stätten Mekka und Medina versteht, übernimmt die Islamische Republik die Rolle der Schutzmacht für alle Schiiten. Zwar wird die Rivalität vor allem aus politischen und wirtschaftlichen Machtinteressen ­gespeist, doch die konfessionelle Dichotomie wird von beiden Seiten ­instrumentalisiert, was zur Destabilisierung der Region beiträgt. Ohne eine saudisch-iranische Annäherung bleiben diplomatische Lösungen in Syrien, im Irak oder im Jemen eine Illusion.

Auch ein effizienteres Vorgehen gegen den Islamischen Staat wird durch diesen Hegemonialkonflikt verhindert. Zwar sieht das saudische Königshaus im IS eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit, doch anstatt sich mit allen Kräften gegen die Dschihadisten im Irak und in Syrien zu wenden, wird die militärische Schlagkraft lieber im Jemen eingesetzt, um die Huthis und den Iran zu schwächen. Davon profitiert der IS: Er hat inzwischen einige Anschläge auf schiitische Moscheen in Saudi-Arabien verübt.
 

Schwierige Gratwanderung

Die saudische Führung muss konträre Interessen verbinden. Die im ölreichen Osten des Landes lebenden saudischen Schiiten, die 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, werden als iranische Marionetten und Gefahr für den inneren Frieden denunziert – obgleich sich diese doch als integralen Bestandteil der saudischen Nation sehen und mehr politische Partizipation sowie wirtschaftliche Integration fordern.

Die starke wahhabitische Lobby verlangt jedoch eine wohlwollendere Haltung zum IS, dem Feind der ­Schiiten. Denn ideologisch ähneln sich der Wahhabismus und der IS-Dschihadismus, sodass viele Kleriker mit den Zielen des IS sympathisieren. Das Königshaus befindet sich ­deshalb auf einer schwierigen Gratwanderung zwischen diesen unterschiedlichen Positionen.

In der Vergangenheit hat das ­Königshaus dschihadistische Gruppierungen direkt unterstützt; dies scheint es heute so nicht mehr zu geben. Man hat erkannt, dass man ein Monster herangezüchtet hat, das die eigene Legitimation bedroht. ­Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass nach wie vor Gelder von einfluss­reichen Privatpersonen oder wohl­habenden Stiftungen an Dschihadisten in Syrien und im Irak fließen.

Insbesondere die destabilisierende und indoktrinierende Wirkung des Wahhabismus hat dazu geführt, dass sich im Westen immer mehr Kritik an Saudi-Arabien regt. Nannte der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière Saudi-Arabien 2011 noch einen „Stabilitätsanker in der Region“, klang das bei Vizekanzler Sigmar Gabriel vier Jahre später ganz anders: „Wir müssen Saudi-Arabien klarmachen, dass die Zeit des Wegschauens vorbei ist.“ Vor allem das Urteil gegen den Blogger Raif Badawi, der zu 1000 Peitschenhieben und zehn Jahren Haft verurteilt worden ist, die Hinrichtung al-Nimrs und die aggressive Rhetorik der neuen saudischen Führung hat zu einem Umdenken bei westlichen Regierungen geführt: Saudi-Arabien scheint nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems zu sein.

Doch die Debatten wirken polemisch und innenpolitisch ausgerichtet. Es ist ebenso gerechtfertigt, einen generellen Stopp von Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien zu fordern wie die Reisen von Spitzenpolitikern ins Königreich zu hinterfragen. Aber das ist eher Ausdruck von Hilflosigkeit und ein Zeichen, dass eine Strategie fehlt. Deutsche Politiker sind sich bewusst, dass Saudi-Arabien ein repressives Regime ist, das die Menschenrechte massiv verletzt. Gleichzeitig weist man zu Recht aus Regierungskreisen darauf hin, dass Saudi-Arabien nicht fallengelassen werden darf. Dafür spielt das Land eine zu wichtige geostrategische Rolle im Nahen und Mittleren Osten. Ohne Saudi-Arabien werden sich die Konflikte in Syrien und im Jemen nicht lösen lassen. Dementsprechend hat auch die deutsche Diplomatie darauf hingewirkt, dass saudische wie iranische Vertreter an den Genfer Sy­rien-Verhandlungen teilnehmen.

Wie ein in die Enge getriebenes Raubtier agiert Saudi-Arabien derzeit mit Trotz und Wut. Es muss deutscher und westlicher Politik ganz allgemein also darum gehen, die Wogen zu glätten und das Land einzubinden. Dafür sollten der wirtschaftliche Reformprozess unterstützt und der Dialog mit der saudischen Elite fortgesetzt werden. Dringlichstes Ziel muss es aber sein, eine weitere Eskalation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien zu verhindern.

Allerdings sollte sich die deutsche Politik im Klaren darüber sein, dass ihre Einflussmöglichkeiten begrenzt sind. Trotzdem ist eine klare Strategie gegenüber Saudi-Arabien notwendiger als jemals zuvor, um Interessen, Grenzen und Potenziale der Kooperation zu formulieren und um der saudischen Führung kritisch, aber konstruktiv entgegenzutreten.

Sebastian Sons ist Associate Fellow des Forschungs­instituts der DGAP und promoviert zu pakistanischen Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 76-82

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