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01. März 2017

Klare Verhältnisse

Die EU tut gut daran, sich auf einen „harten Brexit“ einzustellen

Die Dynamik in London treibt Theresa May zu einer harten Linie, mit Austritt aus dem EU-Binnenmarkt. Doch hinter den Kulissen will das Land weitreichenden Zugang zum gemeinsamen Markt erhalten. Zeit für die EU, ihre Interessen zu definieren: eine klare Trennung, und ein partnerschaftliches Verhältnis zum Drittstaat Großbritannien.

Sieben Monate hat sich die britische Regierung nach dem historischen Votum zum Austritt aus der EU vom 23. Juni 2016 Zeit gelassen, um ihre Strategie für den Brexit vorzulegen. Das Ergebnis ist wesentlich härter, als viele auf dem Kontinent erwartet hatten. Eine vollständige Trennung, auch von EU-Binnenmarkt und Zollunion, kündigte Premierministerin Theresa May am 17. Januar 2017 in Lancaster House den versammelten europäischen Botschaftern an.

Eine solche vollständige Trennung von der Europäischen Union ist nicht die notwendige Schlussfolgerung aus dem Brexit-Votum. Zunächst lässt ein Austritt aus der EU eigentlich viele Möglichkeiten zur zukünftigen Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU offen. Möglich wäre auch ein „weicher Brexit“ mit weitgehendem Verbleib im Binnenmarkt, wie es etwa Norwegen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder die Schweiz partiell über bilaterale Abkommen praktizieren. Diese Teilintegration erfordert allerdings die Umsetzung von EU-Gesetzgebung, Einzahlungen in den EU-Haushalt und die Akzeptanz der ­Freizügigkeit.

Doch auch für einen „harten Brexit“ mit Austritt aus dem Binnenmarkt gibt es verschiedene Spielarten. Diese reichen von einer vollständigen Trennung und Wiedereinführung von Zöllen im Rahmen der WTO über Zollfreiheit mit einem regulären Freihandelsabkommen bis zu vertieften Freihandelsabkommen (Kanada) oder Assoziierungsabkommen (Ukraine). Auch und gerade nach Mays Lancaster-House-Rede stellt sich daher für die EU-27 die Frage, wie sie die Beziehungen mit Großbritannien in einem harten Brexit-Szenario ausgestalten wollen.

Die politische Dynamik

Von Großbritannien ist in den Verhandlungen eine Doppelstrategie zu erwarten. Auf der einen ­Seite stützt die politische Dynamik in London auch mittelfristig den harten Brexit-Kurs der Regierung May. Das Referendum entfaltet eine demokratische Bindewirkung, die nach öffentlicher Wahrnehmung über reguläre Wahlen hinausgeht. Aus Sicht der Regierung war der Volksentscheid vor allem ein Votum gegen die Freizügigkeit und Einschränkungen der Souveränität, die dementsprechend als Verhandlungsziele weit über wirtschaftlichen Interessen rangieren.

Es gibt keine Variante eines weichen Brexits, die mit diesen Zielen und dem Selbstverständnis Großbritanniens als zumindest regionaler Macht vereinbar sind. In seltener Einigkeit haben die EU-27 direkt nach dem Brexit-Votum deutlich gemacht, dass eine partielle Teilnahme am Binnenmarkt ohne Freizügigkeit oder die Akzeptanz von EU-Regeln nicht möglich sei. Selbst klare Befürworter der EU-Mitgliedschaft innerhalb der Konservativen Partei lehnen aber einen solchen Status als Empfänger von EU-Regeln ohne Mitspracherechte ab. Die Zurückweisung jeglicher Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs und der Übernahme von EU-Gesetzgebung ist dabei ein mindestens genauso großes Hindernis für einen weichen Brexit wie das angestrebte Ende der Freizügigkeit.

Außerdem gibt es gegen einen harten Brexit keine starke Opposi­tion, die den Handlungsspielraum der Regierung einschränken könnte. Die Labour-Partei ist zerstritten und vom Machtkampf zwischen ihren Parlamentariern und Parteichef Jeremy Corbyn gelähmt. Zudem haben die Wähler in knapp zwei Dritteln der von Labour gehaltenen Wahlkreise für den Brexit gestimmt, so dass die Partei in dieser Frage besonders gespalten ist. Dass Corbyn beim „Artikel 50“-Votum des Unterhauses versuchte, einen Fraktionszwang durchsetzen und geschlossen für den Beginn von Austrittsverhandlungen stimmen zu lassen, hat Labour endgültig ins Chaos gestürzt.

Die einzige starke Opposition gegen die Politik der Premierministerin kommt von den scharfen EU-Gegnern in ihrer eigenen Partei, die einen möglichst vollständigen Bruch mit der EU fordern. Dies wurde besonders in parlamentarischen Manövern um die Aktivierung des Artikel 50 deutlich: Alle Forderungen zur stärkeren parlamentarischen Kontrolle der Brexit-Verhandlungen wurden mit der knappen Mehrheit der Konservativen Partei abgelehnt. May hat damit innenpolitisch freie Hand für ihren harten Verhandlungskurs gegenüber der EU.

Schließlich, und das ist in seiner Wirkung auf die öffentliche Meinung nicht zu unterschätzen, waren die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit-Votums im Gegensatz zu den teils apokalyptischen Vorhersagen auch des britischen Finanzministeriums sehr mild.1 So hat etwa die Bank of England ihre Wachstumserwartungen für 2017 sukzessive nach oben korrigiert, aktuell wird ein höheres Wachstum als in Deutschland erwartet. Zwar ist Großbritannien noch nicht aus der EU ausgetreten und nimmt weiterhin vollständig am Binnenmarkt teil; in der öffentlichen Wahrnehmung aber sind die Kosten des Brexit-Votums bisher marginal. Dies stärkt die Argumentation der EU-Gegner, nach der Großbritannien als fünftgrößte Wirtschaft der Welt auch einen harten Brexit gut verkraften könne.

Diese Faktoren werden auch mittelfristig dafür sorgen, dass die britische Regierung kaum von einer Verhandlungslinie in Richtung hartem Brexit abweichen wird. Vier rote Linien hat May für jede Einigung über die zukünftigen Beziehungen zur EU gezogen: keine Fortsetzung der Freizügigkeit, keine Umsetzung von EU-Gesetzgebung, keine Verbindlichkeit von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs und die Souveränität, eigene Freihandelsabkommen mit Drittstaaten abzuschließen. Jegliche Teil­integration in den EU-Binnenmarkt, aber auch in die EU-Zollunion, ist damit vom Tisch.

Binnenmarkt durch die Hintertür?

Auf der anderen Seite ist das Interesse Großbritanniens an einem möglichst ungehinderten Zugang zum EU-Binnenmarkt – dem Projekt der bisherigen britischen Europapolitik – trotz dieser Faktoren weiterhin ungemindert groß. Das Vereinigte Königreich exportiert 47 Prozent seiner Waren in die EU-27, die zusammen weit wichtiger für die britische Wirtschaft sind als die USA. Allein ins EU-Mitglied Irland exportiert Großbritannien fast doppelt so viel wie nach China.

Die britische Regierung will daher ihre harte Brexit-Strategie in zweierlei Hinsicht wirtschaftlich abfedern. Sie strebt möglichst noch innerhalb der Zweijahresfrist zur Verhandlung der Austrittsmodalitäten ein tiefes Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union an. Dieses Abkommen soll nach Wunsch Londons die Regelungen des Binnenmarkts – auch in Bezug auf gegenseitige Anerkennung, Dienstleistungsfreiheit und Zugang zum EU-Finanzmarkt – so weit wie möglich analog widerspiegeln.

Eine solche „Binnenmarkt-Mitgliedschaft durch die Hintertür“ würde jedoch genau zu dem führen, was die EU-27 bisher ablehnen: Großbritannien genösse dann weiterhin ungehinderten Zugang zum größten Markt der Welt, ohne sich dessen Regeln und Pflichten zu unterwerfen. Genährt wird diese Strategie von der Überzeugung, dass die EU mit der weiterhin krisenhaften Situation in Teilen der Euro-Zone und aufgrund der Bedeutung der City of London mehr unter einem harten Bruch leiden würde als umgekehrt.

Zudem will London den Verlust an Zugang zu den bisherigen Freihandels­abkommen der EU, der mit dem Austritt aus der Zollunion einhergeht, durch eigene Abkommen mit einer möglichst großen Anzahl an Drittstaaten „ersetzen“. Rückendeckung bekommt Großbritannien hierbei vom neuen US-Präsidenten Donald Trump, der als erklärter Brexit-Befürworter den schnellen Abschluss eines amerikanisch-britischen Freihandelsabkommens ausdrücklich befürwortet, zumal es seine Strategie eines Umschwenkens auf bilaterale statt multilaterale Handelsabkommen ergänzt. Mit einem solchen transatlantischen Abkommen als Beispiel will die britische Regierung möglichst zum Tag des Austritts weitere Freihandelsabkommen vor allem mit langjährigen Partnern wie Australien, Neuseeland und Kanada, perspektivisch aber auch mit Indien und China aushandeln.

Diese „Global Britain“-­Strategie soll den EU-Austritt mit neuen Möglichkeiten anstatt hohen Kosten verknüpfen. Kurzfristig hat sie damit zumindest bei der britischen Bevölkerung Erfolg: Laut einer YouGov-Umfrage unterstützen 57 Prozent der Briten Mays Kurs, den kompletten Austritt aus EU-Binnenmarkt und Zollunion eingeschlossen. Ebenso ist eine Mehrheit der Briten davon überzeugt, dass die EU unter einem Abbruch der Verhandlungen und der Wiedereinführung von Zöllen wirtschaftlich mehr leiden würde als Großbritannien. Auf die Kosten der harten Brexit-Strategie hat die Premierministerin May die Bevölkerung bisher in keiner Weise vorbereitet.

Scheitern nicht ausgeschlossen

Für die EU-27 wurzelt eine solche Strategie eher im Wunschdenken – zumal sie widersprüchliche Ziele enthält, die zu erreichen illusorisch ist. Den Zugang zu seinem wichtigsten Handelspartner einzuschränken, ist ein denkbar schlechter Auftakt für eine Freihandelsinitiative. Auch die wirtschaftliche Abhängigkeit ist sehr asymmetrisch: Großbritannien exportiert 47 Prozent in die EU, die EU aber nur etwa 10 Prozent nach Großbritannien.

Zudem ist weder realistisch, dass die EU und Großbritannien im Zeitrahmen von zwei Jahren parallel zu den Austrittsmodalitäten ein vertieftes Freihandelsabkommen aushandeln – das entsprechende Abkommen mit Kanada (CETA) ist auch nach über zehn Jahren noch nicht vollständig ratifiziert. Noch dürfte die EU ein dem Binnenmarkt vergleichbares Freihandelsabkommen ohne die mit dem Binnenmarkt verknüpften Pflichten akzeptieren. Insbesondere eine Umsetzung von EU-Regulierung in Bereichen mit vollständigem Marktzugang und ein Streitschlichtungsverfahren mit Rückbindung an den Europäischen Gerichtshof sollten Grundvoraussetzungen für jedes tiefere Freihandelsabkommen sein.

Gleichermaßen benötigen auch die USA im Durchschnitt über vier Jahre für die Aushandlung und Ratifizierung von Freihandelsabkommen. Einzige Ausnahmen sind Abkommen, bei denen Washington dem Partner die Bedingungen diktieren konnte. Großbritannien, unter hohem Zeitdruck und wesentlich stärker auf den Abschluss eines amerikanisch-britischen Abkommens angewiesen als die USA, dürfte dafür einen hohen Preis zahlen.

Die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien beginnen also mit einer schweren Hypothek. Alle Formen eines weichen Brexits scheinen ausgeschlossen, während sogar die härteste Form des Brexits mit Wiedereinführung von Zöllen in den Bereich des Möglichen gerückt ist – sei es durch ein Scheitern der Gespräche oder die Ablehnung der Briten jedweder gemeinsamer Mechanismen, um privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten. Dabei besteht zusätzlich die Gefahr, dass die britische Regierung jegliche Kosten der harten Brexit-Strategie darauf schieben wird, dass die EU nicht gewillt sei, ihr einen „fairen Deal“ zuzubilligen.

Großbritannien als Drittstaat

Welche Optionen hat in dieser Kon­stellation die EU? Erstens hat die britische Strategie in Richtung harter Brexit für die übrigen 27 EU-Länder auch Vorteile: Die Trennlinie zwischen Mitgliedstaaten und Nicht-Mitgliedstaaten bleibt bestehen. Vor Beginn der Verhandlungen ist nunmehr klar: Großbritannien wird mit dem Brexit zum Drittstaat, Teilintegration à la Norwegen oder Schweiz ist praktisch ausgeschlossen. Das muss im Umkehrschluss auch bedeuten, dass zentrale Aspekte des Binnenmarkts wie gegenseitige Anerkennung, Dienstleistungsfreiheit oder „Passporting“ für Finanzunternehmen nicht Teil eines Freihandels­abkommens werden können. Handelsabkommen wie mit anderen Drittstaaten, von der Zollfreiheit bis zur vertieften Zusammenarbeit, sind aber möglich, solange Großbritan­nien die darin üblichen Mechanismen wie Streitschlichtungsverfahren akzeptiert.

Zweitens sollten die EU-27 ihre kommunikativen Defizite beheben. Durch die Strategie „No negotiation before notification“ – keine Verhandlungen vor Beginn der „Aktivierung“ des Austrittsprozesses nach Artikel 50 – haben sie die öffentliche Kommunikation zum Brexit bis dato fast ausschließlich den Briten überlassen. Auch hat die britische Regierung angesichts der europaweit präsenten britischen Medien und der traditionellen Kommunikationsschwäche der EU-Kommission – bald Verhandlungsführerin der EU-27 – große Vorteile, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Verhandlungen werden auch die Diskussion in den EU-Staaten beeinflussen. Deshalb sollten die EU-27 die Brexit-Verhandlungen mit einer eigenen Kommunikationsstrategie begleiten.

Drittens ist strategische Geduld ein wichtiges Element. Sobald Großbritannien seine Absicht erklärt hat, die EU zu verlassen (voraussichtlich am 9. März 2017), beginnt die Zwei-Jahres-Frist. Diese kann nur einstimmig verlängert werden. Steht an ihrem Ende keine Einigung, fällt Großbritannien auf den Status eines WTO-Staates zurück. Es ist daher vor allem London, das auf eine Verständigung auf ein weitreichendes Freihandelsabkommen oder zumindest auf eine Übergangslösung angewiesen ist. Je näher das Ende der Frist rückt, desto mehr kann die EU Großbritannien vor die Wahl stellen, für die Aufrechterhaltung des Marktzugangs europäische Regeln zu akzeptieren.

Viertens ist auch die EU weiterhin an einer engen Zusammenarbeit mit dem britischen Partner in anderen Feldern jenseits des Binnenmarkts interessiert, insbesondere in der äußeren und inneren Sicherheit. Auch hier hat der „Faktor Trump“ das europäische Interessengefüge verändert. Je mehr die neue US-Administration auf Distanz zur EU (und zur NATO) geht, je mehr sie in zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit bisherigen gemeinsamen Positionen bricht, desto wichtiger wird es, Großbritannien im europäischen Mainstream zu halten. Dies betrifft u.a. die Sanktionen gegen Russland und die Ukraine-Politik, den Nahost-Konflikt, Syrien und den Iran. Die Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik sollte daher im Interesse beider Seiten von den harten Verhandlungen über die wirtschaftlichen Fragen getrennt werden.

Nicht zuletzt liegt es fünftens in der Verantwortung der EU, die besonderen Interessen einzelner Mitglieder in den Brexit-Verhandlungen gemeinsam zu schützen. Dies betrifft beispielsweise den Umgang mit EU-Bürgern in Großbritannien oder den Status von Gibraltar. Von besonderer Bedeutung ist aber vor allem die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, die mit dem Brexit zur EU-Außengrenze wird. Die bisherige Offenheit dieser Grenze ist für Irland nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch für den (nord)irischen Friedensprozess von entscheidender Bedeutung. Zudem haben knapp 20 Prozent der Einwohner Nordirlands die irische und damit die EU-Staatsbürgerschaft. Obgleich sich May für die Offenheit der irisch-britischen Grenze ausgesprochen hat: Sobald Großbritannien Zollunion und Binnenmarkt verlässt, werden Kon­trollen an der neuen EU-Außengrenze notwendig. Hier sollte die EU auf eine Lösung drängen, die die weitere Offenheit der Grenze ermöglicht – auch, um den Mehrwert der EU-Mitgliedschaft für die Vertretung einzelner Mitgliedstaaten zu demonstrieren.

Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Forschungsgruppenleiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

  • 1Beispielsweise hatte das britische Finanzministerium für das erste Jahr nach dem Brexit-Votum eine Rezession mit einem Rückgang des BIP um 6 Prozent und bis zu 800 000 neuen Arbeitslosen prognostiziert. Im Gesamtjahr 2016 betrug das britische Wachstum aber trotz Brexit-Votum 2,2 Prozent und die Arbeitslosenzahlen blieben auf Rekordtiefstand. Weitgehend erfüllt hat sich bisher nur die Prognose einer Abwertung des Pfundes um knapp 15 Prozent.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 60-65

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