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01. März 2017

Britische Trümpfe

London wird die Sicherheitspolitik in den Brexit-Verhandlungen nutzen wollen

Premierministerin Theresa May hat signalisiert, bei den Austrittsverhandlungen mit der EU auch Großbritanniens militär- und sicherheitspolitisches Gewicht in die Waagschale werfen zu wollen. Ein riskantes Spiel für die EU, aber auch für die Briten. Sinnvoll und zum Wohle aller wäre eine privilegierte Partnerschaft.

Noch haben die Austrittsverhandlungen Großbritanniens mit der EU nicht offiziell begonnen, doch ist schon klar: Kein Politikfeld dürfte vom Brexit unberührt bleiben, auch nicht die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit. Für Premierministerin Theresa May ist der britische Beitrag zur europäischen Sicherheit offenbar sogar einer ihrer wichtigsten „Trümpfe“, um einen „guten Deal“ mit der EU für das Vereinigte Königreich zu erzielen – und viele europäische Regierungen unterschätzen die Möglichkeiten, die sich London in diesem Feld jenseits (wenig glaubwürdiger) Erpressungsszenarien bieten.

Die Liste der britischen Vorteile ist lang: Neben Frankreich ist Großbritannien eine der beiden europäischen Atommächte und hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Es zählt zu den vier EU-Ländern, die die NATO-Richtlinie einhalten, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Und die britischen Streitkräfte spielen bei der kollektiven Verteidigung Europas eine wichtige Rolle, auch wenn sie in den vergangenen Jahren unter dem Spardiktat der Regierungen von David Cameron finanzielle Einschnitte hinnehmen mussten. Darüber hinaus sind die Professionalität und Ausbildungsfähigkeiten des britischen Militärs von erheblichem Nutzen für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, ebenso das diplomatische Netzwerk der Briten. Schließlich ist das Vereinigte Königreich ein unverzichtbarer Partner bei der europäischen Terrorismusbekämpfung.

Dass Großbritannien diese Fähigkeiten als direktes Druckmittel in den Brexit-Verhandlungen einsetzt, ist allerdings eher unwahrscheinlich – und wäre auch wenig ratsam. In London hört man zwar vereinzelt Brexit-Befürworter danach fragen, warum britische Soldaten ihr Leben aufs Spiel setzen sollten für missgünstige EU-Mitgliedstaaten, die Großbritannien mit einem unvorteilhaften Deal „bestrafen“ wollen. Doch ein Erpressungsszenario, in dem die britische Regierung zum Beispiel offen damit drohte, ihre NATO-Kontingente aus Osteuropa abzuziehen, falls Polen und die baltischen Staaten sich einem zoll- und barrierefreien Handels­abkommen zwischen Großbritannien und den EU-27 für die Nach-Brexit-Zeit widersetzen sollten, ist nicht zu erwarten.

Zum einen würde solch ein Verständnis von kollektiver Sicherheit und Verteidigung – dem von Donald Trump nicht unähnlich – den politischen guten Willen der EU-27 strapazieren, auf den London bei den Brexit-Verhandlungen angewiesen ist. Zum anderen wäre eine solche Drohung unsinnig: Auch nach dem Austritt aus der EU hat Großbritannien ein Interesse daran, eigene Ressourcen in die Sicherheit und Verteidigung Europas zu investieren.

Denn eine gut funktionierende europäische Sicherheitsarchitektur liegt im britischen Interesse – in der Re­ferendumsdebatte wurde besonders die NATO von den Brexit-Befürwortern immer wieder als Fundament britischer Sicherheit bezeichnet. Zudem wird London seinen Verbündeten – nicht zuletzt den Vereinigten Staaten – die ungebrochene sicherheitspolitische Bedeutung eines „Global Britain“ (Theresa May) demonstrieren wollen, was mit einem Rückzug aus der europäischen Sicherheitsverantwortung nicht zu vereinbaren wäre.

Dennoch: Die britische Regierung weiß sehr wohl um den Wert ihrer militärischen Fähigkeiten. In ihrer „Brexit-Rede“ in Lancaster House betonte May im Januar, sie sei optimistisch, dass man zu einer „angemessenen Vereinbarung“ kommen werde, denn „die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der EU ist nicht nur erforderlich, wenn es um den Handel geht, sondern auch für unsere Sicherheit“. Sie wies besonders osteuropäische Regierungen darauf hin, dass „in einer Zeit wachsender Besorgnis um europäische Sicherheit“ britische Soldaten in Polen und Rumänien ihre Pflicht erfüllten. Und sie „erinnerte“ alle EU-Staaten daran, dass britische Nachrichtendienste – „einzigartig in Europa“ – unzählige terroristische Anschläge vereitelt hätten.

May hat recht: Die EU ist auch nach einem Brexit auf die militärischen und sicherheitspolitischen Fähigkeiten Großbritanniens angewiesen – und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat die britische Verhandlungsposition in dieser Hinsicht noch einmal gestärkt. Denn Trumps „America First“-Nationalismus und seine Skepsis gegenüber multilateralen Organisationen stellen die amerikanischen Sicherheitsgarantien infrage, auf die sich Europa jahrzehntelang verlassen hat.

Besonders osteuropäische Staaten fürchten eine Annäherung zwischen Trump und Wladimir Putins Russland. Der polnische Außenminister, Witold Waszczykowski, deutete schon 2016, während Camerons Bemühungen, einen neuen EU-„Deal“ für Großbritannien auszuhandeln, Kompromissbereitschaft auf der Basis einer verstärkten britischen Truppenpräsenz in Ost­europa an.

Auch May investiert zurzeit viel Energie in enge Kontakte mit Warschau. Im Rahmen eines polnisch-­britischen Gipfeltreffens im Dezember 2016 kündigten die Premierministerinnen beider Länder eine engere Zusammenarbeit an. Zudem hat sich Polens Beata Szydlo ausgesprochen positiv zu den Bestrebungen Londons geäußert, ein Freihandelsabkommen mit der EU abzuschließen. Im Anschluss an die bilateralen Gespräche versprach May, im April eine Einheit mit 150 britischen Soldaten in Polen nahe der Grenze zu Kaliningrad zu stationieren.

Aber auch EU-Mitgliedstaaten, die weniger unmittelbar auf britischen Schutz angewiesen sind als Polen, haben angesichts geschwächter transatlantischer Beziehungen ein gesteigertes Interesse an der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Großbritannien. Besonders im Hinblick auf das europäische Sanktionsregime gegen Russland ist die EU auf die Unterstützung Großbritanniens angewiesen – erst recht, sollten die USA ihre eigenen Sanktionen gegen den Kreml lockern. Und auch in Sachen nachrichten- und geheimdienstlicher Zusammenarbeit wird das Vereinigte Königreich in einer Trump-Welt zu einem noch attraktiveren Partner: Die Vorstöße des neuen Präsidenten – ob es um Folter von Terrorverdächtigen oder ihrer Verschleppung zu extraterritorialen „black sites“ geht – sind für die meisten EU-Mitglieder inakzeptabel. Sollte die Trump-Regierung diese Ideen tatsächlich umsetzen, sähe sich Europa wohl gezwungen, die enge Zusammenarbeit mit Amerika zu lockern – Großbritannien böte sich dann erst recht als noch engerer Partner mit globaler Reichweite an.

Hoffen auf die „Anglosphere“

Die britische Brexit-Strategie – so sie denn existiert, was in London oft bezweifelt wird – fußt auf neuen Handelsabkommen mit Staaten jenseits Europas – insbesondere mit der „Anglosphere“ wie Kanada, Australien und Neuseeland –, sobald der Austritt aus der EU vollzogen ist. Eine schnelle Vereinbarung mit den USA wäre für Brexit-Befürworter eine politische Bestätigung der Entscheidung für den EU-Austritt. In diesem Kontext hat die britische Premierministerin bereits ihre Bereitschaft signalisiert, über Trumps diverse Entgleisungen hinwegzusehen, die traditionell engen Beziehungen zwischen den beiden Staaten fortzuführen und den Präsidenten noch für dieses Jahr zum Staatsbesuch einzuladen. Und May dürfte versuchen, die britisch-amerikanische „special relationship“ auch zu ihren Gunsten in Brexit-Verhandlungen auszuspielen.

Sie hat bereits angekündigt, die sich schnell weitende Kluft zwischen EU und Trump-Regierung überbrücken und zwischen beiden Seiten vermitteln zu wollen. Bei ihrem Blitzbesuch im Weißen Haus gelang es ihr, Trump ein Bekenntnis zur NATO abzuringen. Danach nutzte sie den EU-Gipfel von Malta Anfang Februar, um die (vergleichsweise harmlose) Forderung Trumps nach höheren europäischen Verteidigungsausgaben zu überbringen.

Viele europäische Staats- und Regierungschefs werden sich schwer damit tun, London in der Vermittlerrolle gegenüber den Vereinigten Staaten zu akzeptieren. Wenn May und ihre Regierung sich geschickt verhalten und ihr offenkundiges Ansehen bei Trump nutzen, um europäische Sicherheitsinteressen zu vertreten – idealerweise nach Abstimmung mit den übrigen EU-Staaten –, dürfte Großbritannien mit größerem Wohlwollen in den Brexit-Verhandlungen rechnen.

Doch je enger Downing Street’s „Sonderbeziehung“ zu Trumps Weißem Haus ausfällt, desto ­weniger Spielraum hat die britische Premierministerin, Donald Trump zu kritisieren. Und je mehr die Briten Trumps Sicht der Welt, seinen Protektionismus und seinen Nationalismus tolerieren, desto größer wird der Graben zwischen Großbritannien und der EU. Anders gesagt: Die Annäherung an Trump ist der Beginn einer riskanten Gratwanderung.

London kann blockieren

Trumps Wahl hat die Bestrebungen innerhalb der EU befördert, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu stärken. Im Anschluss an die Veröffentlichung der „EU Global Strategy“ im Sommer 2016 haben der Europäische Auswärtige Dienst, die EU-Kommission und zahlreiche Mitgliedstaaten dazu Pläne vorgelegt, zum Beispiel solche zur Schaffung eines ständigen militärischen EU-Hauptquartiers.

Diese Pläne zur stärkeren militär- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit könnten zum Schwachpunkt für die EU in den Brexit-Verhandlungen werden. Denn solange das Vereinigte Königreich noch Mitglied der EU ist, behält London auch ein Vetorecht. So kritisierte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Zusammenhang EU-interner ­GSVP-Verhandlungen vergangenen Herbst in einem Interview bereits: „Der größte Widerstand kommt von den Briten, und wir bitten um Fairness: Wer die EU verlässt, sollte nicht in den letzten Tagen noch die Karawane blockieren“ (ZEIT, 17. November 2016).

Britische Diplomaten und Beamte haben in den vergangenen Monaten zwar signalisiert, dass sich Großbritannien nicht querstellen werde, solange sich die EU-27 mit Rufen nach einer „EU-Armee“ zurückhielten und die enge Kooperation mit der NATO betonten. Doch eine neutrale britische Position ist nicht garantiert. Eine „Duplizierung“ der ­NATO-Strukturen klar abzulehnen, ist Tradition in Großbritannien – und könnte von Trumps häufig geäußerter Verachtung der EU bestärkt werden.

Europa ist also auf britisches Wohlwollen bei der GSVP-Initiative angewiesen – doch auch London würde von einem guten Arbeitsverhältnis profitieren und hat ein Interesse daran, konkrete Kooperationsformate und Assoziierungsmodelle zu entwickeln, mit denen Großbritannien auch nach dem Brexit weiter an EU-Militäroperationen teilnehmen kann, zum Beispiel zur Überwachung und Stärkung der EU-Außengrenzen.

Eine privilegierte Partnerschaft

Anstatt mit dem Veto zu drohen, sollte London lieber die eigene Position der Stärke nutzen, um im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich eine privilegierte Partnerschaft mit der EU auszuhandeln, die Großbritannien auch nach dem EU-Austritt zumindest begrenzte Mitbestimmungsrechte garantiert. Premierministerin May sollte deshalb ganz klar signalisieren, dass britische Expertise und Kapazitäten der EU auch nach dem Brexit zur Verfügung stehen.

Aber nicht nur die Briten, auch die EU-27 sollten eine pragmatischere Haltung bei der sicherheitspolitischen Kooperation mit Großbritannien einnehmen. Der Verhandlungskurs der EU ist zurzeit von einem Grundgedanken geleitet: Großbritannien darf es außerhalb der EU nicht besser ergehen als innerhalb. Damit sollen andere „Wackelkandidaten“ von Austrittsbestrebungen abgeschreckt werden.

Mit dieser Begründung sehen viele Mitgliedstaaten jedes Kooperationsformat, das Großbritannien Privilegien zusichert, kritisch. Die generelle Erwartung ist, dass es der britischen Wirtschaft außerhalb des Binnenmarkts schlechter gehen wird – was wiederum dazu führen würde, dass London seine vergleichsweise hohen Verteidigungsausgaben nicht aufrechterhalten kann.

Europa kann es sich nicht leisten, auf die britischen Kapazitäten zu verzichten. Seine Sicherheit, ohnehin gefährdet durch terroristische Bedrohungen, eine instabile Nachbarschaft im Süden und eine aggressive russische Regierung, steht ohne den amerikanischen Sicherheitsschirm auf dem Spiel. Eine strikt von den gemeinsamen Interessen geleitete, enge Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und den 27-EU-Staaten im Bereich Sicherheit und Verteidigung wäre zum Wohle beider Seiten.

Sophia Besch ist Research Fellow des Centre for Euro­pean Reform (CER) in London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 66-70

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