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01. Juli 2004

Kerry und die Neocons

Die außenpolitische Diskussion in den USA

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in den USA wird die Bedeutung der neokonservativen Berater
und Mitarbeiter der Regierung in Washington lebhaft diskutiert. Tim B. Müller referiert anhand
ausgewählter Beispiele, wie diese Diskussion in amerikanischen Zeitschriften geführt wird.

Totgesagte leben länger. Oder doch nicht? Wenn vom
Schicksal der neokonservativen Berater und Mitarbeiter der
amerikanischen Regierung die Rede ist, kann man nie sicher
sein. Die einen Beobachter sehen das Ende der Neocons
angebrochen, ob mit oder ohne George W. Bush. Die anderen
glauben, im Falle einer Wiederwahl von Bush bleibe der Einfluss
der Neocons auf die amerikanische Außenpolitik erhalten.
Bush habe das neokonservative Projekt verinnerlicht –
Amerika als eine „revolutionäre Macht“ (Robert
Kagan), die der Welt notfalls auch mit militärischen
Mitteln politische und wirtschaftliche Freiheit bringt.

Die eigentliche außenpolitische Zukunftsfrage, die in
diesen Debatten verhandelt wird, lautet: Kehren die USA zum
außenpolitischen Realismus zurück? Bricht, sobald
die erhitzte Gegnerschaft des Wahlkampfs abgekühlt ist,
die Zeit der Realpolitik an? Ist der idealistische und zugleich
militärhegemoniale Ansatz einer neokonservativen
Außenpolitik in Irak gescheitert? Lawrence F. Kaplan,
neokonservativer Vordenker der insgesamt liberalen und den
Demokraten nahe stehenden Zeitschrift The New Republic (TNR),
bringt die Positionen auf den Punkt. „Springtime for
Realism“ ist seine Stellungnahme betitelt (TNR, 21. Juni
2004). Kaplan diagnostiziert den Klimawandel in Washington:
„Es scheint, dass gegenwärtig jedermann in
Washington Realpolitiker ist“. Traditionelle Konservative
aus der Republikanischen Partei attackieren immer schärfer
ihre innerparteilichen neokonservativen Gegner – die
umfassendste Kritik an den Neocons aus diesen Reihen befindet
sich auf dem Weg in die Buchhandlungen, während dieser
Artikel gedruckt wird (Stefan Halper und Jonathan Clarke,
America Alone. The Neo-Conservatives and the Global World
Order, Cambridge University Press).

Laut Kaplan haben Berater aus dem Umkreis des demokratischen
Präsidentschaftskandidaten John Kerry die realpolitische
Wende vorangetrieben – außenpolitische Realisten
wie Richard Holbrooke und Gary Hart, die moralische
Kreuzzüge skeptisch beurteilen und die Interessen der
nationalen Sicherheit über die weltweite Durchsetzung von
Menschenrechten stellten. Die Vision einer von Amerika
befeuerten demokratischen Revolution in der arabischen Welt ist
in ihren Augen „Hybris“. Schlimmer ist für
Kaplan, dass Präsident Bush zwar visionäre Reden
hält und von der demokratischen Mission Amerikas
überzeugt ist, die Regierung aber auf einer praktischen
Ebene längst zur Realpolitik übergegangen ist. Der
technokratische Weg zur Regierungsbildung in Irak,
Verhandlungen statt Regimewechsel in Iran und Nordkorea,
Willkommensgrüße für Libyens
menschenrechtsverachtenden Diktator, reduzierte Ansprüche
an die einstige „Greater Middle East Initiative“
– vom Demokratisierungspathos sei in der politischen
Praxis wenig übrig geblieben.

Der außenpolitische Paradigmenwechsel sei längst
vollzogen, schreibt Kaplan; die Misserfolge in Irak hätten
den Anstoß dazu gegeben. Aber ist eine neue Realpolitik
überhaupt wünschenswert? Kaplan verneint und bringt
Argumente gegen den außenpolitischen Neorealismus in
Stellung: Schuld am Scheitern in Irak sei nicht der
visionäre Ansatz, sondern die miserable Umsetzung der
Ideen und der Unwille zur Nachkriegsplanung in Donald Rumsfelds
Pentagon. Rückzugs- und Teilungspläne oder die
Hoffnung auf einen neuen starken Mann scheinen realistisch,
sind aber in Wahrheit unrealistisch – sie verkennen die
Grundeinsicht der neuen Nahost-Strategie, die aus den Fehlern
der amerikanischen Nahost-Politik gelernt hat: Auf Dauer bietet
nur die Demokratie eine Garantie für die Stabilität
der Region. Sie ist „das einzige politische System, das
konkurrierende Bindungen und Interessen im heutigen Irak
ausgleichen kann“.

Kaplan verweist auf den statistisch belegbaren Zusammenhang
von politischer Unfreiheit und der Entstehung von Terrorismus.
In diesem Sinne ist für ihn der Krieg in Irak nach wie vor
ein wichtiger Schauplatz im Krieg gegen den Terrorismus, auch
wenn es derzeit dort auf Grund eigener Fehler nicht gut
aussieht. Zuletzt nimmt Kaplan den Verfechtern der Realpolitik
das zentrale Argument gegen eine visionäre,
demokratiemissionarische, neokonservative oder
„wilsonianische“ Politik: Die Realisten weigerten
sich, zwischen dem Krieg und der Demokratisierung zu
unterscheiden. Denn anders als unterstellt, sei der
militärische Weg zur Demokratie, wie er in Irak versucht
wurde, ein Sonderfall, nicht die Regel. Kaplan setzt ebenso auf
Öffentlichkeitsarbeit, finanzielle Hilfe, diplomatischen
Druck und politische Unterstützung sich selbst
reformierender Regimes.

Kaplans Analyse erlaubt einen Blick auf die politische
Psychologie Amerikas im dritten Jahr nach der großen
Katastrophe. Sie kommt zu dem Schluss, die USA seien zur
Demokratisierung des Nahen Ostens berechtigt, „denn am
11. September wurde das Ziel eines demokratischen Nahen und
Mittleren Ostens eine Angelegenheit unseres nationalen
Wohlergehens, ja sogar unseres Überlebens. Und die USA
sind dazu verpflichtet – weil der Druck in Richtung
Demokratie in der arabischen Welt entweder von den Vereinigten
Staaten oder von nirgendwo kommen wird“. Und was ist sein
letztes Wort zur Realpolitik? „Der Realismus kann den
Krieg gegen den Terror nicht gewinnen“.

Aber welche Außenpolitik hätte die Welt von einem
Präsidenten Kerry wirklich zu erwarten? In Stellungnahmen
des Kandidaten selbst in der Washington Post (27. und 30. Mai
2004) und in einem instruktiven Beitrag von Joshua Micah
Marshall, betitelt „Kerry Faces the World“ (The
Atlantic Monthly, Juli/August 2004), wird deutlich: Zwischen
Kerry und Bush bestehen allem Anschein nach nur wenige
Unterschiede in der Außenpolitik. Marshall analysiert die
außenpolitischen Strukturen und Entwicklungen der
Demokratischen Partei, und er hat sich unter Kerrys
führenden außenpolitischen Beratern umgehört.
Sein Blick hinter die Kulissen gehört zum
Verlässlichsten, was derzeit über Kerrys Pläne
in Erfahrung zu bringen ist.

Kerrys Berater – allen voran Richard Holbrooke, Joseph
Biden, Rand Beers und Jonathan Winer – hören sich
grundsätzlich an wie die Vertreter eines vorsichtigen
realpolitischen Ansatzes à la Brent Scowcroft, des
Sicherheitsberaters von George Bush sen. Das ist auch das
Selbstbild dieser Gruppe. Man sieht sich im Gegensatz zum
neokonservativen Beraterstab des Präsidenten als
unideologische, außenpolitisch erfahrene Experten. Die
nationale Sicherheit geht vor visionären
Menschheitsbeglückungsprojekten, multilaterale Kooperation
wird aus Überzeugung unilateraler Aktion vorgezogen. Die
praktischen Folgen daraus sind jedoch weniger weit von Bush
entfernt, als mancher europäische Politiker denkt.

Der einzige fundamentale Unterschied zwischen den
republikanischen und den demokratischen Außenpolitikern
besteht in der Bedrohungsanalyse. Für die Berater Bushs
geht die größte Gefahr für Amerika von Staaten
und Regionen aus, die den internationalen Terrorismus
unterstützen oder dulden. Kerrys Berater sehen die
Hauptbedrohung in international operierenden Terrornetzwerken,
die sich befreundeter oder zusammengebrochener Staaten als
Rückzugsgebiete bedienen, aber völlig unabhängig
von diesen operieren.

Eine wichtige Rolle im außenpolitischen Denken der
Demokraten spielen die so genannten „failed
states“, deren anarchische Situation von Terrorgruppen
ausgenutzt oder sogar herbeigeführt wird. Dieser Analyse
entsprechend plädieren Kerrys Berater für einen
umfassenden Ansatz, der militärische Gewalt ebenso wie
„peacekeeping“, internationale Institutionen und
Nichtregierungsorganisationen einbezieht, um gescheiterte
Staaten zu stabilisieren und auf Dauer zu demokratisieren. Zu
demokratisieren? Jawohl. Holbrooke etwa kritisiert die
neokonservative Fixierung auf militärische Macht und
betont, dass nicht zu viel Wandel in zu kurzer Zeit geschehen
dürfe, weil ansonsten Chaos und Gewalt die Folge seien.
Aber auch Holbrooke spricht sich Marshall gegenüber
dafür aus, die Ausbreitung der liberalen Demokratie
voranzutreiben. „Nation-building“ ist das
Schlüsselwort der demokratischen Außenpolitiker.

Was zunächst – auch in den Verlautbarungen des
Kandidaten Kerry selbst – wie vorsichtige Realpolitik
klingt, entpuppt sich bald als Fortsetzung der
Demokratisierungsmission, wie sie bereits Präsident Bill
Clinton seit den Balkan-Kriegen verfolgt hat. Diese
„wilsonianische“ Clinton-Linie machen die
demokratischen Außenpolitiker noch sichtbarer, die
für die nachgeordneten Führungspositionen vorgesehen
sind – Ronald Asmus, Ivo Daalder, Kenneth Pollack und
andere. Auch sie haben den „Export“ der Demokratie
auf ihre Fahnen geschrieben. Allerdings plädieren sie, wie
bereits ausgeführt, für andere Methoden, für
einen anderen Politikstil. Darin scheint der zweite
fundamentale Unterschied zur Bush-Regierung zu bestehen: Nicht
in der Substanz, sondern im Stil.

Die Verbindung von Macht und Werten, so fasst Marshall
zusammen, „sind der Kern der außenpolitischen
Vision, für die führende demokratische Denker
eintreten. Aus politischer Vorsicht suchen Kerrys
Wahlkampfberater noch nach der sicheren Mitte à la
Scowcroft, aber die außenpolitischen Berater, die einem
Präsidenten Kerry dienen würden, haben eine
gänzlich andere Vision – eine viel ambitioniertere
und expansivere als alles, was die Regierung des älteren
Bush verfolgte.“

Die Tage reiner Realpolitik sind in Washington
offensichtlich längst nicht angebrochen. Was man von Kerry
weiß, spricht für eine Verbindung realpolitischer
und visionärer Elemente. Kerry will mit Iran und Nordkorea
verhandeln, er will die Streitkräfte aufstocken und die
Truppenzahl in Irak erhöhen, und er will das faktisch
weiter bestehende Besatzungsregime internationalisieren. Mit
konkreten Folgen für die Europäer: Kerry fordert
einen Hochkommissar der Vereinten Nationen für Irak
– und das militärische Engagement der NATO in Irak.
Außerdem soll das Engagement in Afghanistan erheblich
verstärkt werden. Dort soll sich zeigen, dass sich die
„Nation-building“-Konzepte bewähren
können.

Weitere Schritte eines künftigen Präsidenten Kerry
zeichnen sich bereits ab. Ivo Daalder und James Lindsay,
Vizepräsident des Council on Foreign Relations und
ebenfalls ehemaliger Clinton-Berater, haben in der Washington
Post (23. Mai 2004) die Idee einer „Allianz der
Demokratien“ aufgebracht, die eine Alternative zu den
Vereinten Nationen sein könnte, weil diese ein
Legitimitätsproblem haben und von ineffektiven Strukturen
gelähmt werden.

Und schließlich erklären Daalder und Robert
Kagan, der außenpolitische Vordenker der
Neokonservativen, in einem gemeinsamen Artikel in der
Washington Post (20. Juni 2004): „Es würde den
transatlantischen Beziehungen den Todesstoß versetzen,
wenn sich die NATO nicht daran beteiligen würde, für
Sicherheit in Irak zu sorgen. Viele Europäer glauben, sie
hätten nur ein Problem mit der Bush-Regierung. Das ist
eine gefährliche Fehlkalkulation. Wenn John Kerry im
November gewinnt, wird eine seiner ersten Taten sein, die Hilfe
Europas in Irak einzufordern. Wenn Frankreich und Deutschland
beabsichtigen, nein zu sagen, werden künftige Regierungen,
einschließlich der Kerrys, den Wert der Allianz
überdenken müssen. Wollen die Europäer wirklich
ihre strategische Bande mit den Vereinigten Staaten kappen?
Wenn nicht, sollten sie begreifen, dass der Ball jetzt in ihrem
Spielfeld liegt.“

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 105-108

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