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15. Sep 2006

Kernwaffen im 21. Jahrhundert

Welche Rolle spielt das westliche Nuklearpotenzial heute?

Nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Funktion der „Abschreckung“ durch Atomwaffen aus dem Blickfeld geraten. Sie muss aber neu definiert werden: Was genau bedeutet nukleare Abschreckung unter den heutigen Rahmenbedingungen? Welche Gründe gibt es für Kernwaffenbesitz? Welche Strategien schrecken welche Gegner ab? Eine Bestandsaufnahme.

Betrachtet man die politische und öffentliche Diskussion über Kernwaffen in Deutschland, so stößt man auf einen merkwürdigen Gegensatz. Das Land, das einst von heftigen antinuklearen Protesten erschüttert wurde und in dem ein Kanzler über die vergleichsweise nachrangige Frage der Stationierung einiger amerikanischer Atomsprengköpfe stürzte, ist seit Jahren von einer „nuklearen Apathie“ gekennzeichnet. Nur gelegentlich erzielen Schlagzeilen über vermeintliche Pläne der USA, Kernwaffen auch vorbeugend einsetzen zu wollen, kurzfristige Aufmerksamkeit. Atomwaffen werden, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit Krisen in fernen Regionen (Indien, Pakistan), als mögliches Objekt internationalen Waffenschmuggels (Russland) oder als Proliferationsproblem – also als Gefahr neuer Nuklearmächte (Iran, Nordkorea) – wahrgenommen.

Der Zweck und die Rolle des „westlichen“ Nuklearpotenzials, also vor allem der amerikanischen Kernwaffen, denen auch eine Rolle im Rahmen der NATO zukommt, werden nicht reflektiert. Offizielle Verlautbarungen weisen diesen Waffen meist allgemein die Funktion der Abschreckung zu. Wie eine solche Abschreckung im 21. Jahrhundert, nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes und nach der Katastrophe des 11. September 2001, funktionieren soll, bleibt aber offen.

Was bedeutet also nukleare Abschreckung unter den heutigen Rahmenbedingungen? Welche Gründe gibt es für den Kernwaffenbesitz? Welche Strategien und Waffen werden benötigt, um welche Gegner von welchen Handlungen abzuschrecken?

Die politische Funktion

Ungeachtet des öffentlichen Desinteresses erleben Kernwaffen eine Renaissance. Lange als Relikt des Kalten Krieges gesehen, sind sie auch anderthalb Jahrzehnte nach dem Untergang der Sowjetunion ein wichtiger Faktor in der Weltpolitik. Die fünf etablierten Nuklearmächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA sind trotz regelmäßiger Abrüstungsbekenntnisse nicht bereit, ihr Atomarsenal gänzlich aufzugeben. Drei weitere Staaten – Israel, Indien und Pakistan – haben mittlerweile ebenfalls den Status von Nuklearstaaten erreicht. Auch Nordkorea behauptet, über Kernwaffen zu verfügen, und im Fall des Irans gibt es den begründeten Verdacht, dass die im Bau befindlichen Kernreaktoren letztlich der Waffenproduktion dienen sollen. Wenn Nordkorea und der Iran ihren Nuklearstatus etwa durch Kernwaffentests unter Beweis stellen, so dürfte dies zu weiteren Nuklearmächten in den jeweiligen Regionen führen: Japan, Taiwan oder Saudi-Arabien sind zum Atomwaffenbau grundsätzlich in der Lage.

Die Motive für den Besitz oder das Streben nach Kernwaffen unterscheiden sich im Einzelfall und waren in den sechs Jahrzehnten des Nuklearzeitalters erheblichen Veränderungen unterworfen. Dennoch lassen sich sieben Kernfunktionen herausstellen, die Atomwaffen zugeschrieben werden und ihre Attraktivität bei Besitzern wie Aspiranten begründen.

•  Erstens sollen sie einen potenziellen Angreifer vom Gebrauch seiner Kernwaffen abhalten. Auch ein nuklear hoch gerüsteter Gegner wird dadurch mit der Gefahr konfrontiert, dass ihm im Falle eines Einsatzes seiner Atomwaffen ein inakzeptabel hoher Schaden zugefügt wird. Diese Logik wurde im Ost-West-Konflikt in dem prägnanten Satz zusammengefasst: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter.“ Sie gilt heute weiter, etwa im Verhältnis von Indien und Pakistan.

•  Eine zweite Funktion ist die Abschreckung vitaler Bedrohungen gegen das eigene Territorium. Die USA und andere Nuklearmächte haben stets offen gelassen, unter welchen Umständen ein Kernwaffeneinsatz erfolgen könnte. Damit muss ein Angreifer dieser Mächte auch bei einem Gebrauch seiner chemischen, biologischen oder konventionellen Waffen mit atomarer Vergeltung rechnen. Würde ein Militärplaner einen Angriff gegen diese Länder ernsthaft erwägen, würde sein Kosten-Nutzen-Kalkül durch eine solche Abschreckungsbotschaft erheblich verändert.

•  Drittens sollen Kernwaffen auch die Sicherheit von nichtnuklearen Verbündeten gewährleisten, indem ein nuklearer Gegenschlag auch bei einem Angriff auf deren Territorium nicht ausgeschlossen wird. Im Rahmen der NATO wurde durch diese Idee der „erweiterten Abschreckung“ der amerikanische Atomschirm über das gesamte Bündnisgebiet ausgebreitet.

•  Damit hängt die vierte Funktion zusammen: Sicherheitsversprechen für Nichtnuklearstaaten verhindern die Verbreitung von Kernwaffen. So hat die Ausbreitung des amerikanischen Atomschirms dafür gesorgt, dass Länder wie Südkorea, Taiwan oder die Türkei keine eigenen Atomwaffen entwickelt haben.

•  Die fünfte Funktion von Atomwaffen ist, vitale Interessen auch außerhalb fester Bündnisstrukturen zu schützen. Als Saddam Hussein im Krieg um Kuwait einen möglichen Einsatz chemischer Waffen gegen Israel ankündigte, haben die USA dem Irak eine unmissverständliche Nukleardrohung übermittelt. Die Sicherheit Israels – obgleich selbst Nuklearmacht – war für Amerika so wichtig, dass es (vermutlich) zum Einsatz von Kernwaffen bereit gewesen wäre.

•  Für aufstrebende Nuklearstaaten und Aspiranten auf den Kernwaffenstatus (Nordkorea, Iran) ist insbesondere die sechste Funktion von Kernwaffen von Bedeutung. Der Besitz von Atomwaffen vergrößert das Spektrum politischer und militärischer Optionen eines Landes, da ein Nuklearstaat kaum noch von außen zu sanktionieren ist. Selbst bei einem Fehlverhalten ist eine Intervention nur selten zu befürchten, wenn man über einsetzbare Atomwaffen verfügt. Wäre etwa Slobodan MiloševiT im Besitz von Kernwaffen gewesen, hätte es einen NATO-Angriff auf serbische Streitkräfte wohl nicht gegeben – ganz gleich, welche Leiden die albanische Bevölkerung erduldet hätte.

•  Siebtens (und eng mit der vorgenannten Funktion verbunden) ist der Umstand, dass der Kernwaffenstatus das internationale Gewicht eines Landes und damit sein Prestige dramatisch verändert. So betonen gerade Indien und Pakistan, dass sie seit ihren Atomwaffen-tests von 1998 als ernst zu nehmende Akteure auf der internationalen Bühne wahrgenommen werden.

Voraussetzungen und Dilemmata

Damit Kernwaffen die ihnen zugeschriebenen Funktionen auch erfüllen können, müssen mindestens drei Voraussetzungen gegeben sein. Zunächst reicht es nicht aus, allein über funktionsfähige Kernwaffen zu verfügen. Ebenso wichtig ist, dass die Fähigkeit, Atomwaffen zu zünden, der internationalen Staatenwelt auch bekannt ist. Dies kann – wie im Falle Indiens und Pakistans – durch Kernwaffentests oder durch andere Formen des Beweises geschehen. Israel hat beispielsweise keine Kernwaffentests durchgeführt. Die technologische Leistungsfähigkeit des Landes sowie die Vielzahl der bekannten Informationen über aktive Unterstützung durch die USA und durch andere Nuklearmächte lassen aber keine Zweifel am israelischen Nuklearstatus aufkommen (obgleich es kein offizielles Bekenntnis Israels zum Kernwaffenbesitz gibt). Nordkorea hat zwar den Kernwaffenbesitz mehrfach behauptet, bislang aber noch nicht belegt. Die völlige Abschottung des Landes und widersprüchliche Signale der Führung in Pjöngjang lassen auch keine zuverlässigen Schlussfolgerungen über ein Kernwaffenarsenal zu. Die Abschreckungswirkung nordkoreanischer Atomwaffen – sollte es sie denn geben – ist somit beschränkt.

Neben der physischen Existenz von Kernwaffen muss zweitens auch deren Einsatz glaubwürdig und plausibel sein. Das erfordert neben technischen Gegebenheiten wie etwa ausrei-chenden Trägersystemen (Flugzeuge, Raketen) auch politische und planerische Voraussetzungen, die zeigen, dass ein Kernwaffeneinsatz ernsthaft erwogen wird. Die häufig vorgenommene Einordnung von Kernwaffen als „politische Waffen“, die nie eingesetzt werden dürften, ist eine unzulässige Verkürzung. Kernwaffen müssen militärisch einsetzbar sein, damit sie ihren politischen Zweck der Abschreckung erfüllen können.

Eng mit der Frage der Glaubwürdigkeit hängt auch die dritte Voraussetzung zusammen: Die Gefahr der Selbstabschreckung muss so gering wie möglich gehalten werden. Wenn ein Nuklearstaat nur über wenige Kernwaffen von ungeheurer Stärke oder unkontrollierbarer Strahlungswirkung verfügt, so würde er sich vor dem Einsatz dieser Waffe mehr fürchten als vor den Konsequenzen einer gegen ihn gerichteten Aggression. Ein potenzieller Angreifer könnte deshalb darauf spekulieren, der nuklearen Vergeltung zu entgehen, wenn er mit seiner Aggression unterhalb einer bestimmten Schwelle verbleibt. Die Abschreckungswirkung der Atomwaffen wäre damit eingeschränkt.

Alle drei Voraussetzungen markieren ein Grunddilemma nuklearer Abschreckung: Der Einsatz von Kernwaffen muss plausibel sein, um das Risikokalkül eines potenziellen Aggressors so zu verändern, dass er auf seine Aggression verzichtet und der Kernwaffeneinsatz unnötig wird. Oder anders formuliert: Man muss den Einsatz von Atomwaffen wollen, um sie nicht einsetzen zu müssen. Dieses Dilemma ist so alt wie die Idee nuklearer Abschreckung selbst; es ist in der Vergangenheit immer wieder heftig debattiert worden. Im Kalten Krieg führte der Versuch der beiden nuklearen Supermächte, die Glaubwürdigkeit ihrer Nukleardrohung zu erhalten und eine Selbstabschreckung zu verhindern, zu immer größeren und breiter aufgefächerten Kernwaffenbeständen – bis hin zu kleinen und kleinsten Atomsprengköpfen. Parallel dazu wuchsen öffentliche Ängste, dass ein möglichst „einsetzbares“ Atomarsenal letztlich auch eingesetzt würde. Heftige Debatten über „führbare Atomkriege“ und „nukleare Schwellen“, die durch die Stationierung bestimmter Waffen (Neutronenbombe) gehoben oder gesenkt würden, hatten zum Teil „theologischen“ Charakter: Sie basierten auf Glauben oder Nichtglauben, da die Idee der Abschreckung sich der Messbarkeit und exakten Planbarkeit prinzipiell entzieht. Stattdessen gehört ein Maß an Unsicherheit über die Absichten des Gegenübers zur Abschreckung dazu, wenn sie einen Aggressor von seinem Vorhaben abbringen soll. „Keep your opponent guessing“ war eine nuklearstrategische Grundüberzeugung im Ost-West-Konflikt.

Allerdings hat das Streben nach glaubwürdigen und „nutzbaren“ Atom-arsenalen gerade nicht dazu geführt, dass Kernwaffen auch eingesetzt wurden. Stattdessen existiert seit nunmehr sechs Jahrzehnten ein „nukleares Tabu“. Seit der Atomexplosion über Nagasaki im Jahr 1945 sind Kernwaffen nicht mehr im Krieg eingesetzt worden, obgleich es an Krisen und Konflikten nicht mangelte. Die Furcht vor den unabsehbaren Folgen einer Atomexplosion hat die Atommächte zur Zurückhaltung gezwungen, selbst wenn ihre Interessen berührt waren. Dies galt auch außerhalb des amerikanisch-sowjetischen Systemgegensatzes. Indien und Pakistan führten 1999 gegeneinander den Kargil-Krieg, ohne auf ihre Atomwaffen zurückzugreifen. Je länger das nukleare Tabu bestehen bleibt, desto größer wird seine Bindewirkung.

Offenbar sind die unauflöslichen Dilemmata der Abschreckung, die Lektionen aus den Nukleardebatten in den siebziger und achtziger Jahren sowie die Bindekraft des „nuklearen Tabus“ schon wieder in Vergessenheit geraten. Ein Beispiel hierfür ist die aufkommende Debatte über die amerikanischen Überlegungen zur Entwicklung kleiner Kernwaffen (so genannte Bunker-Brecher), um unterirdische Waffenlabors oder verbunkerte Ziele angreifen zu können. Die USA glauben, den Abschreckungseffekt amerikanischer Kernwaffen zu erhöhen, da Staaten, die illegal nach Massenvernichtungswaffen streben, mit der nuklearen Zerstörung ihrer Produktionsstätten rechnen müssen. Gegner derartiger Pläne unterstellen, die Bush-Regierung plane (wieder einmal) den führbaren Atomkrieg und wolle die Schwelle zwischen dem konventionellen und dem atomaren Krieg senken. Langfristig, so heißt es, seien sogar vorbeugende Atomschläge geplant – dem nuklearen Wahnsinn scheinen Tür und Tor geöffnet.

Nun kann man trefflich streiten, ob eine Zerstörung verbunkerter Ziele mit Kernwaffen machbar ist und ob derartige Pläne einen strategischen Sinn ergeben. Daraus aber die Absicht für einen leichtfertigen Einsatz solcher „Mini Nukes“ abzuleiten, verkennt die politische Dimension der Atomwaffen. Ein Einsatz einer amerikanischen Kernwaffe – ein Schritt, dessen Folgen nicht absehbar sind – ist nur in wirklichen Extremsituationen vorstellbar. Zu glauben, dass ein amerikanischer Präsident seine Zustimmung zum ersten Atomwaffeneinsatz seit 60 Jahren erteilt, nur um einen Bunker in der Wüste zu zerstören, ist geradezu aberwitzig. Kern der Überlegungen zur Entwicklung der „Bunker Buster“ ist, das Kosten-Nutzen-Kalkül potenziell aggressiver Staaten zu verändern, indem klargestellt wird, dass es keine Sanktuarien für die illegale Entwicklung oder Produktion von Massenvernichtungswaffen gibt. Die Risikoabwägung einer Staatsführung (oder einer Terrororganisation) verändert sich erheblich, wenn sie den Einsatz von Kernwaffen auch gegen besonders gesicherte Ziele nicht ausschließen kann. Darüber hinaus sollen regelmäßige Entwicklungsprojekte dafür sorgen, dass die nukleare Infrastruktur und das nukleare Know-how in den USA erhalten bleiben.

Was hat sich geändert?

Selbst wenn die Grundprinzipien der nuklearen Abschreckung das Ende des Kalten Krieges und die Zäsur des 11. September 2001 überdauert haben, so hat es dennoch wesentliche Veränderungen gegeben. Das gilt sowohl für die Motive für Kernwaffenbesitz als auch für die Wirksamkeit der Kernwaffendrohung gegenüber den derzeitigen sicherheitspolitischen Gefahren.

Bei den Motiven ist mit der am 11. September sichtbar gewordenen Gefahr des internationalen Terrorismus ein weiterer Grund für das Streben nach Kernwaffen hinzugekommen: nämlich die Absicht, Massenmord zu begehen. In der Vergangenheit waren die Aktivitäten politischer Terroristen (RAF, IRA, Rote Brigaden etc.) eher auf den Aufmerksamkeitswert der Aktion und weniger auf große Opferzahlen ausgerichtet. Das Interesse islamistischer Gruppen scheint dagegen auf eine Verbindung beider Effekte gerichtet zu sein: spektakuläre Anschläge und eine möglichst große Zahl getöteter „Ungläubiger“. Für diesen Zweck wären Kernwaffen am ehesten geeignet. Nukleare Sprengsätze in der Hand von Terroristen – ob als Kernwaffe oder als leichter herzustellende „Dirty Bomb“ (konventioneller Sprengstoff mit strahlenden Substanzen vermischt) – sind deshalb eine realistische Option.

Bei der Wirksamkeit nuklearer Abschreckung hängt der Grad der Veränderung von den jeweiligen Bedrohungen ab. Gegenüber terroristischen Gefahren sind Atomwaffen in dreifa-cher Hinsicht unwirksam. Zum einen gibt es – anders als im zwischenstaatlichen Bereich – meist keinen klar definierten Adressaten der nuklearen Vergeltungsdrohung. Folglich können terroristische Hauptquartiere nur selten in die Zielplanung für Atomschläge aufgenommen werden. Zweitens versagt bei fanatisierten und zum Sterben bereiten Attentätern die klassische nukleare Abschreckungslogik, die auf einem wechselseitigen Über-lebensinteresse beruht. Drittens sind Kernwaffen aufgrund ihrer gewaltigen Zerstörungswirkung meist auf großflächige oder besonders geschützte Ziele ausgerichtet. Einzelne Terrorgruppen oder deren Ausbildungscamps mit Nuklearwaffen anzugreifen, wäre völlig unverhältnismäßig und wäre mit einer erheblichen Selbst-abschreckung verbunden – gerade weil jeder Atomwaffeneinsatz das nukleare Tabu brechen würde.

Gegenüber potenziell gefährlichen Regimen (Nordkorea, Iran), die mit Kernwaffen oder anderen Massenvernichtungsmitteln drohen könnten, bleibt nukleare Abschreckung sehr wohl wirksam, allerdings haben sich die Voraussetzungen geändert. Die atomaren Arsenale dieser so genannten „Rogue States“ werden, so weit sie überhaupt vorhanden sind, auf absehbare Zeit klein bleiben. Gleiches gilt für Waffenlabors, Lagerstätten oder sonstige „High Value“-Ziele, die nuklear bedroht werden könnten. Folglich bedarf es weder der gewaltigen Kernwaffenzahlen des Kalten Krieges noch der Auffächerung der Waffen in unterschiedlichste Typen und Kategorien, um einen nuklearen Abschreckungseffekt zu erhalten.

Auch die Verbindung von Rogue States und Terrorismus, die Gefahr also, dass verantwortungslose Regime Kernwaffen an Terrorgruppen weitergeben, ist nuklear zumindest begrenzt abschreckbar. Es setzt allerdings voraus, dass ausreichendes Wissen über den Transfer der Waffen und über das Ursprungsland vorliegt. Nur dann kann eine unmissverständliche zielgerichtete Vergeltungsdrohung ausgesprochen werden. Damit kommen dem Faktor Information und der Rolle der Nachrichtendienste im anstehenden „Zweiten Kernwaffenzeitalter“ (Michael Rühle) eine herausragende Bedeutung zu. Um so dramatischer sind das Versagen der Geheimdienste und die Fehlinterpretation nachrichtendienstlicher Erkenntnisse durch die Politik im Fall des Iraks zu bewerten.

Konsequenzen

Keine der derzeitigen Atommächte wird in absehbarer Zeit auf ihr Nukleararsenal verzichten. Weitere Länder stehen unmittelbar vor der Nuklearfähigkeit oder streben sie an. Damit wird die Zahl der Kernwaffenstaaten steigen und nicht abnehmen.

Für die „westlichen“ Atomwaffen, insbesondere für die Kernwaffen der USA, gibt es nach wie vor eine Abschreckungsfunktion gegen eine Reihe möglicher Gefährdungen. Sie ist allerdings im Vergleich zur Zeit des Ost-West-Konflikts erheblich geringer geworden. Konventionellen Streitkräften kommt in der militärischen Krisenbewältigung eine ungleich größere Rolle zu. Daraus folgt, dass die Zahl amerikanischer Kernwaffen, über die bereits erfolgten Abrüstungsschritte hinaus, weiter erheblich reduziert werden kann. Auch bedarf es nicht mehr des breiten Spektrums verschiedenster Waffentypen, um alle Stufen der Eskalationsleiter lückenlos abdecken zu können. Nach wie vor verfügen die USA (wie andere Nuklearmächte auch) über Kernwaffenkategorien, für die sich kaum eine strategische Begründung finden lässt.

Auch im Rahmen der NATO bedarf es eines Klärungsprozesses über die Rolle von Kernwaffen, da amerikanische Atombomben noch auf dem Territorium von NATO-Staaten stationiert sind. Verkürzte Begründungen in Kommuniquésprache, nach denen Kernwaffen für das Bündnis „essenziell“ seien, reichen nicht mehr aus. Eine auch gegenüber der Öffentlichkeit plausibel vertretbare strategische Rechtfertigung von NATO-Nuklearwaffen muss in der Diskussion mit allen NATO-Mitgliedern entwickelt werden. Die „Nuklearfrage“ – obgleich öffentlich vernachlässigt – wäre deshalb eines der zahlreichen Themen für einen transatlantischen Sicherheitsdialog.

Ein Nachdenken über die künftige Rolle von Kernwaffen kann auch zu dem Schluss führen, dass es, neben nuklearer Abrüstung, im Einzelfall auch der Neuentwicklung von Kernwaffen bedarf. Solche Entwicklungsarbeit kann dazu dienen, die Sicherheit und Zuverlässigkeit des existierenden Bestands zu erhalten oder auf neue Gefahren zu reagieren. Ob das umstrittene Konzept der „Mini Nukes“ den richtigen Weg zur Stärkung der nuklearen Abschreckung weist, ist debattierbar. Bisher werden diese Waffen nicht produziert, es werden lediglich Vorstudien erarbeitet. Daraus aber abzuleiten, dass der Atomkrieg führbar gemacht werden soll, verkennt nahezu sämtliche Erfahrungen aus den vergangenen Jahrzehnten nuklearer Abschreckungsrealität. Solche Folgerungen zeigen, wie dringend es einer aufgeklärten Debatte über Kernwaffen bedarf.