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01. Sep 2007

Keine Religion wie jede andere

Im Westen ankommen - aber wie? Wege zur Integration des Islam

Über Jahrhunderte verkörperte der Islam für Europa das „Andere“, zuweilen gar den Feind. Doch heute gilt es, Wege zu finden, muslimische Religiosität in Europa zu integrieren. Voraussetzung dafür: der Abschied von einem primär national regulierten und an der ethnischen Herkunft orientierten Religionsverständnis.

Ob die Länder der Europäischen Union die Muslime unter ihren Bürgern und Einwanderern angemessen repräsentieren wollen und integrieren können, ist eine wichtige Frage. Sie fällt aber nicht ohne weiteres mit der Frage zusammen, ob „der Islam“ in Europa einen Ort, eine Legitimität, eine Zukunft hat. Trotz exemplarischer Streitfälle um Kopftücher und Moscheen – oder: auch wegen dieser Konflikte und der in ihnen ausgetesteten Regeln – hat die Integration von Muslimen in Westeuropa im vergangenen halben Jahrhundert unzweifelhafte Fortschritte gemacht; für die Länder Osteuropas fehlt es bisher an Erfahrungen. Doch hat sich im vergangenen Jahrzehnt die generelle, meist diffuse Einstellung gegenüber dem Islam stärker ins Negative gekehrt.

Viele Muslime (und natürlich auch viele Nichtmuslime) würden daher bereits die Frage nach der Rolle des Islams in Europa als unzulässige Diskriminierung zurückweisen. Etwa mit dem Argument: „Mein“ Islam gehört einzig mir! Mein ureigenes Verhältnis zur Offenbarung, wie sie Gott, der Herr der Welten, der Allerbarmer, der Barmherzige, im heiligen Koran dem Gesandten Mohammed hinterließ, ist ausschließlich meine Privatsache.

Ist denn der Islam keine Religion wie jede andere auch? In der europäischen Wahrnehmung ist er dies nicht; denn nach den Worten des großen französischen Republikaners, Religionswissenschaftlers und Aufklärers Edgar Quinet (1803–1875) verkörperte Mohammed für die Geschichte des Orients „zugleich Kopf und Arm“, er war „ebenso Christus wie Napoléon“, denn er legte nicht nur das neue religiöse Dogma fest, sondern setzte es auch in der sozialen Wirklichkeit durch. Für den Ort, die Rolle, die Zukunft des Islams als Bestandteil europäischer Gemeinwesen aber gibt es kein historisches Modell. Auch deshalb, weil er in der historischen Erinnerung Europas dessen Anderes, sein Gegenüber, in bestimmten Epochen seinen Feind darstellt.

Und was – überhaupt – wäre wohl eine Religion „wie jede andere auch“? Gibt es einen sich ausschließlich auf private Frömmigkeit beschränkenden Islam? Einen Islam ohne jede öffentliche Sichtbarkeit, ohne allgemein-gesellschaftliche Relevanz, ohne weitergehende ethisch-politische Ansprüche? Gewiss gibt es diese religiöse Haltung in weiten Kreisen europäischer Muslime. Vielleicht ist es die einer schweigenden Mehrheit – so wie es längst die Einstellung vieler europäischer Christen zum eigenen Glauben ist (wenn nicht ihrer Mehrheit – allerdings nicht das Selbstverständnis der christlichen Kirchen!). Ein derart privatisierter, um jede öffentliche Dimension beschnittener „Islam“ würde freilich wenig Anlass geben zum nicht erst seit (und wegen) „9/11“ allseits waltenden Streit um den Islam und Europa, den Islam und den Westen, Islam und Moderne.

Verwirrende Bedeutungsvielfalt

Bei der Diskussion über „den Islam“ in Europa geht es überhaupt nicht um die persönliche Religiösität einer (nicht nur durch Einwanderung) wachsenden Anzahl europäischer Muslime. Unklar für die öffentliche Meinung ist vielmehr in den meisten europäischen Ländern der politische Status der religiösen Botschaft des Propheten Mohammed. Immerhin verwenden wir Europäer den Ausdruck „Islam“ in einer Vielfalt von Bedeutungen, auf die vor einem Jahrhundert bereits der deutsche Orientalist Carl Heinrich Becker hinwies. Der Mitgründer des Hamburger Kolonialinstituts und Begründer der Zeitschrift Der Islam lehrte an den Universitäten Bonn und Berlin Islamwissenschaft, in der Weimarer Republik war er als Staatssekretär für Wissenschaft und Unterricht auch politisch aktiv.

Becker warnte vor jenen Verallgemeinerungen, die in seinen Augen bestenfalls von Unkenntnis zeugen: Wer würde es etwa wagen – ohne sich dabei lächerlich zu machen – die Auffassungen der abessinischen Kirche umstandslos mit der christlichen Religion des Protestantismus zu identifizieren? In einem programmatischen Aufsatz mit dem Titel „Islam als Problem“ (1910) unterscheidet Becker zwischen dem Islam als Bezeichnung einer Religion, dem Islam als einem der großen orientalischen Weltreiche – samt der zahlreichen aus dessen Ruinen entstandenen Staaten – und schließlich dem Islam als Zivilisation, welche Staat und Religion umfasst und verbindet.

Seinen Ursprung verdanke der Islam gewiss einer religiösen Erfahrung; aber zwischen der ursprünglichen religiösen Einstellung des Propheten Mohammed und der „panislamischen Tendenz“ der Gegenwart bestehe ein gewaltiger Bruch. Die Ausbreitung des Islams sei wie die Völkerwanderungen des 7. Jahrhunderts ökonomischen und politischen Faktoren geschuldet, sie sei die Folge von landwirtschaftlicher Dürre, demographischem Druck und Stammeskonflikten auf der Arabischen Halbinsel, zu denen sich noch das politische Genie eines Mohammed gesellt habe. Die einheitliche islamische Zivilisation sei hingegen kein originäres Produkt der arabischen Kultur mehr, sondern eher von aramäischen, griechischen und persischen Eliten geschaffen worden. Ebenso wie das europäische Mittelalter sei sie ein legitimes Erbe des Hellenismus und der griechisch-römischen Kultur, die nicht nur die philosophischen Synthesen aus Aristotelismus und spätem Platonismus eines Al-Farabi oder Ibn-Sina geprägt habe, sondern auch die Systematik der islamischen Rechtsschulen: „Ohne Alexander den Großen keine islamische Zivilisation!“ Und wegen dieser unserer gemeinsamen hellenistischen Matrix, so Becker, gehöre die islamische Zivilisation weitaus eher zu Europa als zu Asien. Und dies gelte auch dann, wenn ein Großteil der islamischen Völkerschaften „ethnographisch“ gesehen inzwischen aus Asien stamme.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Europa auch offiziell zum Kontinent von Einwanderungsländern geworden. Allein deshalb hat die Vielfalt gegensätzlicher Bedeutungen und widersprüchlicher Erfahrungen „des Islams“ zugenommen. Der Islam, was immer er sei, ist heute jedenfalls kein bloßes Außen mehr – keine bloße Brücke und Barriere gen Asien, wie ihn der Orientalist Becker verstehen wollte. Zugleich werden in unserer Binnenwahrnehmung die europäischen Muslime gleichzeitig als Repräsentanten „des Islams“ wahrgenommen. Auch wenn sie „nur“ an Gott glauben, werden sie durch ihre Religionszugehörigkeit zu Vertretern eines historischen Antagonisten europäischer Mächte, eines kulturell signifikanten „Anderen“. Es hat Konsequenzen für die europäische Identität – und auch für die Rolle von Muslimen in Europa –, ob das politische Europa am Bosporus endet oder nicht.

In Ermangelung einer berechenbar stabilen „Neuen Weltordnung“ gerät europäische Innen- und Außenpolitik im Umgang mit religiöser Fremdheit immer häufiger in undurchschaubare Gemengelagen. Fragen der Kultur- und Sozialpolitik bei der zivilen Integration und politischen Gleichberechtigung von Muslimen in Europa tangieren auch die Außenpolitik – und das nicht nur aufgrund des islamistischen Terrorismus und des „war on terror“.

Zwei historisch-politische Register seien im Folgenden kurz angesprochen: Zum einen kennt die europäische Gedächtnisgeschichte recht unterschiedliche politische Bruchlinien zum Islam als Europas historischem „Anderen“; zum anderen repräsentieren die europäischen Muslime auch im erst entstehenden gemeinsamen politischen Raum „Europa“ den noch ungeklärten Ort öffentlicher Religionen und religiöser Öffentlichkeit.

Die orientalische Frage

In Europas jüngster Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte vertritt der Islam – schematisch vereinfacht – zwei miteinander verknüpfte, aber unterschiedliche Bruchlinien der Erinnerung: Für die Länder Mittel- und Osteuropas verkörpern Muslime zunächst die Erinnerung an die „orientalische Frage“, also den langen Niedergang des osmanischen Vielvölkerreichs; in West- und Nordeuropa, vor allem für die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, sind sie mit der keineswegs bewältigten Geschichte von Kolonialismus und Entkolonialisierung verknüpft.

Seit dem 18. Jahrhundert präsentierte sich in der „Bilance von Europa“ (Gottfried Wilhelm Leibniz) die orientalische Frage als Entscheidung zwischen einer außen-politischen Allianz mit Moskau oder mit der Hohen Pforte von Istanbul. Würden heute die Europäer den Spuren Voltaires folgen, der die große Zarin Katharina voller Begeisterung zu ihrem antitürkischen Feldzug (1768–1774) anfeuerte, wäre dies verhängnisvoll. Nach der russischen Eroberung der Krim, so hoffte nämlich Voltaire, der „Weise von Ferney“, werde „Madame“ Kaiserin die verhassten Türken aus Europa vertreiben, um in Konstantinopel den oströmischen Kaiserthron erneut zu besteigen.

Die Trennung von Kirche und Staat, von ziviler Gesellschaft und politischer Macht, die seit dem Ende der christlichen Konfessionskriege der frühen Neuzeit in der einen oder anderen Gestalt zur Grammatik westlicher Freiheit gehört, war weder in der Tradition des zaristischen Russlands noch im Osmanischen Reich bekannt. In beiden Imperien des Ostens versuchten dann im 20. Jahrhundert revolutionäre Eliten, den Westen nicht nur technologisch, wissenschaftlich und ökonomisch einzuholen, sondern auch die „führende Rolle“ religiöser Gesetzlichkeit durch wissenschaftlich angeleitete Politik zu ersetzen. Doch ohne zivile Freiheit kamen diese Revolutionen von oben – ganz in der Tradition Zar Peters I. (1682–1725) oder Sultan Mahmuds II. (1808–1839) – vor allem als expansive Modernisierung der repressiven und ideologischen Staatsapparate daher: Lenins bolschewistische und Mustafa Kemals nationalistische Moderne siegten durch Krieg, Zwangsvertreibung und Massenmorde (an Kulaken und Armeniern); in beiden Ländern unterdrückte eine wissenschaftliche Weltanschauung als „politische Religion“ jedes andere Credo. Beide Revolutionen, die bolschewistische und die kemalistische, sollten gut sieben Jahrzehnte nach ihrem Sieg scheitern – freilich auf ganz unterschiedliche Weise: Der sowjetische Kommunismus brach auch an seiner imperialistischen Anmaßung zusammen; dem Kemalismus aber gelang es nicht, das eigene Volk von der Unfehlbarkeit der laizistischen Weltanschauung zu überzeugen. Das Erbe des „homo sovieticus“ übernahm keine blühende zivile Gesellschaft, stattdessen traten neue Oligarchen, alte Apparatschiks und häufig ethnische Mafias an seine Stelle. Der Kemalismus hat aber in der Türkei die Volkskultur offenbar noch weniger zerstören können als der Bolschewismus in Russland. Der jüngste Aufschwung des Islamismus in der Türkei und seine Modernisierung unter der Ägide von Tayyip Erdogans Gerechtigkeitspartei stellen ja auch eine moderne Replik der reichen Tradition aus Sufi-Orden, Zünften und Bruderschaften dar. Diese war schon im Osmanischen Reich vielfältiger, als es der Kadi erlaubte.

Heute kann sich ein traditioneller Volksislam gegenüber den modernistischen Bürokraten und nationalistischen Eliten in Ankara und Istanbul offenbar gerade deshalb behaupten, weil er sich politisch modernisiert: Auch die Gerechtigkeitspartei vertritt nicht mehr allein die muslimische Mittelschicht aus der Provinz mit ihrem quasi-„calvinistischen“ Gewerbefleiß. Spätestens seit den Wahlen vom Juli dieses Jahres scheint sie auch für Liberale und andere Minderheiten jedenfalls „taktisch“ wählbar.

Die postkemalistische Türkei braucht den kritischen Beistand Europas, um gefährliche Alternativen zu überwinden: zwischen kemalistischem Etatismus und neureicher Korruption, zwischen laizistischer Staatsdoktrin und „saudischem“ Islamismus. Dann könnte der Bosporus in der Tat eine Brücke zur islamischen Moderne werden. Die Frage nach der kulturellen und politischen Identität türkischstämmiger Muslime in Europa wird aber auch durch eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei noch keineswegs beantwortet.

In Mittel- und Osteuropa insgesamt bleibt das Verhältnis zum Islam zudem durch die Erinnerung an das Osmanische Reich kontaminiert – nicht zuletzt die Massenmorde an bosniakischen Muslimen im letzten Balkan-Krieg zeugten davon. In den christlich-orthodoxen Nationen auf der Balkan-Halbinsel hat sich nämlich seit dem Untergang des Kommunismus in der Tat eine verhängnisvolle „Islamophobie“ verfestigt, für die es im europäischen Westen kein Äquivalent gibt.

Das Erbe des Kolonialismus

In den Metropolen der ehemaligen Kolonialreiche Frankreich und Großbritannien hingegen vertreten muslimische Bürger und Einwanderer zunächst das Erbe des Kolonialismus. Noch die heutige Politik der Integration von ehemaligen Kolonialuntertanen (und ihrer Kinder) stellt gewissermaßen die Fortsetzung oder Kehrseite der ehedem in Übersee betriebenen Reglements dar.

So wirkt der angelsächsische „Multikulturalismus“ mit seinem hohen Grad an öffentlicher Autonomie für die muslimischen Gemeinden auf den britischen Inseln wie die aus dem Commonwealth heimgekehrte und nach innen gekehrte Form des „indirect rule“, mit dem das britische Empire die Kolonien vornehmlich durch die lokalen Eliten, ob Maharadschas oder Stammesfürsten, regieren ließ. Im Gegensatz dazu bestreitet der in Frankreich praktizierte Assimilationismus muslimischen Gemeinden jede eigenständige politische Identität – wie auch zuvor die französische Kolonialkultur nichts anders sein sollte als die Ausweitung und Durchsetzung der einen und unteilbaren Nationalkultur der laizistischen Republik Frankreich auf zivilisatorischer Mission in Übersee. Die Integration von Muslimen in Skandinavien und den Niederlanden ähnelte bisher – grosso modo – eher dem britischen Modell.

In Deutschland suchen die Beteiligten noch nach Formen, eine religiöse Identität von Muslimen in die Struktur eines weltanschaulichen „Marktes“ einzupassen, der weiterhin durch das institutionelle Oligopol der beiden großen Konfessionen bestimmt bleibt. Dass die nur eine Minderheit der Gläubigen repräsentierenden islamischen Verbandsvertreter ein großes Interesse daran haben, in den Besitz deutscher Religionsprivilegien zu kommen, versteht sich von selbst – aber solche Chancen wären eher die Konsequenz des deutschen Staatskirchenrechts als der Tradition religiöser Selbstorganisation von Muslimen. An sich käme ein derart von Staats wegen wohlwollend gesponserter „quasi-konfessioneller“ offizieller Islam am ehesten dem türkischen Amt für Religionsangelegenheiten DIYANET nahe. Aber wie dessen deutscher Ableger DITIB würde er wohl die sozial konservative sunnitische Mehrheitstradition der Türkei bevorzugen und andere Konfessionen und Theologien innerhalb der islamischen Gläubigen (wie die Aleviten und die Ismaeliten) benachteiligen.

Furcht um die Pfründe

Nach den Analysen des französischen Islamwissenschaftlers Olivier Roy scheitern nun alle diese Gestaltungsversuche der Integration muslimischer Religiosität in die nationalen Gesellschaften Europas und ihre politische Öffentlichkeit zunehmend an ihrer „neo-ethnischen“ Verengung. Denn ausgerechnet im sich erweiternden Europa behandelt die Religionspolitik „den Islam“ immer noch eher als Attribut von Herkunftsgruppen – von britischen Indern oder Pakistanis, von Deutsch-Türken, von frankophonen Maghrebinern usw. – und nicht so sehr als autonome Religion: als Hingabe an Gott allein.

Daran sind nun die angestammten Platzhalter der öffentlichen Religion in Europa, die christlichen Kirchen, nicht unschuldig. Bislang beschränkte sich ihr europäisches Engagement nämlich vorwiegend auf symbolische Nebenkriegsschauplätze wie den Kampf um eine „christliche“ oder doch zumindest religiöse Präambel in einer möglichen EU-Verfassung. Was die Konstituierung einer europäischen Öffentlichkeit der Religionen hingegen angeht, so hielten sich Brüsseler Religionslobbyisten und kirchliche Entscheidungsträger zurück. Einig war man sich nämlich darin, die diversen nationalen Staatskirchenrechte, ihre öffentlichen Hoheitsprivilegien und (Steuer-)Gelder auf keinen Fall anzutasten. National privilegierte Kirchen (wie in Deutschland, England und Italien) hätten schließlich im neuen Europa den Verlust von Vorrechten aus ihren Konkordaten und Staatsverträgen fürchten müssen. Katholische Bischofskonferenzen in Deutschland, Österreich oder Italien scheuten ebenso wie die lutheranischen Nationalkirchen Skandinaviens eine europaweite Entflechtung von Kirche und Staat. Gerade das institutionelle „Europa“ zementiert somit Identität und Macht der christlichen Kirchen weiterhin als nationale Größen – und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die religiöse Kommunikation, ihre spirituellen Dialekte, aber auch die Konversionen (zu dieser oder jener Religionsgemeinschaft) immer transnationaler werden.

Falsches Signal

Die Ursache für das Anwachsen der islamischen Bevölkerung in ganz Westeuropa ist weitgehend ein- und dieselbe: die Immigration samt ihrer Folgen. Wie man aber damit umgeht, hängt mit den national unterschiedlichen, teils imperialen, teils kolonialen Traditionen und Erinnerungen zusammen. Zwar gibt es in verschiedenen Ländern mittlerweile erste Schritte auf dem Weg hin zu einer offiziellen Institutionalisierung von islamischen Religionsgemeinschaften – am weitesten ist man hier in Österreich, das auf Ansätze aus der KuK-Monarchie zurückgreifen kann. Doch noch geschieht dies aus primär nationalen Erwägungen und mit – Beispiel Frankreich und Deutschland – vollkommen gegensätzlichen Modellen.

Für die geographischen Ränder der Europäischen Union, gen Osten und Südosten, gibt diese weiterhin ausschließlich nationale Verantwortung der Religionspolitik das exakt falsche Signal. Die in den osmanischen wie byzantinischen Reichstraditionen überlieferte Vermischung von nationalen und religiösen Identitäten wird damit scheinbar auch im Westen verfestigt. Längst ist zwar der Anglikanismus auch als (absterbende) Staatsreligion Großbritanniens keine Bedrohung für Muslime oder Hindus in Greater London mehr. Doch in Ländern wie Russland oder Kasachstan ist das nationale Vorrecht der ethnisch-religiösen Mehrheit, auch die Mitgliedschaft in religiösen Minderheiten zu regeln, zu kontrollieren und – durch fragwürdige Registrierungsverfahren – einzuschränken, bis heute ungebrochen.

Ein derart primär national reguliertes und an der ethnischen Herkunft orientiertes Religionsverständnis des Islams aber widerspricht vor allem dessen universeller Idee – wie der erwähnte C. H. Becker bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts feststellte. Wie das Christentum ist ja der Islam eine universalistische Religion, die sich nicht auf ein nationales Selbstverständnis einengen lässt. Unter den Bedingungen einer Globalisierung der religiösen Kommunikation könnte der Islam daher jede Fixierung auf ethnische Identitäten und Herkunftskulturen abwerfen – ebenso wie das Christentum seine nationalkirchlichen oder nationalreligiösen Ideen weitgehend hinter sich gelassen hat.

An eine internationalistische Deutung der Botschaft des Propheten aber knüpfen nicht nur die dschihadistischen Netzwerke neuer Generationen der Sympathisanten des salafistischen Terrors an. Ein neuer religiöser Universalismus bestimmt zunehmend auch die Gestalten und Codes der Gottsuche unter puritanischen Fundamentalisten im internationalen (und Online-)Islam; aber auch von liberalen Pluralisten und hermeneutischen Schriftgelehrten aus dem Geiste eines Ibn’Arabi.

Solche neuen Muslime wollen keine geistigen Ordnungshüter „gemäßigter“ islamischer Monarchien oder Demokraturen sein; sie leiden am verbreiteten antiwestlichen Ressentiment als einer „Krankheit des Islams“ (Abdelwahab Meddeb) ebenso wie an der religiösen Ignoranz ihrer Gesprächspartner im Westen; und sie wollen auf keinen Fall zurück zum maghrebinischen oder anatolischen Volksislam ihrer Eltern oder Großeltern. Also muss sich ihr Islam – nicht nur in den muslimischen Gemeinden Europas – von jeder Fixierung an politische Modelle der Vergangenheit und ethnische Nostalgien befreien.

Vielleicht streben solche „born-again muslims“ nach einer „geistigen Allgemeinheit [im Gottesbegriff], einer Reinheit ohne Schranken und ohne Bestimmung“, nach einem Gottesdienst, dessen „Subjekt keinen anderen Zweck hat als die Verwirklichung dieser Allgemeinheit und Reinheit“. So charakterisierte vor knapp zwei Jahrhunderten Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte den Geist des „Mohammedanismus“. Zum Fanatismus gewandt, könne sich dieser Geist der monotheistischen Abstraktion „verwüstend und zerstörend gegen das Konkrete“ wenden. „La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur.“ Als reine Hingabe aber an den wahren Gott, als „allumfassende, durch nichts aufgehaltene und nirgends sich begrenzende Begeisterung“ sei der Islam zu höchster Erhabenheit fähig. Warum sollte er sie nicht auch in Europa entfalten?

Prof. Dr. OTTO KALLSCHEUER, geb. 1950, ist Philosoph, Politikwissenschaftler und freier Autor, u.a. für die FAZ, die NZZ und DIE ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2007, S. 8 - 15.

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