Vatikan und Weltbühne
Politische Zwischenbilanz Benedikts XVI.
Als „Gespenst des toten Römischen Reiches, das gekrönt auf dessen Grab sitzt“ bezeichnete einst Thomas Hobbes das Papsttum. Gibt es heute, dreieinhalb Jahrhunderte nach Hobbes, vernünftige Gründe für eine politische Präsenz des Heiligen Stuhls auf dem internationalen Parkett?
Nicht alles Reale ist, nur weil es existiert, rational. Nicht alles Wirkliche ist vernünftig. Nicht alles, was die biologische, kulturelle, politische Evolution irgendwann einmal hervorgebracht hat, muss deshalb auch bestehen bleiben. So gab es etwa im 17. Jahrhundert gute Argumente dafür, das Papsttum als einen hoffnungslosen Anachronismus anzusehen, wie das der Begründer der modernen Wissenschaft von der souveränen Staatlichkeit tat. Für Thomas Hobbes umfasste das politische Gewaltmonopol des frühmodernen Staates auch die symbolische Staatsordnung. Dagegen sei der päpstliche Anspruch auf eine übergreifende geistliche Macht ein Ammenmärchen. Ihren Ursprung habe dieses „fairy tale“ im Verfall einer bestimmten politischen Macht, der des Römischen Reiches: „Das Papsttum ist nichts anderes als das Gespenst des toten Römischen Reiches, das gekrönt auf dessen Grab sitzt. Denn so erhob sich das Papsttum plötzlich aus den Trümmern der heidnischen Macht.“
Ohnmacht als Chance
Gibt es heute, dreieinhalb Jahrhunderte nach Hobbes, vernünftige Gründe für eine politische Präsenz des Vatikans auf der Weltbühne? Nachdem die staatliche Macht des Papsttums längst auf „eine winzige und quasisymbolische weltliche Souveränität“ reduziert ist, wie Paul VI. 1965 vor der UN-Vollversammlung ausführte, kann es dabei nicht um jene reine Machtpolitik gehen, an der sich frühere Päpste ja durchaus aktiv beteiligt hatten, sondern nur um eine metapolitische Rolle. Doch im Rahmen dieser normativen Politik gibt es durchaus Argumente für eine aktive Präsenz des Heiligen Stuhls in der internationalen Arena.
In der entstehenden Weltöffentlichkeit könnte eine solche Präsenz zur Zivilisierung religiöser Konflikte beitragen. Und zwar nicht nur, weil der Vatikan im Gegensatz zum nationalen Machtstaat eine Institution darstellt, die auf die Anforderungen der Globalisierung bestens eingestellt ist. Sondern auch, weil sie über professionelle Routine und sachkundige, sprich: in normativer Politik ausgebildete Akteure verfügt und im Rahmen weltweit anschlussfähiger Prinzipien handelt.
Seit gut zweieinhalb Jahrzehnten zeichnet sich die Weltpolitik bekanntlich durch eine Rückkehr religiöser Motive, Symboliken und Konfliktdeutungen aus. Ethnische Differenzen und Identitätskonflikte, zivilisatorische Unterschiede oder Machtinteressen werden heute weitaus stärker religiös interpretiert als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts; und diese Konflikte werden im Zeitalter von CNN, Al-Dschasira und Internet fast unmittelbar „in Echtzeit“ in alle Welt verbreitet. Freilich können sie auch durch religiöse Deutung aufgehoben, relativiert oder überwunden werden.
Die im laizistisch entstandenen Indien von religiösen Nationalisten erfolgreich betriebene Ideologisierung des Hinduismus zur „Hindutwa“, zur nationalreligiösen Weltanschauung mit Suprematieanspruch, die unweigerlich eine Gegenradikalisierung der diskriminierten muslimischen Minderheit hervorbringt, wäre ein Beispiel für die erste Alternative. Das von Papst Johannes Paul II. im Oktober 1986 initiierte Treffen von Vertretern aller Weltreligionen zum gemeinsamen Friedensgebet in Assisi wäre ein Exempel des zweiten Weges. Eine Alternative, die unter den Bedingungen der Globalisierung an Relevanz gewinnt.
Ein Papst für Buddhisten?
Gibt es denn außer der Katholischen Kirche noch andere weltweite Institutionen einer transnationalen „Religionspolitik“? Weder innerhalb der Christenheit noch in anderen Weltreligionen kann davon die Rede sein. Der in seinen Anfängen auf die protestantische Missionsökumene zurückgehende Weltkirchenrat vermochte zwar in den siebziger und achtziger Jahren, in der Hochzeit des Anti-Apartheid-Kampfes und der Friedensbewegung, weltweit Hoffnungen auf „christliche“ Konfliktüberwindung zu wecken. Doch kam es auch in diesen Jahren nicht zu einer theologischen Verständigung zwischen christlichem Westen und Osten – zwischen dem eher liberalen Protestantismus und der traditionellen Spiritualität der griechischen, russischen oder serbischen Orthodoxie. Gegenüber den abseits der historischen Großkirchen weltweit explosiv anwachsenden Pfingstkirchen ist der Ökumenische Rat hilflos; derzeit scheint er durch interne Krisen in seinem Bestand gefährdet.
Und jenseits der Christenheit? Ist vielleicht der Dalai Lama eine Art „Papst für Buddhisten“? So fragwürdig eine Analogie zwischen dem vielgestaltigen Buddhismus und den christlichen Kirchen auch sein mag: Es gibt im Falle des tibetischen Oberhaupts immerhin eine Art Parallele zur katholischen politischen Krise im 19. Jahrhundert, als der Papst zugleich Staatsoberhaupt des Kirchenstaats und weltweiter Religionsführer war. Bisher hat der 14. Dalai Lama die geistliche Autorität des wiedergeborenen Buddha noch nicht klar von seiner politischen Rolle als exilierter Führer einer um ihre Autonomie kämpfenden Nation und Kultur abgekoppelt. Sollte es aber tatsächlich zu dieser Trennung zwischen religiöser Autorität und ziviler Macht kommen, zwischen dem „ozeangleichen geistlichen Meister“ und der nationalen Exilregierung, dann könnten der Dalai Lama oder seine im Exil „wiedergeborenen“ Nachfolger vielleicht wirklich Apostel eines „globalen“ Buddhismus auf dem religiösen Weltmarkt werden.
Eine mit dem Papsttum vergleichbare Institution – eine Universalmonarchie von rein geistlicher Autorität, aber indirekt politischer Kompetenz – gibt es in der islamischen Welt nicht, sieht man einmal von der ismailitischen Schia ab, einer ausgesprochenen Minderheit der „Partei Alis“, deren weltweites Oberhaupt der Aga Khan darstellt. Die Botschaft des Islam ist – wie das Evangelium – universalistisch auf Expansion, Mission, Globalisierung angelegt. Aber eine Milliarde Muslime hat keine internationale Organisationsform, die Ansatzpunkte zu einer Relativierung ihrer lokalen Konflikte und zur Rationalisierung ihrer politischen Niederlagen und Identitätskrisen böte.
Antimoderne Internationale?
Als ein internationaler Akteur hat die Katholische Kirche ein vornationales systemisches Gedächtnis, das sie zwar auf die „postnationale Konstellation“ (Jürgen Habermas) besser vorbereitet hat als rein nationale Institutionen, aber immer wieder in Konflikte mit der westlichen, liberalen und demokratischen Moderne verwickelt hat. Schließlich bildete die römische Kirche über Jahrhunderte ideologische Staatsapparate für multinationale Imperien wie das Habsburger oder das spanische Reich; nur selten (etwa in Polen und Irland) stellte sie den kulturellen Code nationaler Befreiungsbewegungen. Im 19. Jahrhundert verstand sie sich als Streiterin wider die liberale Moderne; und sie erlebte den Konflikt zwischen kirchlichem Universalauftrag und dem unaufhaltsamen Sieg des Nationalgedankens in Europa als Tragödie.
Als weltlicher Souverän stand der Kirchenstaat dabei auf der Verliererseite: Machtpolitisch durch den Niedergang der katholischen Ancien Régimes in ihrer Gegnerschaft zu den modernen Großmächten – dem nachrevolutionären Frankreich, dem Deutschen Kaiserreich und der britischen Weltmacht – und ideologisch durch die Gegnerschaft zu praktisch allen nationalen, liberalen, demokratischen Emanzipationsbewegungen des alten Kontinents. Im Gegenzug gelang es dem Papsttum allerdings, die Katholische Kirche mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) geistlich neu zu orientieren und seine Zerfaserung in Nationalkirchen zu verhindern. Diese fand ja in der Neuzeit bei fast allen anderen christlichen Kirchen statt: der Church of England, den Landeskirchen der protestantischen Welt, in der russischen, griechischen oder serbischen Orthodoxie.
Doch der ideologische Preis dieser hierarchisch zentralisierten „Antimoderne“ war hoch. Auf die liberale Aufklärung antwortete Pius IX. mit dem berüchtigten „Syllabus errorum“ (1864); auf das italienische Risorgimento antwortete das Erste Vatikanische Konzil (1869/70), das die klerikale Universalmonarchie des Bischofs von Rom theologisch dogmatisierte. Erst im folgenden Jahrhundert, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), kam es zur Aneignung elementarer Freiheits- und Rationalitätsstandards der Neuzeit. Ihren Kernpunkt bildete die Erklärung zur Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“, die in den konziliaren Kommissionen und Beratungen gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden musste. Und auch das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen – insbesondere zu Judentum und Islam – erfuhr im Rückbezug auf geistliche Freiheit und Würde aller Menschen eine neue Offenheit.
Charisma und Institution
Das „Regierungsprogramm“ des neuen Papstes war bekannt. Als Dekan des Kardinalskollegiums hatte Joseph Ratzinger im April 2005 seine Motive zur Eröffnung des Konklaves eindeutig offengelegt – und war dafür gewählt worden. Der heutige Papst Benedikt XVI. sah nach dem Tode Johannes Pauls II. „das kleine Boot des Denkens vieler Christen“ hin- und hergeworfen von den Stürmen weltlicher Ideologien: „vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Skeptizismus“ und so weiter. Wider eine „Diktatur des Relativismus“, die sich mit den modernen Massenmedien globalisiert, müsse die globale Kirche ihre Einheit des Glaubens als „Übereinstimmung des Willens“ behaupten, wolle sie nicht kentern wie eine Nussschale im Sturm.
Rückblickend wird hier durchaus Ratzingers Kritik am Pontifikat Karol Wojtylas deutlich. Denn trotz des politischen Genius’ Johannes Pauls II., trotz seiner charismatischen Präsenz war die Kirche als Institution hinter den päpstlichen Medienerfolgen der „Evangelisierung“ zurückgeblieben. Waren all die Islamdialoge, die interreligiösen Friedensgebete, die kirchlichen Schuldbekenntnisse nicht „zu früh“ gekommen oder „zu weit“ gegangen, ohne dass der Apparat, die Gemeinschaft der Gläubigen, mit Herz und Verstand dabei war? Riskiert nicht eine alles auf das Charisma ihres Pontifex setzende Institution eine Identitätskrise, sobald es den Papst als Superstar nicht mehr gibt? Wenn der weltreisende Papst Johannes Paul II. die Weltkirche in Bewegung versetzte, so wollte sein Nachfolger Benedikt die Institution festigen. Dem Opfersakrament der Eucharistie war ja auch die erste von Benedikt einberufene weltweite Bischofssynode gewidmet. Der große Evangelisator Karol Wojtyla hatte nicht gezögert, die Kirche selber in den Ausnahmezustand zu versetzen – etwa durch sein spektakuläres „Mea culpa“ zum Jubeljahr 2000, ein Eingeständnis kirchlicher Schuld für von Christen begangene Verbrechen gegenüber Juden und Heiden, Ketzern und Ungläubigen, gegenüber dem modernen wissenschaftlichen Geist sowie der Freiheit des Gewissens. Sein Berater Ratzinger galt schon damals als skeptisch gegenüber allzu dramatischer Selbstkritik – und neue Kirchenkrisen will der deutsche Papst nicht riskieren.
Freilich gibt es – nach der außerordentlichen Amtszeit des Charismatikers Johannes Paul II. – auch keine unhinterfragte Routine im Regiment der Weltkirche mehr, auf die Ratzinger zurückgreifen könnte. Offenbar will er die Kollegialität der Bischöfe stärken und auch das Kardinalskonsistorium, als eine Art Senat der Weltkirche, regelmäßiger tagen lassen. In der ersten Bischofssynode seiner Amtszeit im Herbst 2005 wurde die freie öffentliche Aussprache eingeführt – ohne jedoch die Kompetenzen der Synode zu erweitern. Auch die Ende November 2009 in Rom beendete „Bischofssynode für Afrika“ mündete in eine eindrückliche Bestandsaufnahme des gewaltigen Umbruchs in der während eines Jahrhunderts von 1,9 Millionen auf 165 Millionen angewachsenen katholischen Christenheit in Afrika; doch ist völlig unklar, zu welchen Konsequenzen sie führen könnte.
Benedikt hat es nämlich – wie alle Päpste seit dem Zweiten Vaticanum – versäumt, eine Reform der Kurie in Angriff zu nehmen; er beschränkte sich weitgehend darauf, die aus Altersgründen anfallenden Neubesetzungen der Spitzenämter vorzunehmen. So geht die Internationalisierung des vatikanischen Apparats auf der höchsten Ebene weiter – von neun Kongregationen werden nur noch zwei von Italienern geleitet, und auch wichtige Räte stehen zunehmend unter dem Vorsitz von Nichtitalienern. Doch die Koordinierung zwischen den vatikanischen Behörden einerseits und mit der inner- und außerkirchlichen Öffentlichkeit andererseits ist nach dem Urteil des Theologen und Politologen Thomas Reese „katastrophal“; es gibt keine gegenüber der kurialen Bürokratie unabhängige Kontrollinstanz, von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit ganz zu schweigen. Zu Recht hat der Politikwissenschaftler Hans Maier einen Grundfehler der bestehenden Kurienorganisation in der fehlenden Kabinettsdisziplin vatikanischer „Minister“ diagnostiziert, die ihrerseits eine klare Ressortverantwortung voraussetzen würde. Der Hofstaat eines Monarchen mag sich durch Geheimnisse und Intrigen noch auf höchster Ebene regulieren; die geistliche Führung einer Weltkirche muss dabei Schaden nehmen.
Erklären, vermitteln, nachbessern
Wenn etwa, wie im vergangenen Oktober geschehen, der Präfekt der Glaubenskongregation Kardinal William Levada eine neue kirchliche „Aufnahmestruktur“ für übertrittswillige traditionalistische Anglikaner bekannt gibt, während der eigentlich „zuständige“ Vorsitzende des Rates zur Förderung der Einheit der Christen Kardinal Walter Kasper gar nicht in Rom weilt, dann sollte sich niemand wundern, dass darauf eine wilde Spekulation über die möglichen Hintergedanken katholischer „Abwerbung“ gegenüber der anglikanischen Communio einsetzt.
Ein Gutteil der Pannen und Fauxpas in der bisherigen Amtsperiode Benedikts geht auf solche mangelnde Koordination zurück, wozu dann noch Fehlinformationen oder gar offensichtliche Intrigen zwischen einzelnen Behörden, Interessengruppen und kirchenpolitischen Fraktionen im Vatikan kommen mögen. Eine missverständliche Rede des deutschen Papstes in Auschwitz, der Streit um eine neue lateinische Karfreitagsfürbitte und der Skandal eines Holocaustleugners unter jenen schismatischen Traditionalistenbischöfen der Piusbruderschaft, denen der Papst den Rückweg in die Katholische Kirche erleichtern wollte. Das Verlaufsmuster solcher Krisen war zumeist ähnlich: Reden oder Entscheidungen des professoralen Papstes wurden nicht im Voraus geprüft; vorhersehbare Reaktionen waren nicht bedacht worden; die verantwortlichen „Minister“ wurden offenbar vorher nicht gehört oder eingebunden, nach dem Skandal mussten sie dann erklären, vermitteln und nachbessern. Am Ende wurden in der Regel die Medien beschuldigt; und einmal hat Benedikt XVI. sich sogar in aller Öffentlichkeit bitterlich beklagt, inner- und außerkirchliche Gegner und Brüder wollten ihn partout missverstehen. Geistige Führung sieht anders aus.
In der im September 2006 durch Benedikts XVI. Regensburger Vorlesung ausgelösten Krise finden wir alle diese Elemente wieder. Eigentlich war es dem Papst ja darum gegangen, den christlichen Glauben wider weltliche Vorwürfe und Vorurteile zu verteidigen, die das Christentum der Irrationalität bezichtigen. Dazu zitierte er ein christliches Plädoyer aus einem interreligiösen Streitgespräch um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert: „Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß, nicht syn lógo zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“
Warum aber – zum Teufel! – berief sich der Heilige Vater für die Beschwörung der Einheit von sprechender Vernunft und göttlicher Liebe ausgerechnet auf einen der letzten byzantinischen Herrscher Konstantinopels – nämlich auf den Palaiologenkaiser Manuel II.? Und warum zitierte er aus Manuels Streitgespräch mit einem muslimischen Intellektuellen auch noch die einleitende Invektive des Byzantiners wider den Propheten Mohammed, dieser habe an „Neuem“ nur „Schlechtes und Inhumanes“ verkündet und vorgeschrieben, „den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“? Man habe das völlig zu Unrecht als Ausdruck seiner „eigenen Position aufgefasst“, korrigierte der Vatikan später und beklagte die Empörung, die „in der muslimischen Welt“ darauf „begreiflicherweise“ entstanden sei. Die im November 2006 folgende Türkei-Reise Papst Benedikts XVI. erforderte das diplomatische Management einer Krise, die vermeidbar gewesen wäre.
Griechen und Protestanten
Der Papst sprach in Regensburg vor einer Universität mit einer protestantischen und einer katholischen Theologenfakultät. Ratzinger richtete sich gar nicht an Muslime, sondern sprach über seine Prioritäten im Dialog mit den Christen anderer Konfession. Hier gehen seine ersten Schritte ganz eindeutig hin zu den orthodoxen Ostkirchen, deren Primus inter pares, den machtlosen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomaios I., er zum Feste des Heiligen Andreas am 30. November 2006 in Istanbul besuchte. Die „westliche“ Ökumene, der Abbau konfessioneller Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten, steht in Benedikts Prioritätenliste weit hinter der „östlichen“ Ökumene, hinter verbesserten Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen zurück.
Das Regensburger Zitat der Traumvision des hellenistischen Juden Paulus, ein Mann vom griechischen Festland habe den Völkerapostel nach Europa gerufen, war Benedikts Signal an die orthodoxe Christenheit – doch seine Erinnerung an einen der letzten byzantinischen Monarchen, für den das Erbe des hellenischen Logos gleichzeitig Reichskultur und Muttersprache war, musste fehlverstanden werden. Manuels II. Versuch, eine westliche Einsatztruppe zur Verteidigung des byzantinischen „Zweiten Rom“ wider die vorrückenden Osmanen anzuwerben, scheiterte. Wie Steven Runciman in seiner großen Geschichte der Kreuzzüge anmerkt, „war Manuel zu ehrlich, als dass er die Unterwerfung seiner Kirche unter Rom versprochen hätte“.
Seit dem Amtsantritt von Papst Benedikt (2005) häufen sich die Sitzungen der gemischten katholisch-orthodoxen Kommission (die nächste Sitzung ist in Wien für September 2010 anberaumt); die neue Generation orthodoxer Patriarchen in Moskau, Belgrad oder Bukarest hat mit einem deutschen Professor deutlich weniger Konflikte als mit einem polnischen Charismatiker. So könnte in die Beziehungen Roms zur christlich-orthodoxen Welt in der Tat Bewegung kommen. Dies belegte zuletzt – anlässlich des Besuchs von Russlands Staatspräsident Dmitri Medwedew bei Benedikt XVI. Anfang Dezember 2009 – die Ankündigung einer baldigen Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen dem Vatikan und Russland.
Die „westliche“ Ökumene dagegen, also die Suche nach Gemeinschaft mit Protestanten und Anglikanern, muss für Papst Benedikt offenbar hintanstehen. Fast alle Exempel für Benedikts Regensburger Kritik an einer als Abschied vom vernünftigen Logos gedeuteten „Enthellenisierung des Christentums“ gehörten zum Protestantismus: zuallererst die Reformation selber und ihr Schriftprinzip; dann die Scheidung zwischen moralisch-praktischer Vernunft und kosmologischer Metaphysik beim protestantischen Aufklärer Immanuel Kant; und zuletzt die liberale Dogmengeschichte Adolf von Harnacks. Aber nicht die Protestanten protestierten wider die Vorlesung des Papstes, sondern Muslime.
Inschallah!
Die Regensburger Rede des Papstes und ihr zwiespältiges Echo waren ein Musterbeispiel dafür, was geschieht, wenn der Heilige Stuhl als moralischer Global Player seine eigenen historisch-politischen Kompetenzen nicht nutzt. Zwar feilt Papst Benedikt an seinen Texten lange herum – aber die von ihm ausgelöste politische Aufregung vermochte sich der deutsche Theologieprofessor nicht vorzustellen. Anders als Karol Wojtyla, der wie andere Stars der Weltpolitik eine gut arbeitende Equipe von Experten stets geschätzt hatte, griff Joseph Ratzinger für seine auf den Islam gemünzte Randbemerkung auf die religionsdiplomatischen Erfahrungen und einschlägigen Kompetenzen des Heiligen Stuhls überhaupt nicht zurück. Bald wucherten – wie in römischen Palästen und Behörden üblich – neue Verschwörungstheorien: Da habe jemand Benedikt in Regensburg bewusst ins Messer laufen lassen. Ähnliche Gerüchte sollten sich zwei Jahre später bei der Affäre um den Holocaust-Leugner Richard Williamson wiederholen.
Doch Benedikts Verhältnis zum Islam ist zudem deutlich anders akzentuiert als das seines Vorgängers. Der Charismatiker Johannes Paul II. setzte auf die Frömmigkeit islamischer Länder, auf die persönliche Begegnung, vor allem mit der Jugend. Ob es sinnvoll sei, sich mit Vertretern anderer Religionen zum gemeinsamen Gebet zu versammeln, darüber hatte der Dogmatiker Ratzinger schon als Präfekt der Glaubenskongregation deutlich andere Vorstellungen als der Mystiker Wojtyla. Und zum von Johannes Paul II. begründeten Friedensgebet in Assisi von Christen, Muslimen, Juden und anderen Religionsvertretern schickte sein Nachfolger 20 Jahre später nur mehr eine Grußbotschaft. In der islamischen Theologie hingegen, die Karol Wojtyla herzlich wenig interessierte, spielen die für Joseph Ratzinger so wichtigen rational rekonstruierbaren Dogmen heute nicht mehr dieselbe Rolle wie in den goldenen Jahrhunderten zwischen 800 und 1400.
Wenn es denn am Ende doch noch ein positives Resultat der Regensburg-Krise gab, so lag dies in dem offenen Schreiben hochrangiger muslimischer Schriftgelehrter an den Papst, aus der eine ständige Initiative „A Common Word“ hervorging, die inzwischen zu diversen interreligiösen Kongressen und Diskussionen geführt hat. Die zumeist sunnitischen Intellektuellen beriefen sich auf das Zweite Vaticanum und die in der Konzilserklärung Nostra Aetate bekundete Hochachtung der Katholischen Kirche gegenüber der islamischen Anbetung des „alleinigen Gottes, des lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat“. Schon die katholischen Konzilsväter und nun auch die muslimischen Gelehrten zitierten hier einen Brief Papst Gregors VII. (1073–1085) an den algerischen Prinzen Al-Nasir. Er wurde im Jahre 1076 verfasst – keine zwei Jahrzehnte, bevor Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont-Ferrand (1095) den Ersten Kreuzzug ausrufen sollte. Dies also ist die Hoffnung: Die monotheistische Gemeinsamkeit der sich auf Abraham berufenden Tradition ist älter als alle Kreuzzüge und Zivilisationskonflikte. Sie integriert unterschiedliche Gestalten philosophischer Vernunft.
Identität und Mission
Johannes Paul II., ein konservativer Revolutionär, inspiriert durch eine sehr persönliche Mischung aus traditioneller Kirchlichkeit und existenzieller Radikalität, wurde vornehmlich als „Kommunikator“ zum Fürsprecher von Menschenwürde und Religionsfreiheit in der Weltgesellschaft. Joseph Ratzinger dagegen bevorzugte bereits als Kardinal eine eher intellektuell und dogmatisch profilierte Gestalt von Kirchlichkeit. Da er aber die institutionelle Reform des römischen Katholizismus – die seit 40 Jahren uneingelöste Hoffnung auf mehr bischöfliche „Kollegialität“ in der Weltkirche – weiter hinausschiebt, kann Benedikts XVI. Pontifikat nur dort Früchte ernten, wo es dogmatische Nähe zur hierarchischen Gnadenanstalt gibt: nach innen in der verunsicherten konservativen Bischofshierarchie, im Außenverhältnis bei verwandten theologischen oder dogmatischen Versionen organisierter Christenheit, insbesondere bei konservativen Anglikanern und in einer expliziten Nähe zur griechisch- oder russisch-orthodoxen Kritik der Moderne. Der amerikanische Vatikanologe John L. Allen hat diese institutionell konservative „Identity first“-Einstellung, der auch die liturgischen Neigungen des deutschen Pontifex durchaus entgegenkommen, als eine Art „evangelikalen Katholizismus“ bezeichnet. Dieser könnte auf dem „Weltmarkt“ der Religionen deutliche Pluspunkte klarer Erkennbarkeit sammeln – ob er allerdings die rechte Sprache einer Verkündigung für die im 21. Jahrhundert vornehmlich im globalen Süden, in Afrika und Asien wachsende Christenheit darstellt, bleibt fraglich.
Prof. Dr. OTTO KALLSCHEUER ist Philosoph, Politikwissenschaftler und freier Autor, u.a. für die FAZ, die NZZ und die ZEIT.
Internationale Politik 2, März/April 2010, S. 119 - 127