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01. Nov. 2009

Keine Lizenz zum Kämpfen

Warum Deutschland in Afghanistan versagt

Seit Dezember 2001 ist Deutschland mit der Bundeswehr in Afghanistan präsent. Nach fast acht Jahren Einsatz am Hindukusch hat sich die Lage zuletzt dramatisch verschlechtert; inzwischen sind die Taliban auch im Norden des Landes auf dem Vormarsch. Was ist schief gelaufen? Und was muss die neue Bundesregierung dringend verändern?

Ein großer Fehlschlag war der Aufbau der afghanischen Polizei, bei dem Deutschland federführend sein sollte. Es wurde zwar ein Hauptquartier geschaffen, aber dann schickte die Bundesregierung nicht genügend Ausbildungspersonal und Ressourcen, so dass die Rekrutierung und Schulung von Polizeikräften nicht vorankamen. Nach viel Kritik wurde die Mission schließlich von den USA übernommen. Vor diesem Hintergrund klingen jüngste Ankündigungen, dass die Europäische Union unter deutscher Führung abermals den Aufbau der afghanischen Polizei vorantreiben möchte, nicht gerade vertrauenserweckend. Bislang war davon auch noch nichts zu sehen. Hier hat Deutschland in seiner Führungsrolle klar versagt.

Was aber noch weit schwerer wiegt sind die Einsatzbeschränkungen, unter denen die deutschen Truppen in ihrem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans operieren. In den vergangenen sechs Monaten haben die Taliban eine erfolgreiche Offensive im Westen und Norden Afghanistans begonnen und sich dabei insbesondere diejenigen ausländischen Kontingente als Ziele ausgesucht, die bestimmten Beschränkungen und Vorbehalten unterliegen: neben Deutschland beispielsweise auch Spanien. So konnten die Taliban relativ unbehelligt nach Norden und Westen vordringen. Sie haben Waffen in diese Gebiete transportiert und ihre Stellungen in rela-tiver Nähe zu den Deutschen ausgebaut, die darauf – wenn notwendig – nur defensiv reagiert haben. Stattdessen mussten zuletzt amerikanische Einheiten an manchen Orten im Norden gegen neu errichtete Taliban-Stützpunkte vorgehen.

Die Lage in diesen Gebieten ist kritisch, wie unter anderem der Lagebericht des neuen ISAF-Kommandeurs General Stanley McChrystal im September hervorgehoben hat. Ein vorher friedlicher Landesteil steht am Abgrund – nicht zuletzt, weil Deutschland, der drittgrößte Truppensteller, bislang nicht in der Lage gewesen ist, sein Militär effektiv einzusetzen. Davon zeugt auch, dass sich die Deutschen in aller Regel von anderen, insbesondere den Amerikanern, retten lassen müssen, wenn es zum Ernstfall kommt. Seit 2009 ist es klare Taliban-Strategie, dies auszunutzen, und was hinzukommt: Bislang hat die Bundesregierung diese Rückschläge nicht einmal öffentlich eingeräumt.

Das passt ins Bild, denn weder die Regierungen von Kanzler Gerhard Schröder noch die von Angela Merkel haben eine angemessene Debatte im Parlament oder in der Öffentlichkeit zu der Frage geführt, warum Deutschland in Afghanistan ist. Das trifft leider auf eine ganze Reihe europäischer Staaten zu, in denen die Regierungen so tun, als handele es sich beim Einsatz in Afghanistan um friedliche Aufbaumaßnahmen. Das aber ist nicht der Fall. Tatsächlich verschlechtert sich die Lage beständig. Deutschland wird zudem immer stärker direkt von Al-Kaida und anderen extremistischen Gruppen bedroht. Dass eine öffentliche Debatte fehlt, konnten wir zuletzt im Bundestagswahlkampf erleben, in dem das Thema keine Rolle spielte. Ich fürchte, die deutsche Öffentlichkeit wird hinters Licht geführt.

Mehr Transparenz

Was Deutschland daher zunächst braucht, ist eine transparentere Politik. Fast alle europäischen Regierungen sind der Debatte bislang wohl aus Furcht ausgewichen, sie könnten die Unterstützung ihrer Bevölkerungen für den Afghanistan-Einsatz schwächen. Das ist falsch. Richtig ist das Gegenteil: Es wäre besser, wenn die Öffentlichkeit informierter wäre, denn die Tatsache, dass die Mission nicht deutlich erklärt wird, in Kombination mit der sich verschlechternden Lage vermindert erst recht die Unterstützung für den Einsatz.

Eine neue Bundesregierung nähme mit einer größeren Offenheit sicher auch ein Risiko in Kauf. Doch weil die Gefahr für Deutschland selbst so offenkundig ist – man denke nur an den geplanten Anschlag der „Sauerland-Gruppe“ auf den Luftwaffenstützpunkt Ramstein – könnten die meisten Menschen gewiss verstehen, dass ihre Sicherheit tatsächlich auch in Afghanistan verteidigt wird. Seit langem sind sich die deutschen Sicherheitsdienste der Gefahr bewusst, die von deutschen Konvertiten zum Islam sowie von Deutschen türkischer oder anderer Abstammung ausgeht, die nach Pakistan und Afghanistan reisen, dort ausgebildet werden und dann in den Kampf ziehen oder Anschläge verüben. Viele werden früher oder später nach Deutschland zurückkehren. Einige, aber eben längst nicht alle, können gefasst werden. Deutschland ist heute eines der Hauptziele von Al-Kaida, auch deshalb, weil man glaubt, ein großer Terroranschlag würde zum Rückzug deutscher Truppen aus Afghanistan führen, so wie die spanische Regierung nach den Anschlägen in Madrid vom März 2004 ihre Truppen aus dem Irak abzog.

Das Militär kämpfen lassen

An zweiter Stelle – und das ist vielleicht das Wichtigste – steht die Aufhebung der Restriktionen, unter denen die Bundeswehr in Afghanistan operiert. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung muss ihrem Militär erlauben zu kämpfen. Im Moment erleidet die Bundeswehr Opfer, beispielsweise durch Sprengfallen, ist aber nicht in der Lage, zurückzuschlagen. Das ermutigt die Taliban. Ich verstehe, dass eine Antikriegshaltung schon aus historischen Gründen tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist. Dennoch: Die Taliban sind sehr nahe an die Bundeswehrstützpunkte herangerückt. Nimmt man die islamistisch-extremistischen Zellen in Deutschland selbst hinzu, ist eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung entstanden, der sich Deutschland stellen muss. Das heißt nicht unbedingt, dass Afghanistan mehr deutsche Truppen bräuchte. Aber die, die bereits da sind, müssen aktiver und effektiver eingesetzt werden, so dass sie im Rahmen der „Counter-Insurgency-Strategie“ eine gewichtigere Rolle spielen und die Taliban wirksam bekämpfen können.

Regionalprojekte

Drittens wären größere Bemühungen bei der Ausbildung von Sicherheitskräften, allen voran der afghanischen Armee, hilfreich, ebenso wie weitere Entwicklungsprojekte. Deutschland hatte in der Vergangenheit im Norden einige wichtige Aufbauerfolge zu verzeichnen. Jetzt aber ist alles zum Stillstand gekommen. Die Ausbildung von Sicherheitskräften sollte – und hier verhält sich Deutschland durchaus lobenswert –weiter von Regionalprojekten flankiert werden, die die zentralasiatischen Nachbarstaaten einschließen. Als jüngstes Beispiel ist hier das Eisenbahn-Bauprojekt von der usbekischen Grenzstadt Hairatan nach Mazar-e-Sharif zu nennen, für das sich Deutschland stark gemacht hat.

Nach dem Massaker von Andischan im März 2005, als usbekische Regierungskräfte auf Befehl von Diktator Islam Karimow Hunderte friedlicher Demonstranten erschossen, hat Deutschland seinen Stützpunkt im usbekischen Termez behalten und wurde dafür kritisiert. Heute, denke ich, hat sich die Situation gewandelt. Deutschland könnte eine noch aktivere Rolle spielen, um die Regierungen Zentralasiens enger an Afghanistan heranzuführen, und damit auch an die Nordatlantische Allianz (NATO) beziehungsweise die ISAF. Die zentralasiatischen Staaten sind gegenüber den Intentionen der NATO sehr misstrauisch. Deutschland und Europa könnten helfen, die Kontakte über die Grenzen hinweg zu stärken und Zentralasien einzubinden.

Entschlossene Diplomatie

Damit sind wir, viertens, bei der Diplomatie. Deutschland muss deutlicher, härter und offener auftreten. Hamid Karzai wird trotz der Wahl-fälschungen wohl Präsident bleiben. Dann ist es wichtig, der afghanischen Regierung wieder etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, sie aber gleichzeitig stärker in die Pflicht zu nehmen. Präsident Barack Obama hat bereits angekündigt, Karzai zukünftig klarere Ziele zu setzen und ihn daran zu messen – stärker, als es sein Vorgänger George W. Bush je getan hat. Es ist aber nicht möglich, dies allein den Amerikanern zu überlassen. Nötig ist ein echter, multinationaler Ansatz. In der Vergangenheit konnte Karzai für alles den Amerikanern die Schuld geben, selbst für die Korrup-tion im Land. Wenn aber die Deutschen und die anderen Europäer die gleiche, härtere Sprache sprechen, ist diese Ausflucht nicht mehr möglich. Zugleich müssen Amerikaner und Europäer, die Deutschen eingeschlossen, dringend etwas unternehmen, um die Effizienz der afghanischen Regierung zu steigern.

Druck auf Pakistan

Betrachtet man, fünftens, die gesamte Region, in der auch Indien und der Iran eine bedeutende Rolle spielen, so ist der deutschen Politik zugute zu halten, dass sie seit etwa einem Jahr vielleicht als erste eine wirkliche Re-gionalstrategie verfolgt. Aber auch das geht sehr leise und unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor sich. Diese Politik muss öffentlich geführt werden. Vielleicht sollte man sie gerade im Hinblick auf Pakistan auch mit einer bestimmten Person verbinden können – wie auf amerikanischer Seite mit Richard Holbrooke.

Berlin hat Islamabad zuletzt ermuntert, stärker gegen die Taliban im eigenen Land und gegen Al-Kaida vorzugehen. Bislang haben vor allem die Amerikaner auf ein entschlosseneres Vorgehen der pakistanischen Regierung gegen die Taliban gedrängt und mussten dafür mit einem Ansehensverlust büßen, der kontraproduktiv ist. Der pakistanischen Bevölkerung muss klar werden, dass diese Forderung praktisch von der gesamten entwickelten Welt erhoben wird, auch von Deutschland, das einen größeren Druck mit größerer Hilfe für das Land verbinden sollte.

Die Einberufung einer neuen Afghanistan-Konferenz, wie sie Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy gefordert haben, sehe ich skeptisch. Sie könnte dazu missbraucht werden, einen klaren Zeitpunkt für den Abzug ausländischer Truppen festzulegen. Das wäre extrem gefährlich – für Afghanistan und für die Region insgesamt – und würde einen großen Sieg für die Taliban und andere Extremisten bedeuten. Stattdessen sollte sich eine neue Afghanistan-Konferenz darauf konzentrieren, die Effizienz der afghanischen Regierung zu stärken, insbesondere die von Armee und Polizei, und auf bessere regionale Beziehungen hinzuwirken. Es ist unmöglich, derzeit ein konkretes Abzugsdatum zu nennen. Es doch zu tun, wäre extrem gefährlich und würde schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Aufgezeichnet von Henning Hoff

AHMED RASHID ist pakistanischer Journalist und Buchautor sowie Fellow am Pacific Council on International Policy in Los Angeles.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 118 - 121.

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