Weg vom Abgrund
Nur Gespräche mit den Taliban können Afghanistan Frieden bringen
Vor dem Abzug des Westens steigt das Ausmaß der Gewalt dramatisch. Dabei sind alle Seiten – Amerikaner, Taliban und die afghanische Regierung – zu Gesprächen bereit. Nur so ließe sich ein Waffenstillstand erreichen, der Bedingung dafür ist, dass 2014 faire Wahlen stattfinden können. An einer Machtbeteiligung der Taliban führt kein Weg vorbei.
Zum dritten Mal binnen drei Jahren versuchen Unterhändler der USA, der afghanischen Regierung und der Taliban, ihren Dialog über ein Ende des Krieges in Afghanistan wieder aufzunehmen. Aller guten Dinge sind drei, könnte das Motto lauten – doch viele Regierungen, die an der NATO-geführten Allianz in Afghanistan beteiligt sind, und die Mehrheit der Afghanen bleiben skeptisch. Viele glauben, dass Gespräche mit den Taliban nicht vor Ende 2014 möglich sind, wenn der Großteil der ausländischen Truppen abgezogen ist; und selbst dann könnte sich die Hoffnung auf einen Erfolg als trügerisch erweisen. Unausweichlich sind Gespräche dennoch. Allen Rückschlägen zum Trotz hielten die Taliban an den Gesprächen und damit am „Doha-Prozess“ fest, der eben die Einrichtung eines politischen Büros in der katarischen Hauptstadt vorsieht. Dieses Büro sollte den Taliban eine gewisse Unabhängigkeit von Pakistan verleihen und als Anlaufpunkt für detailliertere Verhandlungen dienen.
Wer ist an Gesprächen interessiert – und warum?
Die Furcht vor einer Machtübernahme der Taliban ist weit verbreitet; viele Afghanen, die es sich leisten können, verlassen das Land. Die alljährliche Sommeroffensive der Taliban fiel in diesem Jahr noch blutiger aus: Über 1300 afghanische Zivilisten wurden im ersten Halbjahr 2013 laut neuesten UN-Angaben getötet und über 2500 verletzt – im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Opfer um fast ein Viertel gestiegen. Der Blutzoll in den Reihen der afghanischen Armee und Polizei, die Mitte Juni die Sicherheitsverantwortung für das ganze Land übernommen haben, ist beispiellos: Über 800 Armeeangehörige wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres getötet, 300 allein im Juni.
In dieser Situation haben Vertreter der US-Regierung eine „Nulloption“ ins Spiel gebracht: Man erwäge, nach 2014 gar keine amerikanischen Soldaten im Land zu belassen; die USA würden sich auch nicht länger um die Erlaubnis für die Errichtung von Stützpunkten für eine kleine militärische Ausbildungsmission bis 2019 bemühen. Auch würden amerikanische Hilfen für die afghanische Armee und die Wirtschaft stark reduziert.
Pakistan wiederum kämpft mit seiner eigenen Staatskrise, die in erster Linie der eskalierenden und von den pakistanischen Taliban angeführten Terrorkampagne geschuldet ist. Die Regierungen der zentralasiatischen Nachbarstaaten fürchten eine schleichende Rückkehr der Taliban in ihren Ländern. Die Gefahr, dass der Afghanistan-Konflikt auf die ganze Region ausgreift, besteht durchaus. Indien, der Iran und Russland jedenfalls sind alles andere als begeistert von der Idee eines zu schnellen amerikanischen Abzugs, der den Taliban weite Teile des Landes überlassen würde.
Es war bislang nie sicher, ob man tatsächlich Gespräche etablieren könnte oder ob dies ein aussichtsloses Unterfangen wäre. Während des Treffens von 90 Außenministern bei der Bonner Afghanistan-Konferenz vom Dezember 2011 standen die Taliban kurz davor, die amerikanischen Bedingungen zu akzeptieren, um im Gegenzug die Erlaubnis zur Eröffnung eines politischen Büros in Doha zu erhalten. Zuvor schon – nämlich seit November 2010 – hatten die Amerikaner vier Runden direkter Geheimgespräche mit den Taliban geführt, die zumindest anfänglich durch die Vermittlung eines deutschen Diplomatenteams unter der Leitung von Berlins „troubleshooter“ Michael Steiner und katarischer Geheimdienstbeamter zustande gekommen waren. In letzter Minute allerdings verweigerte der afghanische Präsident Hamid Karsai seine Zustimmung mit der Begründung, er sei nicht ausreichend von den Amerikanern und Deutschen zu Rate gezogen worden – was nicht stimmte.
Die USA und Pakistan bleiben am Ball
Beinahe zwei Jahre dauerte es danach, um alle Beteiligten wieder auf den Stand von Bonn zu bringen und einmal mehr zu versuchen, ein Taliban-Büro zu eröffnen. Am 18. Juni 2013, nach intensiven diplomatischen Kontakten zwischen den Vereinigten Staaten, den Taliban, Katar, Pakistan und der afghanischen Regierung, war es fast so weit.
Aber schon die Eröffnungszeremonie sorgte für Verstimmung bei der amerikanischen und afghanischen Regierung: Entgegen den Vereinbarungen bestanden die Taliban darauf, ihre Flagge zu hissen und ein Schild mit der Aufschrift „Islamisches Emirat von Afghanistan“ anzubringen, der früheren Taliban-Bezeichnung für das Land. Schuld an dem Eklat, so einige hochrangige westliche Diplomaten, trugen die Kataris. Im Vorfeld war ein Dokument ausgehandelt und von den Amerikanern und den Taliban unterzeichnet worden, das den Zeitpunkt der Eröffnung des Büros, dessen Bezeichnung und Funktion festlegte. Dann aber wurde es von den Taliban geflissentlich ignoriert, und die Kataris begingen den Fehler, nicht auf die Einhaltung der von den Taliban selbst unterzeichneten Verpflichtungen zu pochen. Die amerikanischen Vertreter wiederum hatten sich nicht mit den Details der Eröffnung befasst. Dass die Taliban-Fahne gehisst und die Zeremonie im afghanischen Fernsehen übertragen wurde, verärgerte Präsident Karsai zutiefst: Er sagte alle weiteren Gespräche mit den Taliban und den Amerikanern über ein Truppenstatut ab und beschuldigte die CIA und den pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI), sich gegen Afghanistan verschworen zu haben.
Seit Juni gibt es keine weiteren diplomatischen Aktivitäten und viele sind pessimistisch, was eine Wiederaufnahme der Gespräche betrifft. Doch hinter den Kulissen gibt es durchaus Anzeichen für Zuversicht. Die große Taliban-Delegation in Doha, die von allen Ländern nun als legitime Vertretung des Taliban-Führungsrats („Quetta-Schura“) und dessen Führers Mullah Mohammed Omar, anerkannt wird, hält sich weiterhin dort auf. Kein Taliban-Verhandlungsführer hat das Emirat verlassen, und es wurde keine Erklärung veröffentlicht, die das Ende des Friedensprozesses signalisieren würde. Auch die Amerikaner bleiben am Ball. Der amerikanische Sondergesandte James Dobbins traf sich mit pakistanischen und afghanischen Regierungsspitzen, um zunächst eine Wiederannäherung zwischen Kabul und Islamabad in die Wege zu leiten und dann zu überlegen, wie erneuter Druck durch Pakistan auf die Taliban diese zurück an den Verhandlungstisch bringen könnte. Die USA haben den Taliban jeden vernünftigen Kompromiss oder jede gesichtswahrende Prozedur angeboten, um den Doha-Prozess wieder in Gang zu setzen – solange die afghanische Regierung dies akzeptiert.
Auch Pakistan bleibt dem Friedensprozess verpflichtet; dessen Geheimdienst ISI drängt die Taliban weiterhin, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Selbst Karsai gibt allmählich nach, bereitete sich Anfang August auf einen Besuch in Islamabad vor und hat auch die Verhandlungen mit den Amerikanern über ein Stützpunktabkommen wieder aufgenommen. Andere Länder, die engen Kontakt zu den Taliban halten wie Großbritannien, Norwegen und Deutschland, tragen hinter den Kulissen das Ihre dazu bei, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen. Gibt es eine Chance, dass diese noch vorsichtigen Bemühungen am Ende zum Erfolg führen?
Friedenslobby gegen Feldkommandeure
Es besteht kein Zweifel, dass das Debakel von Doha die ohnehin schon tiefen Gräben innerhalb der Taliban weiter vertieft hat – zwischen Hardlinern, die glauben, dass ihnen Afghanistan in die Hände fallen wird, wenn die NATO-Truppen erst abgezogen sind, und denjenigen innerhalb der Schura, die den Friedensprozess unterstützen, weil ihnen bewusst ist, dass die Alternative ein weiterer endloser Bürgerkrieg wäre, den die Taliban nicht gewinnen können. Es ist diese Friedenslobby, die argumentiert, dass ein Kompromiss mit der afghanischen Regierung, ein Waffenstillstand und eine spätere Vereinbarung über die Teilung der Macht den Taliban ohne weiteres Blutvergießen viel von dem gäbe, was sie erreichen wollen. Die Mitglieder der Friedenslobby sehen sich selbst eher als afghanische Nationalisten denn als Dschihadisten. Sie haben genug von den Vorwürfen, sie seien Marionetten der Pakistaner. Es sind die Hardliner – überwiegend Feldkommandeure innerhalb der Schura und in Afghanistan –, die Gespräche ablehnen. Da immer weniger junge Afghanen bereit sind, in den Kampf zu ziehen, heizen diese Kommandeure die Sommeroffensive an, indem sie in großer Zahl dschihadistische Pakistaner und zentralasiatische Kämpfer für die Auseinandersetzungen in Afghanistan rekrutieren.
Trotz ihrer zweifelhaften Rolle in der Vergangenheit bemühen sich Pakistans mächtiges Militär und der ISI heute darum, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen. Pakistan liegt viel daran, dass die Gespräche nicht scheitern, weil eine friedliche Lösung nicht nur den destabilisierenden Krieg in Afghanistan beenden, sondern auch die Militanz der pakistanischen Taliban abschwächen und ihre Moral untergraben könnte.
In den neunziger Jahren hatte Pakistan das Taliban-Regime unterstützt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 spielte es ein doppeltes Spiel und gab sich als Partner der USA im Krieg gegen Al-Kaida in Afghanistan aus, während es insgeheim auch die Rückkehr der Taliban förderte. Amerikanischen und anderen westlichen Diplomaten zufolge hat der ISI seine „Amtshilfe“ für die Taliban eingestellt und eine konstruktive Rolle bei der Anbahnung der Doha-Gespräche gespielt. Nun drängen die Vereinigten Staaten den Geheimdienst auf weitere Initiativen wie die Freilassung von Mullah Ghani Barader, seit vier Jahren festgehaltenen Nummer zwei der Taliban.
Die USA könnten selbst mehr tun, um den Forderungen der Taliban entgegenzukommen, die diese vor zwei Jahren formuliert hatten und denen die US-Vertreter anfänglich zugestimmt hatten – wie den Austausch von fünf Gefangenen in Guantánamo gegen einen amerikanischen Soldaten, der sich in der Gewalt der Taliban befindet. Doch die zögerliche Haltung des US-Kongresses, Widerstände innerhalb des US-Militärs und des Weißen Hauses sowie rechtliche Komplikationen führten dazu, dass das State Department das Angebot wieder vom Tisch nahm.
Die wichtigste Veränderung in der amerikanischen Position ist, dass Präsident Barack Obama zum ersten Mal persönlich versucht, alle Beteiligten zur Zusammenarbeit zu bewegen. Nach der desaströs verlaufenen Eröffnung des Büros in Doha sprach er mehrfach mit Karsai. Nun, da der Präsident involviert ist, können die USA die Gespräche nicht einfach aufgeben. Sie müssen sicherstellen, dass alles dafür getan wird, um sie stattfinden zu lassen.
Welche Art von Friedensabkommen strebt Karsai an?
Der am wenigsten berechenbare Faktor sind nicht die Taliban; es ist die Frage, welche Art von Friedensabkommen Präsident Karsai anstrebt. Karsais oft sprunghafte und emotionale Reaktionen auf Rückschläge und seine Überzeugung, alle mächtigen Mitspieler seien an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt, machen die Zusammenarbeit mit ihm äußerst schwierig. Aber Karsai ist auch der Staatsmann, der seit 2004 einem noch völlig auf militärischen Sieg versessenen Washington klar zu machen versuchte, dass allein Verhandlungen mit den Taliban den Krieg beenden und Al-Kaidas Aktivitäten wesentlich einschränken könnten. Die USA wiesen ihn damals nicht nur arrogant ab. Noch bis 2007, also sechs Jahre nach 9/11, stellten sie sich taub für Karsais Bitte, Pakistan endlich an dem doppelten Spiel zu hindern, das es betrieb. Bis heute ist Karsai nicht überzeugt, dass Pakistan wirklich einen Kurswechsel vollzogen hat.
Obwohl Karsai sich schon so lange für Gespräche mit den Taliban einsetzt, schwebt ihm jedoch nicht das Modell einer Beendigung des Bürgerkriegs durch Aussöhnung mit Hilfe eines langen Dialogprozesses vor, durch vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den verfeindeten Parteien, die schließlich in einen Waffenstillstand münden könnten und schließlich durch Gespräche über eine Teilhabe der ehemals verfeindeten Parteien an der Macht. Er hatte eher eine Kapitulation der Taliban im Sinn – entweder vor ihm, dem Präsidenten selbst, oder vor einer Versammlung der paschtunischen Stammesältesten beziehungsweise einer traditionellen Dschirga. Die Taliban jedenfalls sollten Karsai als Führer anerkennen.
Eine solche Kapitulation konnte Karsai sich nur wegen der Stammesstrukturen der Durrani-Paschtunen im südlichen Afghanistan vorstellen: Ihnen gehören sowohl Karsai als auch einige Taliban-Führer wie Mullah Barader an. Für politische Roadmaps, Strategien oder Standpunkte für Gespräche hatte er nie besonders viel Geduld, was seine Mitarbeiter frustrierte, die sie für ihn entworfen hatten. Karsais neueste fixe Idee ist, dass Pakistaner und Amerikaner absichtlich den Friedensprozess blockieren.
Womöglich haben die Taliban eine klarere Vorstellung als die afghanische Regierung, wie die Gespräche geführt werden sollten. Sie sind heute sehr versiert in Sachen Verhandlungsführung und wollen das ganze Brimborium moderner Aussöhnungsprozesse: eine Roadmap, Gespräche mit den Amerikanern, gefolgt von Gesprächen mit „allen Afghanen“ – einschließlich der gegen Karsai gerichteten Oppositionsparteien – statt nur mit der Regierung.
Karsai fällt es außerordentlich schwer anzuerkennen, dass sich Pakistans Haltung schon wegen der enormen inneren Krise verändert hat, mit der sich das Land konfrontiert sieht. Mal akzeptiert und mal verwirft der Präsident die Vorstellung, dass Pakistan Teil des Friedensprozesses sei. Es ist jedoch unmöglich, ohne die Zusammenarbeit mit Pakistan mit den Taliban zu reden, denn diese leben in Pakistan. Die Wahrheit ist: Pakistan – eine Atommacht, ein zutiefst instabiler Staat und nach wie vor das Ausbildungszentrum des globalen Terrorismus – ist strategisch weit wichtiger für die Sicherheit der Welt als Afghanistan.
Auch hat Karsai nie versucht, innerhalb Afghanistans einen Konsens für Gespräche mit den Taliban und ein Ende des Krieges zu bilden. Wohl hat er immer wieder von einer „Versöhnung mit meinen Taliban-Brüdern“ gesprochen. Aber er hat es nie verstanden, die Afghanen auf seine Seite zu ziehen – und da besonders den nichtpaschtunischen Teil der Bevölkerung und Frauen, die sich zu Recht darüber sorgen, welche Auswirkungen ein Friedensabkommen mit den Taliban auf ihr Leben haben könnte. Karsais wichtigste Aufgabe sollte darin bestehen, in Afghanistan für einen Konsens zu sorgen. Stattdessen wird die afghanische Gesellschaft immer polarisierter; bei keiner strategischen Frage gibt es auch nur die geringste Übereinstimmung.
Übereinstimmung über die Verhandlungen mit den Taliban gibt es auch innerhalb Karsais eigenem Kabinett und unter seinen führenden Mitarbeitern im Präsidialamt nicht. Der Präsident hat sich nicht einmal um eine einheitliche Sprachregelung bemüht. Es ist ja einfacher, überall Verschwörungen der USA, NATO oder Pakistans zu wittern, als sich mit den Realitäten auseinanderzusetzen. Es wäre also Karsais Hauptaufgabe, dem Chaos innerhalb seiner Regierung ein Ende zu bereiten und die eigenen Leute davon zu überzeugen, dass nur eine vernünftige Einigung mit den Taliban den Krieg beenden und zu besseren Beziehungen zu den Nachbarstaaten Pakistan und Iran führen kann. Sein Ziel sollte es sein, nach Beendigung seiner Amtszeit 2014 ein positives Erbe zu hinterlassen.
Zeit spielt dabei durchaus eine Rolle. Es wäre jedenfalls verhängnisvoll, wenn die Amerikaner und die NATO nach Henry Kissingers berühmter Devise aus den siebziger Jahren handeln würden. Gespräche mit den Nordvietnamesen seien notwendig, so Kissinger, weil man damit einen „annehmbaren zeitlichen Abstand“ zwischen dem Rückzug der USA aus Südvietnam und dem mit Sicherheit zu erwartenden Zusammenbruch des südvietnamesischen Regimes schaffen könne. Tatsächlich dauerte die „annehmbare Zeitspanne“ nur zwei Jahre, von 1973 bis zum Fall Saigons 1975.
Die Zeit für Verhandlungen mit den Taliban wird knapper. Aber es besteht weiterhin Spielraum für substanzielle Gespräche zwischen allen Seiten, um den Konflikt zu beenden und zu verhindern, dass das Land nach 2014 in einem Bürgerkriegschaos versinkt. Jede Seite muss Zugeständnisse machen: USA und NATO müssen den Willen zu weiterem langfristigen Engagement demonstrieren, um ihre Verhandlungsposition zu stärken; Indien und Pakistan müssen ihre Rivalität um Afghanistan beenden, um dem Frieden ein Fundament zu geben. Pakistan muss zu einer Politik der Null Toleranz für alle Arten von Extremismus übergehen. Die Regierung in Kabul muss internationalen Friedensbemühungen mehr Glauben schenken, und schließlich muss man der Friedenslobby der Taliban weiter den Rücken gegen die Hardliner stärken.
Falls es selbst zu diesem späten Zeitpunkt nicht zu Gesprächen in Doha kommt, bestehen wenig Zweifel, dass die Feldkommandeure der Taliban die Oberhand gewinnen und den Krieg gegen die Regierung in Kabul intensivieren werden. Schon heute sind viele ländliche Gebiete wieder unter ihrer Kontrolle, insbesondere in den südlichen Provinzen Helmand und Kandahar. Wenn der westliche Abzug abgeschlossen ist, dürften die Taliban noch weiteres Territorium gewinnen und die Regierung und ihre Armee Zuflucht in den Städten suchen – ganz so wie das kommunistische Regime von Mohammed Nadschibullah, das die Sowjets nach ihrem Abzug 1989 hinterließen. Dieses Regime hielt sich gerade drei Jahre.
Der erste Schritt in allen zukünftigen Gesprächen zwischen den Taliban, den USA und der afghanischen Regierung müssten die Verabredung eines Waffenstillstands oder zumindest Maßnahmen zur Reduzierung der Gewalt sein, die jüngst viele Opfer unter Zivilisten und Soldaten forderte. Als die Taliban und die Vereinigten Staaten 2011 miteinander sprachen, glaubte man, ein schrittweiser Ansatz sei notwendig, um die Gewalt zu reduzieren. Da die Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen, der Bildung einer neuen Regierung und dem Rückzug der amerikanischen Truppen knapp wird, sprechen westliche Diplomaten und Regierungsvertreter häufiger von der Notwendigkeit, zu einem allumfassenden Waffenstillstand zu kommen, um den Friedensprozess zu beschleunigen. Wie die Taliban dazu stehen, ist bislang nicht bekannt.
Der nächste Schritt bestünde dann darin, Gespräche über eine Teilung der Macht und den Prozess zu führen, wie die Taliban in die politischen, militärischen und Verwaltungssphären des afghanischen Staates integriert werden könnten. Die Taliban dürften Änderungen bei den staatlichen Strukturen und selbst bei der Verfassung verlangen, sodass ein Verfahren in Gang gesetzt werden müsste, um all diese Fragen zu diskutieren. Aber nur ein Waffenstillstand würde es der afghanischen Regierung ermöglichen, 2014 faire Wahlen abzuhalten, in die auch die Taliban einbezogen wären, und so eine politische Katastrophe zu verhindern.
Ahmed Rashid lebt als Journalist und Autor in Lahore. Zuletzt erschien von ihm „Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und
der Westen“.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 21-27