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01. Juli 2017

Keine Atombombe, bitte

Warum Deutschland nicht zur Nuklearmacht werden sollte

In der Debatte um die sicherheitspolitische Ausrichtung schwanken die europäischen Staaten zwischen der Forderung nach einer Führungsrolle und der Angst vor erneuten Hegemoniebestrebungen Deutschlands. Manche Stimmen drängen gar auf ein deutsches Nuklearwaffenarsenal. Doch das birgt enorme Gefahren.

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Bild: Das Bundeskanzleramt hinter einem roten Filter
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Die Unberechenbarkeit der Regierung Donald Trump und die widersprüchlichen Aussagen der US-Regierung zu NATO und transatlantischer Verteidigung haben einer alten Idee neues Leben eingehaucht: der Idee einer europäischen nuklearen Abschreckung. Sollten die USA nicht länger bereit sein, ihren nuklearen Schutzschirm über Europa aufzuspannen, dann wäre es an Frankreich und Großbritannien, ihre Atom­arsenale zusammenzulegen und der Europäischen Union zu unterstellen, schlug CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter schon wenige Tage nach der Wahl Trumps vor. Finanzieren solle die EU ihre nukleare Abschreckung durch einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt. Im Februar sprach sich auch Jaroslaw Kaczynski, Chef der polnischen Regierungspartei PiS, dafür aus, die EU zu einer „nuklearen Supermacht“ zu machen. Das russische Arsenal müsse durch eine europäische Abschreckung ausgeglichen werden.

Einige deutsche Kommentatoren vertraten gar die Meinung, dass eine britisch-französische Abschreckung unter Aufsicht der EU nicht weit genug gehe. Berthold Kohler, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, argumentierte, die britischen und französischen Arsenale könnten einem Vergleich mit dem russischen Kernwaffenarsenal nicht standhalten. Kohlers Vorschlag: Deutschland solle nachdenken über „die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit, welche die Zweifel an Amerikas Garantien ausgleichen könnte“. Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institute, und der Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle von der Universität Winchester kamen zu ähnlichen Schlüssen. „Deutschland braucht Atomwaffen“, schrieb Terhalle im April in der Zeitschrift Foreign Policy.

Noch sind die Befürworter einer deutschen Bombe klar in der Minderheit. Seit Jahrzehnten gehört Deutschland zu den entschiedensten Befürwortern der Nichtverbreitung von Kernwaffen und weltweiter Abrüstung. Im Februar betonte ein Sprecher Kanzlerin Merkels, dass „es keine Pläne zur nuklearen Bewaffnung in Europa unter Beteiligung der Bundesregierung gibt“. Merkel und andere hielten dies nicht für eine gute Idee. Ein deutsches Atomarsenal könnte die Beziehungen zwischen EU und Russland destabilisieren. Damit riskiere man nur eine atomare Aufrüstung durch andere Staaten.

Der aktuelle Flirt mancher mit der Bombe mag eine Reaktion auf die Wahl Trumps sein, die in ihrer Schärfe auch wieder abklingt. Und doch wird damit ein tiefer liegendes Problem offenbar: Eine große Unsicherheit in Berlin, die auch entstanden ist, weil die USA in ihrer Russland- und EU-Politik keine klare Linie verfolgten. Um dieses Problem zu lösen, muss Deutschland enger mit Washington zusammenarbeiten. Die Bundesregierung sollte sich innerhalb der EU für eine engere Kooperation in der Verteidigung engagieren; die Trump-Regierung das US-Bekenntnis zu EU und NATO erneuern und gleichzeitig auf erneute Gespräche mit Russland über die Zukunft der europäischen Sicherheit drängen.

Der Schatten der Vergangenheit

Die Annexion der Krim 2014 war der Höhepunkt einer ganzen Kette von Krisen. In jeder dieser Krisen hat Deutschland als bevölkerungsstärkster Mitgliedstaat die Reaktion der EU wesentlich geprägt. Zusammen mit Frankreich, Russland und der ­Ukraine handelte es 2015 das Minsker Waffenstillstandsabkommen aus. Wann immer aber Deutschland die Führungsrolle übernimmt, wird unter dessen Nachbarn auch das Thema deutsche Geschichte und damit die alte Furcht vor einem deutschen Hegemon in Europa akut.

Diese Furcht reicht mindestens bis zur Gründung des ersten modernen deutschen Staates im Jahr 1871 zurück. Seitdem war Europa immer wieder mit der „deutschen Frage“ konfrontiert, dem Dilemma, dass kein europäisches Land je allein ein Gegengewicht zur wirtschaftlichen und militärischen Stärke Deutschlands bilden konnte, Deutschlands Macht aber nie so weit reichte, allein über Europa herrschen zu können. Die Teilung löste das Problem nur zeitweilig. Nach der Wiedervereinigung verhinderten zunächst die institutionellen Bande von NATO und EU ein erneutes Aufkommen der deutschen Frage. Nur von Freunden umgeben, musste Deutschland sich nicht mehr um seine „Mittellage“ sorgen. Gleichzeitig blieben die USA in Europa (und Deutschland) militärisch präsent. Die amerikanische Sicherheitsgarantie ermöglichte es den Deutschen, ihre weitgehend antimilitaristische Haltung zu wahren, die wirtschaftlichen Früchte des Friedens in Europa zu ernten und bisweilen als Moralapostel aufzutreten, der die USA für deren übermäßiges Vertrauen auf die eigene militärische Stärke kritisierte.

Diese Ära endete abrupt mit der Finanz- und der anschließenden Schuldenkrise von 2009. In dieser Situation forderten viele EU-Staaten eine deutsche Führungsrolle. Doch mit Berlins als aufgezwungen empfundener Austeritätspolitik tauchten wieder Warnungen vor einer deutschen Hegemonie auf.

Der erste große Schock für die europäische Sicherheitspolitik folgte 2014 mit dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine. Die USA hielten sich weitgehend zurück; Deutschland handelte zusammen mit Frankreich ein Waffenstillstandsabkommen in der Ostukraine aus, setzte EU-Sanktionen gegen Russland durch und schickte Bundeswehrsoldaten nach Litauen zur Rückversicherung für die baltischen NATO-Partner. Eine amerikanische Russland-Politik, die in den vergangenen Jahren zwischen Eindämmung des russischen Einflusses im Osten und „reset“ der angespannten Beziehungen schwankte, ließ Deutschland kaum eine andere Option, als die Führung zu übernehmen.

Trumps Wahl erhöhte die Spannung zwischen dem Ruf nach deutscher Führung, den Grenzen deutscher Macht und den europäischen Bedenken gegen eine deutsche Dominanz. Immerhin hatte Trump im Wahlkampf den Brexit gut geheißen. Damit war die politische Identität Deutschlands in ihrem Kern getroffen – was blieb Berlin anderes, als sich klar als Verteidiger der EU zu geben. Trumps Bezeichnung der NATO als „veraltet“ zielte auf ein System, das Deutschlands und Europas Sicherheit über mehr als ein halbes Jahrhundert garantiert hatte. Am bedenklichsten aber waren Trumps Annäherungsversuche an Putin. Sie zwangen Deutschland in eine neue „Mittellage“, diesmal zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml. Das verursachte nicht nur Deutschland, sondern der gesamten EU Schwierigkeiten. In einer Rede vom Januar dieses Jahres sprach EU-Ratspräsident Donald Tusk über die größten Gefahren für die EU, zu denen natürlich islamistischer Terror und russische Aggression gehörten. Besonders beunruhigt zeigte er sich aber über „besorgniserregende Erklärungen der neuen amerikanischen Regierung“. Staatschefs in ganz Europa fürchteten, dass Trump populistische Kräfte unterstützen würde, denen es um die Zerstörung der EU geht; oder dass er die US-Sicherheitsgarantie für Europa zur Verhandlungsmasse eines „großen Deals“ zwischen Trump und Russland machen würde.

Eine gefährliche Idee

Fände Europa sich zwischen den indifferenten USA und einem feindseligen Russland wieder, wäre es vor allem an Berlin, Europa nicht nur politisch, sondern auch militärisch zu verteidigen. Doch damit käme auch das Problem einer deutschen Hegemonie wieder auf den Tisch. Eine Aufrüstung der Bundeswehr ohne Integra­tion in das europäische Projekt könnte zu deutscher Isolation und erheb­lichen Rissen in der EU führen.

Sind Kernwaffen die Lösung dieses Dilemmas? Nach Ansicht ihrer Befürworter dienen sie als Abschreckung im Bereich existenzieller Bedrohungen. Gleichzeitig würden sie die Abhängigkeit Europas von den USA reduzieren, ohne Ängste vor einer neuen deutschen Dominanz zu schüren. „Eine Projektion nuklearer Macht durch Berlin würde als legitim akzeptiert werden“, schreibt Terhalle, weil „die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs in den internationalen Beziehungen heute keine praktische Rolle mehr spielen.“ Stattdessen präge die „als Bedrohung wahrgenommene Rolle Russlands“ die Außenpolitik der mittel- und osteuropäischen Staaten. Besonders tragfähig ist das Argument nicht. Russlands Vorgehen in der Ostukraine mag die EU-Staaten geeint haben, doch die Ängste vor einer militärischen Großmacht Deutschlands sind längst noch nicht vollständig verschwunden. Stellte Deutschland Atomwaffen her, würde das die gegenwärtige außenpolitische Einigkeit der EU schnell beenden.

Selbst wenn der Rest der EU deutsche Atomwaffen akzeptierte, würde dies das europäische Sicherheitsproblem nicht in Gänze lösen. Abschreckung durch Atomwaffen ist bei hybrider Kriegführung, wie sie von Russland so erfolgreich auf der Krim und in der Ostukraine praktiziert wird, kaum hilfreich. Ebenso wenig ist es möglich, den nuklearen Schutzschirm der USA einfach durch eine deutsch oder europäisch geführte Alternative zu ersetzen. Es dauerte lange, bis die USA die Sowjetunion endlich davon überzeugt hatte, dass sie Berlin im Ernstfall mit Nuklearwaffen verteidigen würden – gerade angesichts der sowjetischen Übermacht bei konventionellen Waffen. Deutschland hätte das gleiche Problem, wenn es eine glaubwürdige Abschreckung herstellen wollte. Russland müsste überzeugt sein, dass man ernsthaft bereit ist, Europa und vor allem die baltischen Staaten mit nuklearen Mitteln zu verteidigen.

Mit Frankreich und Großbritannien sind (noch) zwei EU-Staaten Atommächte. Die Bombe hat beiden Ländern ein wenig mehr Handlungsspielraum in ihrer Sicherheitspolitik verschafft, doch die Abhängigkeit von den USA bei der Bereitstellung konventioneller Kriegsmittel ist geblieben. Keines der beiden Länder konnte es während des Kalten Krieges auch nur annähernd mit dem Atomarsenal der Sowjetunion aufnehmen.

Die nukleare Bewaffnung der Briten und Franzosen hat außerdem kaum zur Verbesserung der gemeinsamen Verteidigung in der NATO beigetragen. Frankreich hält sich aus den Nuklearplanungen der NATO heraus. Nur das Vereinigte Königreich hat zugesichert, mit seinen Atomwaffen im Ernstfall auch andere NATO-Mitglieder zu verteidigen. Auch das britische Drohpotenzial erlangte allerdings erst nach langer Zeit die nötige Glaubwürdigkeit. Für die Frage einer deutschen Atombombe gälte also: Allein der Besitz nuklearer Waffen verbessert nicht automatisch die Sicherheitslage der Allianz.

Alles nicht so einfach

Ungeachtet der Wirkung eines nuklearen Arsenals müsste Deutschland einige schwerwiegende technische, politische und sicherheitsrelevante Probleme lösen, um ein militärisches Atomprogramm aufbauen zu können. Die zivilen deutschen Atomenergie-Infrastrukturen müssten für die Waffenproduktion umgerüstet oder neue militärische Anlagen geschaffen werden. Es wäre aber kaum möglich, die Entwicklung von Atomwaffen in militärischen Anlagen geheim zu halten, da der notwendige bauliche Aufwand zu groß wäre.

Genauso wenig könnte Deutschland ausschließlich auf zivile Infrastrukturen zurückgreifen: Nach der Nuklearkatastrophe von ­Fukushima 2011 hat die Bundesregierung unter Angela Merkel die Stilllegung aller deutschen Atomkraftwerke bis 2022 beschlossen. Damit wäre es wesentlich komplizierter, den Bau einer Bombe unter dem Deckmantel eines zivilen Atomprogramms zu forcieren. Selbst scheinbar harmlose ­Schritte, wie die Erhaltung einiger größerer Reaktoren über das Jahr 2022 hinaus, würden verdächtig erscheinen.

Es käme also unweigerlich der Zeitpunkt, an dem Deutschland den Versuch einer nuklearen Aufrüstung nicht länger verbergen könnte – und damit größte innenpolitische Widerstände, vielleicht sogar zivile Unruhen auslösen würde. Die große Mehrheit der Deutschen ist entschieden gegen eine nukleare Bewaffnung: Eine Umfrage vom März 2016 ergab, dass 93 Prozent der Befragten eine internationale Ächtung von Atomwaffen befürworten und 85 Prozent den Abzug aller amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland begrüßen würden. Die Bürger würden ein staat­liches Atomwaffenprogramm nicht unterstützen. Ein Politiker, der dennoch ein heimliches Programm autorisierte, würde den politischen Ruin riskieren.

Ein deutsches Nuklearwaffenarsenal würde außerdem den Atomwaffensperrvertrag gefährden. Bevor Deutschland eine Bombe bauen könnte, müsste es aus dem Sperrvertrag austreten – ein Schritt, der die Existenz der Vereinbarung selbst aufs Spiel setzen würde. Der erfolgreichen Geschichte des Vertrags zum Trotz ist dessen Fortbestand alles andere als sicher. Die Atommächte unter den Vertragsstaaten haben sich zur Abrüstung verpflichtet. Allerdings gab es in den vergangenen Jahren kaum mehr Fortschritte, was wiederum die atomwaffenfreien Vertragsstaaten frustrierte.

Eines der ursprünglichen Ziele des Abkommens war es, Deutschland vom Bau einer Atombombe abzuhalten. Würde sich Berlin jetzt davon verabschieden, könnte ein Non-Proliferationsregime komplett in sich zusammenfallen. Auch andere Staaten würden sich nicht mehr an die kollektive Verpflichtung zur Nichtverbreitung gebunden fühlen.

Nicht nur das: Deutschland müsste auch den Zwei-plus-Vier-Vertrag modifizieren oder ganz von ihm zurücktreten. Auch hier hat es sich ja zum „Verzicht auf die Herstellung nuklearer, biologischer und chemischer Waffen“ verpflichtet. Ein Vertragsrücktritt wäre ein Affront gegenüber den Alliierten des Zweiten Weltkriegs, die im Kampf gegen das Nazi-Regime enorme Verluste erlitten haben.

Am schwersten aber wiegt: Würde Deutschland ernsthaft ein eigenes militärisches Nuklearpotenzial aufbauen, würden damit die Konflikt­risiken in Europa wesentlich verschärft. Russland würde wohl einiges unternehmen, um eine deutsche Aufrüstung zu verhindern. Es könnte versuchen, deutsche Wissenschaftler ermorden zu lassen, mit Cyberattacken Industrieanlagen lahmzulegen oder sie vielleicht sogar mit Luftschlägen zu zerstören. Auch verdeckte Operationen könnten schnell eskalieren.

Selbst wenn Deutschland Atomwaffen bauen könnte, müssten sie einem russischen Angriff standhalten können. In den vergangenen Jahren hat Russland einen Teil seiner Raketen nach Westen verschoben, mit Deutschland und anderen ­NATO-Staaten als Ziel. Überdies beschuldigt Washington den Kreml, den INF-Vertrag über die vollständige Vernichtung landgestützter Mittelstreckenraketen aus dem Jahr 1987 zu unterlaufen. Die russischen Fähigkeiten, ein mögliches deutsches Nukleararsenal anzugreifen, würden also weiter wachsen. Wäre es nicht möglich, das deutsche Nukleararsenal sofort nach Herstellung zu verstecken und zu schützen, könnte im Fall einer Krise der Druck entstehen, mit einem Präventivschlag die Zerstörung des eigenen Arsenals durch einen russischen Angriff zu verhindern.

Eine Frage der Souveränität

Diese nicht gerade geringen Hürden auf dem Weg zu einer deutschen Bombe haben viele dazu bewegt, sich doch auf eine britisch-französische Abschreckung zu konzentrieren. Der Brexit lässt Deutschland jedoch nur die Option Frankreich. Es wäre nicht das erste Mal, dass Deutschland und Frankreich eine gemeinsame nukleare Abschreckung in Betracht zögen. Kurz nach der Suez-Krise 1957 war es zu erheblichen Spannungen zwischen Frankreich und den USA gekommen. Damals zweifelte man in Paris die Zuverlässigkeit des amerikanischen Verteidigungsversprechens unter Einbezug von Atomwaffen an und schlug deshalb Italien und Westdeutschland eine trilaterale nukleare Aufrüstung vor. Kurz nach seiner Amtsübernahme im folgenden Jahr brach Charles de Gaulle die Geheimverhandlungen jedoch schnell wieder ab – um wenig später im Jahr 1962 Bundeskanzler Konrad Adenauer erneut eine Kooperation in Aussicht zu stellen.

In den 1990er Jahren schlug Frankreich wiederum vor, den nuklearen Schutzschirm um Deutschland zu erweitern, auch, um den amerikanischen Einfluss in Europa zu verringern. All diese Versuche schlugen fehl – nicht zuletzt, weil Frankreich es ablehnte, die alleinige Kontrolle über sein Arsenal abzugeben. An diesem Kalkül, den Zugriff auf die Atombombe unmittelbar mit der eignen außenpolitischen Souveränität zu verknüpfen, hat sich bis heute nichts geändert. Erneute Gespräche mit Frankreich zu diesem Thema würden nur eines erreichen: den isolationistischen Teilen der Trump-Regierung einen echten Grund zum Ausstieg aus der europäischen Verteidigungsgarantie zu geben.

Ende der Wackelpolitik

Atomwaffen werden die aktuellen Probleme Europas nicht lösen. Wa­shington sollte aber zur Kenntnis nehmen, dass einige nicht von Ungefähr darüber nachdenken: Schließlich wächst die Unsicherheit über eine inkohärente amerikanische Russland-Politik, die schon lange vor Trump begonnen hat. Nach 2000 standen Washington mehrere Optionen zur Verfügung: Die USA hätten sich ausschließlich auf die Verteidigung ihrer NATO-Partner konzentrieren und damit die russische Expansion eindämmen, den ehemaligen Sowjetstaaten Georgien und Ukraine Hilfe gegen die russische Dominanz anbieten oder die Option einer engen Kooperation mit Russland wählen können, um gemeinsam globale ­Sicherheitsprobleme zu lösen.

Die USA haben auf alle drei Optionen zurückgegriffen. Trotz eindringlicher Warnungen Russlands haben sie neue Mitglieder in die NATO aufgenommen, die Möglichkeit weiterer Beitritte lässt man auch jetzt grundsätzlich bestehen. Es ist der NATO aber nicht gelungen, Russland zu zwingen, die georgischen und ukrainischen Grenzen zu respektieren. Gleichzeitig haben US-Regierungen bei Problemen wie Terrorbekämpfung oder der Kontrolle des iranischen Atomprogramms mit Moskau kooperiert.

Bis heute hat sich Washington nicht für eine klare Strategie entschieden. Wenn jetzt auch noch Trumps unberechenbarer Umgang mit Russland und der NATO hinzukommt, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Europäer fragen, welche langfristigen Prioritäten Washington wirklich hat und wie sie erreicht werden sollen.

Die Krise in den transatlantischen Beziehungen birgt die Chance gerade für Deutschland, praktische Schritte zur Verbesserung der konventionellen Sicherheit Europas zu unternehmen. Aber sie bietet keinen Anlass, sich gefährlichen Träumen von einer deutschen Atombombe hinzugeben. Berlin sollte sich nicht auf das Ausgabenziel der NATO von 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts beschränken, sondern eine engere Zusammenarbeit zwischen den nationalen Armeen der EU forcieren, die gemeinsamen EU-Truppenkontingente besser ausrüsten und gemeinsam mit den anderen EU-Staaten eine Duplizierung von Ausgaben für ähnliche Rüstungsprojekte sowie Forschung und Entwicklung vermeiden. Es gilt, den jeweiligen Nationalstolz zu überwinden und gemeinsam eine EU-Rüstungsindustrie sowie Pläne zur Stärkung der europäischen Resilienz gegenüber russischer Propaganda zu entwickeln.

Washington muss begreifen, dass auch die Macht der USA Grenzen hat. Man sollte sich daher auf die Stärkung bestehender Bündnisse wie dem mit Europa konzentrieren. Dafür sollten mehr hochrangige Politiker die baltischen Staaten besuchen und ein weiteres schnell verlegbares Bataillon in der Region aufgestellt werden, um das Bekenntnis zum Schutz der am meisten gefährdeten NATO-Mitglieder im Osten zu bekräftigen.

Washington sollte zudem prüfen, ob sich Russlands Ambitionen „nur“ auf seine einstige Einflusssphäre beschränken oder ob es mehr im Sinn hat. Hier sollte es durchaus die Option geben, die bisherige NATO-Politik der offenen Tür zu beenden, wenn sich Russland im Gegenzug zu Zugeständnissen in der Ostukraine bereit erklärt. Sollte sich der Kreml von einer solchen Politik nicht abhalten lassen und weiterhin NATO-Mitglieder bedrohen, könnten die USA immer noch zu ihrer Eindämmungspolitik zurückkehren.

Damit dies funktionieren kann, muss Deutschland zu seiner bewährten Rolle als Vermittler zurückkehren. Washington sollte ein seit Langem bestehendes Angebot Berlins annehmen, Verhandlungen über die europäische Sicherheit zwischen Russland, den USA und allen europäischen Staaten einzufädeln.

1975 haben ähnliche Treffen in Helsinki zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den sowjetischen und amerikanischen Militärs beigetragen und den Weg für ein Abkommen freigemacht, das auch ein Bekenntnis zu individuellen Rechten und Freiheiten war. Europäische und amerikanische Politiker sollten versuchen, eine Vereinbarung zu erzielen, die sowohl die Sicherheit der NATO-Staaten als auch Russlands verbessert, den Krieg in der Ukraine beendet und hilft, die Ökonomien der ehemaligen Sowjetstaaten anzukurbeln. Der Enthusiasmus für eine solche Initiative hielt sich in Washington bislang in Grenzen. Jetzt wäre die Gelegenheit, die bisherige Haltung der USA zu überdenken.

Wie die Diskussion über ein deutsches Nukleararsenal zeigt, können selbst beiläufige Kommentare zur europäischen Sicherheitslage ernste Konsequenzen haben. Deshalb sollte die Trump-Regierung die NATO stützen, wann immer es möglich ist. Mehr Weitsicht, was Russland und europäische Sicherheit betrifft, wäre durchaus auch wünschenswert. Geben die USA ihre Führungsrolle nicht auf, würde Deutschland der Balanceakt zwischen einer seiner Größe angemessenen Position in der EU und der Angst vor einer neuen Vormachtstellung eher gelingen. Zusammen können Deutschland und die USA das transatlantische Bündnis erneuern, auf das Europa gebaut ist.

Ulrich Kühn ist Fellow im Nuclear Policy Program von Carnegie Endowment for International Peace.

Tristan Volpe ist Fellow im Nuclear Policy Program von Carnegie Endowment for International Peace.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2017, S. 90 - 97

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