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01. Juli 2020

Teilhabe als Chance

Wie Deutschland atomwaffenfrei werden kann und die Sicherheit Europas dabei noch gestärkt wird.

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Bild: Weltkarte mit verzeichneten Nato-Staaten
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In den vergangenen Wochen wurde in Deutschland intensiv über die Zukunft der nuklearen Teilhabe diskutiert. Diese Debatte erweist sich auch als Chance: In fünf Jahren könnte Deutschland atomwaffenfrei sein, ohne dass Europa unsicherer ist und die NATO geschwächt wird. Dafür braucht es viel Abstimmung und eine Kombination aus Rückversicherung und Rüstungskontrolle.

Ausgelöst wurde diese Debatte durch einen Vorschlag des Bundesverteidigungsministeriums über den beabsichtigten Kauf atomwaffenfähiger US-Kampfbomber. Die Entscheidung fällt aber frühestens in der nächsten Legislaturperiode – also genug Raum und Zeit für Diskussion.



Dass eine solche Debatte auch die nukleare Rolle der Flugzeuge miteinschließe, machte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich deutlich. Nach seiner Einschätzung seien die Risiken einer fortgesetzten Stationierung amerikanischer Atomwaffen in Deutschland weitaus größer als ihr sicherheitspolitischer Nutzen. Hierauf folgte viel Kritik. Für eine Änderung der nuklearen Teilhabe gebe es weder politischen noch militärischen Spielraum, so Befürworter des Status quo. Eine kurzfristige unilaterale Änderung der deutschen Stationierungspraxis würde das Bündnis über Gebühr belasten. Ohne die Vornestationierung amerikanischer Atomwaffen würde Deutschland an Einfluss verlieren. Bereits eine Diskussion über die Teilhabe wäre ein Punktsieg für Moskau und käme einer Schwächung der NATO gleich.



Jenseits dieser bekannten Positionen offenbart die jüngste Debatte jedoch interessante Differenzierungen. So wurde erstmals betont, dass ein Abzug der in Deutschland stationierten 20 US-Atombomben nicht mit dem Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe gleichzusetzen sei. Auch ohne Bomben würde Berlin weiterhin an Diskussionen, Planungen und Übungen nuklearer Missionen der NATO teilnehmen, etwa in der Nuklearen Planungsgruppe. Außerdem besteht inzwischen weitestgehend Einigkeit, dass es kein militärisches Einsatzszenario dieser Waffen gibt, das nicht durch andere konventionelle oder nukleare Fähigkeiten der NATO bereits abgedeckt wäre. Zu guter Letzt sind die Interessen der osteuropäischen Verbündeten – und damit Deutschlands Verantwortung für die europäische Sicherheit – von zentraler Bedeutung in der Abzugsdebatte. Zu einer solchen Debatte wird es vermutlich in der nächsten Legislaturperiode kommen, wenn die Entscheidung über die Tornado-Nachfolge ansteht. Es gibt also reichlich Gründe, den politischen Handlungsspielraum auszuleuchten, wie Schritte zur Verringerung der Rolle von Atomwaffen in Einklang mit den sicherheits-, rüstungskontroll- und allianzpolitischen Interessen Deutschlands gebracht werden können.



Fünf Jahre für die Rüstungskontrolle

Ausgangspunkt solcher Schritte sollte eine Aufrüstungspause in Europa sein, zumindest bei jenen Waffensystemen, die besonders destabilisierend sind. Die kommenden fünf Jahre bieten dafür den Rahmen, denn in diesen Zeitabschnitt fallen die Amtszeiten der nächsten deutschen und amerikanischen Regierungen. Erst ab 2025 sollen nach gegenwärtiger Planung die nuklearfähigen Tornados außer Dienst gestellt werden. Und in fünf Jahren kommt zudem die nächste Überprüfungsperiode des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags zum Abschluss.



Berlin könnte darauf hinwirken, dass die NATO und Russland ein solches „window of opportunity“ gemeinsam nutzen. Dafür müsste die NATO dem Kreml konkrete, reziproke und politisch verbindliche Schritte vorschlagen, die beide Seiten bereit wären, für die Dauer von fünf Jahren zu unternehmen. Das Ziel: den Boden bereiten für eine nachhaltige Diskussion über Sicherheit und Stabilität in Europa. Für ein solches Vorgehen gäbe es vermutlich von den Verbündeten viel Unterstützung. Es wäre zugleich ein Test für Deutschlands Einfluss in der Allianz.



Konkret könnte dies heißen, dass Russland sich verpflichtet, keine neuen landgestützten nuklearfähigen Kurz- und Mittelstreckenwaffen im europäischen Teil des Landes zu stationieren. Seit vielen Jahren hat Moskau erklärt, nukleare Sprengköpfe für diese Waffen zentral zu lagern. Bei den Zentrallagern und dem Transport von Sprengköpfen müsste Russland nun gegenüber den NATO-Staaten endlich Transparenz herstellen. Russlands berüchtigte „9M729“-Marschflugkörper, die zum Ende des INF-Vertrags beitrugen, sollten mindestens bis 2025 überprüfbar in solche Lager überführt werden.



Die NATO würde im Gegenzug erklären, bis 2025 keine neuen landgestützten Mittelstreckenwaffen in Europa zu stationieren. Die Nachfolgegeneration der B61-Atomwaffe – die sogenannte B61-12 – dürfte frühestens 2025 in Büchel und anderswo stationiert werden. Die im Bau befindliche „Aegis Ashore“-Raketenabwehrbasis in Polen würde nicht vor 2025 ihren Betrieb aufnehmen.



Deutschland könnte die Entscheidung über die Tornado-Nachfolge vom Ergebnis der Gespräche zwischen der NATO und Russland abhängig machen. Gegebenenfalls würde der Tornado noch zwei bis drei Jahre länger als bisher geplant fliegen.



Das gemeinsame Verabreden einer solchen Atempause wäre an sich schon ein Erfolg. Gleichzeitig wäre es aber auch notwendige Voraussetzung für eine Reihe von Maßnahmen der Vertrauensbildung. In enger Abstimmung mit den Verbündeten könnte Berlin Impulse in drei Richtungen setzen: für eine Debatte um die Vornestationierung von Atomwaffen, für Maßnahmen der Rückversicherung innerhalb der NATO sowie für einen rüstungskontrollpolitischen Dialog zwischen der Allianz und Russland.



Vornestationierung hinterfragen

Zunächst sollten die fünf Staaten, in denen US-Atomwaffen stationiert sind, ihre Interessen abstimmen: In Belgien und den Niederlanden ist die Unterstützung für die Fortführung der Vornestationierung fragil. Die Bomben im türkischen Incirlik lagern in gefährlicher Nähe zum syrischen Kriegsgebiet; zudem hat Ankara jüngst rhetorisch mit der Entwicklung eigener Atomwaffen geflirtet. Und auch die Kosten eines möglichen Abzugs müssten diskutiert werden.



Parallel sollte die vom NATO-Generalsekretär Ende März ins Leben gerufene „Reflexionsgruppe“ Nuklearthemen auf die Agenda nehmen. Die Gruppe wird möglicherweise das nächste Strategische Konzept der Allianz vorbereiten und trägt schon jetzt eine deutsche Handschrift, weil Außenminister Heiko Maas sie mit angestoßen hat und der ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière Ko-Vorsitzender ist. Angesichts des breiten gesellschaftlichen Widerstands gegen die Vornestationierung wäre es wichtig, diese Diskussionen so transparent wie möglich zu gestalten, damit das Ergebnis auch möglichst breite Akzeptanz finden kann.



Rückversicherung stärken

Die Vertreter des nuklearen Status quo verweisen auf die Sicherheitsinteressen der östlichen Bündnispartner. Ein einseitiger Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland wäre unsolidarisch. Ihn darf es deshalb unabgestimmt nicht geben.



Berlin muss in besonderem Maße für die nötige Rückversicherung Verantwortung übernehmen, aber gleichzeitig stärker für eine zunehmende Verschränkung der kollektiven mit der kooperativen Sicherheit werben. Mit einer gelungenen Kombination aus Rückversicherung und Rüstungskontrolle würde Deutschland in der besten aller NATO-Traditionen stehen, der auf Stärke und Dialog setzenden Harmel-Doktrin. Verbündete für einen solchen Ansatz gäbe es in Zeiten amerikanischer Alleingänge bestimmt. Ein deutscher „Sonderweg“ wäre ausgeschlossen.



Ein deutscher Beitrag zu echter Solidarität müsste bei den konventionellen Rückversicherungsmaßnahmen der NATO ansetzen. Im Rahmen der 2016 beschlossenen NATO Enhanced Forward Presence beteiligen sich 24 alliierte Nationen an der Sicherheit der drei baltischen Länder und Polens. Es ist kein Geheimnis, dass die vier Länder das bestehende Arrangement angesichts der regionalen Überlegenheit Russlands gerne weiter verstärkt sehen würden. Hier könnte Berlin ein mögliches Quid pro quo des nuklearen Abzugs im Tausch gegen mehr konventionelle Sicherheit ausloten.



Ein erster wichtiger Schritt wäre, dass Deutschland die bereits zugesagten konventionellen Fähigkeiten bereitstellt. Lücken gibt es beispielsweise noch immer beim deutschen Beitrag zu den besonders mobilen Truppen der NATO-Speerspitze, die den Partnern an der Flanke militärische Unterstützung zukommen lassen soll. So musste die Bundesregierung unlängst eingestehen, dass ihr Anteil an der mobilen Speerspitze aus Kräften besteht, die weder voll ausgestattet noch einsatzbereit sind. Auch in drei Jahren müsste sich die Bundeswehr vermutlich noch Material zusammenleihen, wenn sie diese führen soll. Zusätzliche Fähigkeiten könnten die Sicherheit des baltischen Luftraums sowie die direkte Grenzüberwachung zu russischem Gebiet mit einschließen.



Gespräche über effektive konventionelle Rückversicherung dürfen nicht von vornherein an der NATO-Russland-Grundakte scheitern. Die 1997 vereinbarte Grundakte untersagt die dauerhafte Stationierung zusätzlicher „substanzieller Kampftruppen“ in den östlichen Bündnisstaaten. Obwohl der Terminus nie quantifiziert wurde, würden zusätzliche konventionelle deutsche Verbände an der Ostflanke zumindest den Geist der Grundakte verletzen. Eine neue Verschränkung der kollektiven mit der kooperativen Sicherheit wäre aber auch deshalb nötig, weil die Grundakte de facto zwei Zonen unterschiedlicher Sicherheit in der NATO festgeschrieben hat – ein Umstand, der bis heute Anlass zur Klage in Osteuropa gibt. Maßnahmen der Rückversicherung müssen Teil eines sicherheitspolitischen Gesamtpakets zwischen Russland und der NATO werden, das die Grundakte idealerweise überflüssig macht.



Rüstungskontrolle reformieren

Doch dafür muss Moskau an Bord. Ausgangspunkt einer neuen Initiative könnte Emmanuel Macrons jüngster Vorstoß zur Stärkung der europäischen Rüstungskontrolle sein. Um gleichzeitig Russlands Ernsthaftigkeit zu testen, sollten sowohl nukleare als auch konventionelle Systeme auf den Begrenzungsprüfstand. Die Gespräche im NATO-Rüstungskontrollausschuss über ein Verhandlungsangebot sollten wieder aufgenommen werden, um zu beweisen, dass die NATO auch rüstungskontrollpolitisch handlungsfähig bleibt. Dann wäre nämlich Russland am Zug, auf die Offerte des Westens zu antworten.



Gespräche über Transparenz und Begrenzung konventioneller Systeme wären nicht einfach und müssten sich an den drängendsten Bedrohungswahrnehmungen orientieren. Die Angst der Balten vor einer russischen Landnahme zeigt die Relevanz klassischer Streitkräfte zu Lande und in der Luft. Hinzu kommen Befürchtungen, dass Russland seine Großmanöver für einen Überraschungsangriff missbrauchen könnte. Moskau muss daher bereit sein, bestimmte konventionelle Fähigkeiten in direkter Nachbarschaft zur NATO-Ostflanke zu begrenzen. Natürlich wäre es wünschenswert, auch dual nutzbare Abstandswaffen und neue Waffentechnologien zu begrenzen oder hybride Formen der Kriegsführung zu regeln. Aber man kann eine Agenda auch überfrachten. Deshalb würde ein Rüstungskontrollrahmen, der die Fähigkeiten zum Überraschungsangriff mindert, die Sicherheit in Osteuropa bereits enorm stärken.



Parallel sollte dringend über Maßnahmen der nuklearen Risikominimierung in Europa geredet werden. Dabei müsste auch die Vornestationierung von Atomwaffen Thema nuklearer Rüstungskontrollgespräche werden. Moskau wiederholt seit Jahren gebetsmühlenhaft, dass es über seine rund 2000 taktischen Atomwaffen erst reden will, wenn die in Europa stationierten US-Atomwaffen zurückgeführt werden. Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen und den Kreml zu fragen, zu welchen Abrüstungsmaßnahmen im substrategischen Bereich er im Gegenzug bereit wäre. Solchen Gesprächen unter Hinweis auf russische Vertragsbrüche dauerhaft aus dem Weg zu gehen, ist kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche der Allianz.



Für ein Gesamtpaket

Ziel dieser drei Gesprächsstränge wäre es, die Interessen der Stationierungsstaaten in Einklang mit den Sicherheitsbedürfnissen unserer NATO-Partner zu bringen. Sollte es im Rahmen von Rüstungskontrollgesprächen mit Russland möglich sein, die Rolle von Atomwaffen zu vermindern, könnte auf die Vornestationierung verzichtet werden – in allen fünf Staaten. Zwischenschritte wären denkbar. So könnte die NATO zwar die US-Atomwaffen in die USA zurückführen, ihre nukleare Infrastruktur aber so lange intakt halten, bis Russland seine taktischen Atomwaffen irreversibel aus dem europäischen Teil des Landes abgezogen hat. In jedem Fall würde die NATO die Teilhabe als Form der politischen Abstimmung erhalten.



Wenn Moskau sich nach Ablauf der fünf Jahre einer rüstungskontrollpolitischen Initiative verweigert, würde Deutschland weiter an der nuklearen Vornestationierung mitwirken. Berlin würde dies allerdings tun, nachdem es für stärkere Rückversicherungsmaßnahmen eingetreten ist und sich gegenüber Russland und auch global für mehr Abrüstung stark gemacht hat. Im Idealfall hätte Berlin einen Prozess angestoßen, der in Europa Instabilitäten reduziert und die Allianzsolidarität auf eine belastbare Grundlage stellt. Die fortgesetzte Stationierung von US-Atomwaffen aber leistet beides nicht. Sie wäre dann verzichtbar geworden.



Dr. Pia Fuhrhop leitet das Berliner Büro des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg.

Dr. Ulrich Kühn leitet den Forschungsbereich Rüstungskontrolle und Neue Technologien am IFSH.

Dr. Oliver Meier ist Senior Researcher am IFSH.

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