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01. März 2006

Kein Zutritt für „Ausländer“

Die hermetische deutsche Leitkultur schließt Migranten aus

Die dritte und vierte Generation der „Gastarbeiter“-Kinder – hier geboren, sozialisiert und ausgebildet – stößt an unsichtbare Grenzen, wenn sie hierzulande Karriere machen will: Deutsche mit türkischem Namen werden immer noch benachteiligt. Deutschland muss sich endlich dazu durchringen, seine Einwanderer willkommen zu heißen und ihnen Chancengleichheit mit seinen anderen Bürgern zu gewähren.

Sie kamen, um zu arbeiten, und nicht, um hier wirklich zu „leben“: die Gastarbeiter. Vor fast einem halben Jahrhundert ins Land geholt, platzten sie mitten hinein in das deutsche Wirtschaftswunder. Deutschland hatte zwei Weltkriege hinter sich, die letzte Niederlage bitterer als alle vorigen. Man war aufgebrochen, um kühne Träume zu verwirklichen und hatte sich an der Realität böse den Kopf eingeschlagen. Die Deutschen hatten sich nicht nur schuldig gemacht, sondern auch selbst große Verluste erlitten. Fast jede Familie hatte Tote zu beklagen – Söhne, Ehemänner, Väter, Großeltern. Die jüngere deutsche Geschichte war so leidvoll, dass man am liebsten darüber schwieg. Man wollte nicht mehr träumen, nicht viel reden und nur noch nach vorne schauen. Es sollte jetzt nur noch eines zählen: Leistung, die in Zahlen zu beziffern ist. Die Deutschen wollten offenbar keine Dichter und Denker mehr sein, sondern nur noch die Kasse klingeln hören.

Etwas zugespitzt gesagt, lernten die Arbeitsmigranten nie eine andere deutsche Leitkultur kennen als: arbeiten, essen, trinken, schlafen, in Urlaub fahren, zur Kur gehen, arbeiten … Diese „Kultur“ teilten sie jahrzehntelang mit den deutschen Kollegen, mit denen sie zwar nicht innig verkehrten, aber immerhin so viel Austausch hatten, dass sie ihre Lebensgewohnheiten kennenlernen konnten. Die erste Generation der Deutschland-Türken, vor allem männlichen Geschlechts, war kaum religiös. In der Fremde, wo man sich ohnehin neu erfinden – oder nach heutigem Sprachgebrauch „frei entfalten“ – konnte, genossen viele die Möglichkeiten des Ausbruchs aus dem Käfig der Traditionen. Es waren mutige, junge Männer und Frauen angeworben worden; von Millionen hatten sich nur wenige bereit erklärt, das Abenteuer „Almanya“ zu wagen, eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Längere Liebesbeziehungen zu älteren deutschen Kriegerwitwen waren in diesen fünfziger und sechziger Jahren genauso verbreitet wie der allabendliche Kneipengang. Alkohol war nicht tabu, und ob die gute Salami aus dem Supermarkt nun aus Schweinefleisch bestand oder nicht, egal. Man war in einer Ausnahmesituation, in der Fremde eben, da würde Gott schon ein Auge zudrücken.

Die da oben, die da unten

Die kulturelle Kluft zwischen den deutschen und ausländischen Kollegen sollte jedoch mit der Zeit unüberbrückbar wachsen. Während die einen immer weiter voranmarschierten, blieben die anderen zurück. Die Deutschen stiegen mit Hilfe der „Gastarbeiter“ auf, denen sie die schlecht bezahlte Arbeit ohne große Karrierechancen überließen. Alle Türken, sei es im Ruhrpott, am Fließband in Sindelfingen oder in den Hamburger Werften, erzählen heute dieselbe Geschichte: „Als wir kamen, wurden auch die letzten Deutschen zu Vorarbeitern befördert.“ Den deutschen „Meister“ und seinen stummen ausländischen Befehlsempfänger trennten jetzt tatsächlich Welten. Diese klassenspezifische Situation wurde durch eine andere, unumkehrbare Entwicklung begleitet: Das Wirtschaftswunder bot (auch Dank der neuen ausländischen Arbeiter) neuen Generationen von deutschen Arbeiterkindern ungeahnte Chancen. Die sozialliberale Koalition machte mit der Bildungsreform ernst. Auch das letzte katholische Mädchen vom Lande sollte eine solide Schulbildung erhalten und einen Beruf erlernen. Deutschland ging daran, gründlich mit dem wilhelminisch-hitlerischen Mief aufzuräumen.

Die 68er-Generation erkämpfte sich – schmerzhaft, aber nicht ohne Spaß – den Bruch mit der „Augen-zu-und-durch“-Mentalität ihrer Eltern. Die schweigsame, fleißige Wiederaufbauarbeit der Alten, diese deutsche „Leitkultur“ der Nachkriegszeit, wurde von den Jungen gehasst. Leben, um zu arbeiten, das deutsche Leitmotiv, an das sich auch die Gastarbeiter jahrelang gehalten hatten, wurde zum Spott der jungen Deutschen, die sich nun über alles, was dem Establishment heilig war, hinwegsetzen wollten.

Die materielle Entwicklung erlaubte ihnen diesen „Spaß“. Was die Eltern und die eingeladenen Arbeiter aus dem Ausland geleistet hatten, kam den jungen Deutschen in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern sehr zugute. Universitäten und Kommunen, die sich Reformen leisten konnten, machten mehr oder weniger zögerlich mit. Der mentale Bruch mit der „Tätergenera-tion“ ging einher mit einer radikalen sexuellen Befreiung. Aus den besetzten Häusern wurden nach und nach mit städtischen Subventionen aufwendig sanierte Eigentumswohnungen; aus den Freundinnen wieder Ehefrauen und aus ehemaligen Studenten Lehrer und Freischaffende, die etwas von gutem Olivenöl und Wein verstanden und den Sommer in der Toskana verbrachten. Bis in die untersten Schichten bekamen die Deutschen Zugang zu Bildung, selbst Putzfrauen leisteten sich mal ein Opernabonnement. Man war nicht nur wieder wer, man konnte jetzt auch die Welt neu interpretieren und goutieren. Ja, man durfte wieder denken und dichten.

Das alles ging jedoch mehr oder weniger an den „Gästen“ vorbei. Diese waren in ihren heruntergekommenen Stadtvierteln geblieben, hatten sich mit Bausparverträgen Billigwohnungen gekauft, im zweiten Hinterhof oder da, wo kein Deutscher mehr wohnen wollte. „Malochen“, sparen und auf die endgültige Heimkehr warten – was hatte sich in ihrem Leben schon verändert? Jahrzehntelang saßen sie auf gepackten Koffern und betrogen sich und ihre Familien. Sie wurden zu den ewigen Zaungästen einer ihnen immer reicher, immer frecher, egoistischer und freizügiger erscheinenden Gesellschaft. Sie schauten, staunten und schimpften über das, was sie sahen. Sie kannten keinen Heiner Müller, hatten von Fassbinder, Grass und Böll keine Ahnung. Günter Wallraff war ihnen ein Begriff, ja, weil er sich um die Türken gekümmert hatte. Aber die gesamte intellektuelle Entwicklung der Sechziger ging an der ersten Gastarbeitergeneration vorbei. Sie hatten keinen Grund gesehen, sich wirklich in Deutschland niederzulassen. Erstens waren sie hier unerwünscht, das spürten sie genau. „Einmal Ausländer, immer Ausländer“ sagten sie sich – und schüttelten den Kopf, wenn es um Fragen der „Integra-tion“ ging, die der damalige Sozialminister Hans Kühn schon in den Siebzigern aufgeworfen hatte.

Aber das blieb nicht so. Die zweite Generation der türkischen Migranten interessierte sich schon lebhafter für das Geschehen um sie herum. Nicht wenige Vertreter dieser Generation, die von ihren Eltern tagsüber „deutschen Omas“ im Haus zur Betreuung überlassen wurden, lernten perfekt Deutsch und entwickelten ein Gespür für Veränderungen. Sie versuchten nicht nur, sich der deutschen Gesellschaft anzupassen, sie wollten ein Teil von ihr werden. Vor allem diejenigen, die eine Chance auf Bildung bekamen, integrierten sich rascher als erwünscht. Perfektes Deutsch und einen versierten Umgang mit deutschen Gesellschaftsregeln brachten sie mit – um immer wieder festzustellen, dass das nicht ausreichte. Sprache, Diplom, Engagement – was fehlte ihnen, um voranzukommen? Es fehlte ihnen nichts, sie hatten eher etwas zuviel: ihren nichtdeutschen Namen, ihr nichtdeutsches Aussehen. Der „gesunde Volkskörper“, gegen den doch eine ganze Nachkriegsgeneration angekämpft hatte, war offenbar äußerst resistent. Er stieß den „Fremdling“ aus, immer wieder und ohne Gnade. Deutsch werden konnte man nicht – die deutsche Identität definierte sich exklusiv. Jeder Neubürger wurde irgendwann mit diesem Widerspruch konfrontiert: Am Rhein, bei der Lorelei, auf den Feiern zur Wiedervereinigung Deutschlands, bei den Heimatvertriebenen, auf den Wagner-Festspielen, beim Barbarossa-Denkmal, da schien das Deutschtum zuhause zu sein, irgendwo im Nebel der schwer zu definierenden „deutschen Seele“, zu der nicht einmal ein Heinrich Heine Zugang gefunden hatte. Deutschland blieb ein Wintertraum.

So mussten es jedenfalls die Optimisten der zweiten Generation empfinden. Damals, als noch sehr wenige „Ausländerkinder“ deutsche Gymnasien besuchten, die Lehrer sich mit dem Deutschunterricht sehr viel Mühe gaben und besagte deutsche „Omas“ sie wie eigene Enkelkinder aufzogen, entstand eine große Zahl von Integrierten. Sie wuchsen mit der Hitparade von Dieter-Thomas Heck auf, lasen Bravo, knutschten auf der Klassenfete, reisten per Inter-Rail-Ticket durch Europa und nahmen am Schwimmunterricht teil. Sie vollzogen eine Modernisierung, die ihre Eltern entweder unterstützten oder aus Verzweiflung geschehen ließen. Die Hoffnung, dass „die Kinder es einmal besser haben“ würden, war noch nicht tot.

Wir sind kein Einwanderungsland!

Wenn dieser Integrationsprozess in den späten Siebzigern Erfolg gehabt hätte, wären für die dritte Generation der „Ausländer“ Rollenvorbilder von ungeheurer Kraft entstanden: Türkischstämmige Tagesschau-Ansagerinnen zum Beispiel, spanischstämmige Firmendirektoren, griechischstämmige Abgeordnete, Bürgermeister, Betriebsratsvorsitzende oder Hausärzte. Professionelle Menschen, bei denen niemand auf die Herkunft geschaut hätte: Denn Deutschland ist ja ein Einwanderungsland!

Mitnichten. In den ganzen Achtzigern und Neunzigern bestritten die deutschen Eliten, ein Einwanderungsland zu sein. Das hatte für integrierte Migranten handfeste Konsequenzen. Ihre Anpassung wurde nicht belohnt, die Gesellschaft räumte ihnen keinen Platz ein, um sie und andere zu größerer Integration zu ermutigen. Die „Ausländer“ blieben in Deutschland bis heute unerwünscht, so erschreckend diese Feststellung auch sein mag. Neue Deutsche? Nein, es sollte sie gar nicht geben. Sie waren ein Ärgernis, das man schlecht und recht zu tolerieren hatte. Verfechter eines „multikulturellen Deutschlands“ erbarmten sich ihrer zwar, behandelten sie aber selten als Ebenbürtige. Für viele deutsche Sozialarbeiter, die selbst vom Lande kamen und sich „unten“ fühlten, wurden die „Ausländer“ Objekt einer fleißigen Betreuungsarbeit, die sie wie unmündige Kinder behandelte – als ob das Anderssein eine Krankheit wäre. Auch diese „alternativen“ Deutschen, die sich nicht selten selbst ihrer deutschen Herkunft schämten, konnten den Neudeutschen das Tor zur Mitte der Gesellschaft nicht öffnen.

Derweil strömten täglich neue Migranten ins Land: Bürgerkriegs- oder Armutsflüchtlinge nutzten tatsächlich jede Lücke des Sozialsystems aus, um wenigstens eine Weile im Wohlstandsparadies zu bleiben. Das Gefälle war enorm. Wer auch nur einige Jahre in Deutschland auf Baustellen schwarz arbeiten konnte, verdiente so viel wie in Jahrzehnten zu Hause. Das führte zur Zuzugssperre, zu verschärften Visabedingungen und Asylgesetzen, so dass viele Türken nur noch eine einzige Möglichkeit der weiteren Arbeitswanderung nach Deutschland sahen: die Heirat. Diese stetige Einwanderung erzeugte vollkommenes Chaos, denn es gab nun neben in vierter Generation hier lebenden Deutschtürken auch solche, die erst gestern gekommen waren und kein Wort Deutsch sprachen. Die vielen billigen Charterflüge, das Satellitenfernsehen und das Internet – alles brachte die Türkei näher. Man kann heute in Deutschland tatsächlich leben, als ob man in der Türkei wäre.

Was tun? Diese Frage kann heute nur von den Deutschen selbst beantwortet werden. Wollen sie wirklich eine Einwanderergesellschaft sein? Oder überwiegen ihre Ängste vor dem Verlust ihrer Privilegien? Denn die Öffnung ist mit einem Risiko verbunden. In dem von Baden-Württemberg formulierten Einbürgerungsbogen für Ausländer wird die Frage gestellt: „Was würden Sie tun, wenn ein Schwarzafrikaner aus Somalia den Job bekommt, für den sich Ihre Tochter beworben hatte?“ Die Frage müssten sich eigentlich Deutsche stellen: „Was würden Sie tun, wenn Sie sich für eine Stelle bewerben, aber eine Türkin/ein Türke sie bekommt, weil sie/er die besseren Qualifikationen mitbringt?“ Nur rund ein Drittel der Türken in Deutschland lehnt heute eine gründliche Anpassung an das moderne Deutschland ab. Zwei Drittel wollen dazugehören. Das ist eine ernsthafte Herausforderung.

Einwanderungsland zu sein, bedeutet nicht, nüchtern Visaquoten für Krankenpfleger oder Computerspezialisten auszuschreiben – und damit den alten Geist der Anwerbung von „Gastarbeitern“ weiter zu pflegen. Es bedeutet, sich zu öffnen, den Anderen wirklich aufzunehmen und ihm eine faire Chance zu geben. Es bedeutet, Spaß daran zu haben, wenn der Andere einem immer ähnlicher wird. Es heißt zu akzeptieren, dass der „Neue“ einmal im Leben weiter kommen könnte als der „Alte“.

Die USA sind in dieser Hinsicht, trotz all ihrer Kontroversen, viel weiter als Deutschland. Die USA diskutieren zwar über die „Überfremdung“ durch die Hispanics, aber das Amt des für die Regierung sehr wichtigen Justizministers ist durch einen Mann namens Gonzales besetzt. Das sollte Deutschen zu denken geben. Erstaunen sollte sie ebenfalls, dass auf dem New Yorker Flughafen einreisende Ausländer auch von Zollbeamtinnen durchsucht und befragt werden, die ein Kopftuch tragen. Amerika, das einen umstrittenen „war on terror“ führt und dabei mitten ins Herz der islamischen Welt vorgedrungen ist, betrachtet fromme muslimische Zollinspekteurinnen offenbar nicht als ein gravierendes Sicherheitsrisiko.

In Deutschland scheinen „Ausländer“ jedoch in erster Linie ein Fall für die Sicherheitsbehörden zu sein. Der Gießener Sozialwissenschaftler Claus Leggewie fragte einmal: Wie kommt es, dass in Deutschland aus Türken keine Deutschen werden, sondern zum Beispiel Kurden? Viele junge, brillante „Türken“ sprechen heute perfekt Deutsch, besuchen deutsche Gymnasien, erlernen einen Beruf und leben schon längst nicht mehr im Ghetto. Sie sind Deutsche. Sie werden aber nicht als solche angesehen; somit haben sie keine Möglichkeit, für andere als Vorbilder zu dienen. Denn Deutschland hat nicht einmal ein Antidiskriminierungsgesetz, geschweige denn Quoten für Einwandererkinder. Diese sind unbedingt erforderlich – so wie der französische Innenminister Lehren aus den Banlieue-Aufständen der Jahreswende gezogen hat und nun bis zu 15 Prozent der Studienplätze an Frankreichs Eliteuniversitäten für Einwandererkinder reservieren will. Innovative Ideen sind hier gefragt.

Wer „Leitkultur“ gerne religiös definieren und auf „unsere christlich-jüdische Zivilisation“ hinweisen möchte, kann das natürlich tun. Es gibt auch in den besten Einwanderergesellschaften Menschen, die nicht an ein gleichberechtigtes, friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft glauben. Aber Deutschland ist ein säkulares Land. Es besteht aus vielen unterschiedlichen „Kulturen“: Ein Jodlfest auf der bayrischen Alm hat sehr wenig mit einer Berliner Schwulenparty gemeinsam. Dennoch gehören beide zu diesem Land. Hier sollte jeder, der etwas zum Gemeinwesen beiträgt und der Deutschland zu seiner Heimat gemacht hat, frei und gleichberechtigt leben können, ganz gleich, welche Haarfarbe er hat und welchen Nachnamen er trägt. Modernität, Prosperität, Toleranz, Fleiß und Chancengleichheit: Das ist beste deutsche Leitkultur.

DILEK ZAPTCIOGLU, geb. 1959 in Istanbul, kam als Elfjährige nach Deutschland. Nach dem Studium der Geschichte in Istanbul und Göttingen war sie u.a. Chefredakteurin der deutsch-türkischen Zeitung Bizim
Almanca und zehn Jahre lang Deutschland-Korrespondentin der Tageszeitungen Cumhuriyet und Yeni Yüzyil. Ihr Roman „Der Mond isst die Sterne auf“ wurde 1999 mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2006, S. 38 - 43.

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