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01. Juni 2008

Kein Weltkrieg um Öl und Gas

Buchkritik

Christiane Grefe und Harald Schumann glauben an die Entwicklung einer friedvollen Weltgesellschaft – mit Europa als Schrittmacher

„Während des Zweiten Weltkriegs haben die Leute auch nicht über die wirtschaftlichen Folgen lamentiert.“ Dieser Satz, entnommen einer fiktiven Krisensitzung des US-Kabinetts während eines Planspiels der von amerikanischen Unternehmern und ehemaligen Militärs gegründeten Aktionsgruppe „Securing Americas Future Energy“, wirft die Frage auf, ob es trotz der wirtschaftlichen Verflechtung durch die Globalisierung in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten einen Krieg um Öl und Gas zwischen den Weltmächten geben wird.

Doch die Journalisten Christiane Grefe und Harald Schumann glauben nicht an einen Kampf chinesischer, indischer und amerikanischer Truppen um die fossilen Energieressourcen der Welt. Denn die viel beschworenen Schreckensszenarien enthalten einen grundlegenden Widerspruch: Würde es je zu einer militärischen Konfrontation kommen, wäre das Hauptziel, die uneingeschränkte Kontrolle über die Ressourcen, schon nicht mehr erreichbar, bevor der erste Schuss fiele. Der globale Ölmarkt und mit ihm das System der globalen Arbeitsteilung würden zusammenbrechen. Die Transportmaschinerie der Weltwirtschaft wäre nicht mehr sicher. Investitionen im Wert von Tausenden Milliarden Dollar würden wertlos. Kurz: Der Wohlstand wäre schon verloren, bevor er „verteidigt“ werden könnte.

Daher prophezeien Grefe und Schumann, dass der Ölmangel die Importeure in Europa, Asien und Amerika auf Dauer eher zur Zusammenarbeit zwingt, als dass Kriege eine ernsthaft erwogene Option werden. Schon heute gibt es mehr Kooperation als Alleingänge, da ein Vorgehen wie im Kolonialismus früherer Jahrhunderte keinen langfristigen Erfolg verspricht. So arbeiten Chinas Energieunternehmen bei fast 300 Projekten mit internationalen Partnern wie British Petroleum, dem US-Konzern Exxon, der französischen Total und Petronas in Malaysia zusammen. Zugleich haben China und Indien begonnen, bei Ausschreibungen von Ölbohrlizenzen gemeinsam zu bieten, um teure Preiskämpfe zu vermeiden.

Doch dieses System kann nach der Analyse von Grefe und Schumann nur stabil bleiben, wenn es gelingt, die gegenwärtigen Herausforderungen gleichzeitig zu bewältigen: die Bändigung der globalisierten Finanzindustrie, die Überwindung der Massenarmut in den Entwicklungsländern und der sozialen Spaltung in der Wohlstandszone sowie die Ersetzung der fossilen und nuklearen Ressourcen durch erneuerbare Energien.

Grefe und Schumann verschweigen nicht, dass diese Ziele derzeit weit entfernt, wenn nicht sogar unerreichbar erscheinen. Doch dieser Eindruck könnte täuschen. Denn die Menschheit hat auf ihrem Weg zu einer Weltgesellschaft, die diesen Namen auch verdient, bereits erhebliche Fortschritte erzielt: Durch die Integration der Schwellenländer in die Weltmärkte sind allein zwischen 1999 und 2004 nach Berechnungen der Weltbank rund 135 Millionen Menschen der absoluten Armut entkommen. Und diese Zahl hat sich seitdem vermutlich noch einmal verdoppelt. Zugleich erreicht der Bildungsfortschritt immer größere Teile der Weltbevölkerung. War 1975 noch etwa ein Viertel aller Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren Analphabeten, so ist ihr Anteil seitdem auf inzwischen gut zehn Prozent gesunken.

Um diese positiven Trends nicht abreißen zu lassen, plädieren die Autoren für eine stärkere Rolle Europas in der globalisierten Welt. Den alten und kommenden Supermächten USA, Russland und China werfen sie vor, sich weiterhin am Konzept nationaler Souveränität und militärischer Machtsicherung zu orientieren. Daher obliegt in ihren Augen den Europäern die Aufgabe, die globale Kooperation gegen die heraufziehenden Weltkrisen voranzutreiben. Schließlich verfügt Europa über Erfahrungen und Fähigkeiten, die es von allen anderen Akteuren in der globalen Arena unterscheidet: Die Mitglieder der EU haben viele der schwierigen Anpassungsprozesse bereits hinter sich, die das Zusammenwachsen der Menschheit früher oder später von allen Nationen erzwingen wird.

Da bleibt nur zu hoffen, dass Europa der von Grefe und Schumann zugedachten Rolle auch gerecht wird. Denn in den internationalen Krisen der letzten Jahre, ob kriegerischer oder wirtschaftlicher Art, haben die Europäer dies nur selten vermocht. Ohne Amerika – das zeigt ein Blick auf den Balkan, an den Hindukusch, nach Afrika und in den Nahen Osten – ist Europa in den Krisengebieten der Welt ähnlich machtlos wie Washington ohne Unterstützung aus Brüssel. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU existiert bisher nur auf dem Papier. Denn nationalstaatliches Denken und entsprechende Alleingänge sind nicht allein in Amerika und Asien weit verbreitet. Das erste Amtsjahr von Frankreichs neuem Präsidenten Nicolas Sarkozy hat das wieder einmal gezeigt – leider.

Harald Schumann und Christiane Grefe: Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – Die Zukunft der Globalisierung. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 458 Seiten, 19,95 €

Dr. THOMAS SPECKMANN, geb. 1974, Historiker und Politikwissenschaftler, ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 139 - 140

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