Internationale Presse

30. Juni 2025

Kanada fährt die Ellbogen aus

Premierminister Mark Carney will Donald Trump die Annexionsgelüste austreiben und den USA im Handelskonflikt die Stirn bieten. Dabei helfen sollen: europäische Partner, königlicher Beistand und sportliche Härte.

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Es gibt Sportereignisse, die tief in der Seele eines Landes verankert sind, weil sie auch eine politische Bedeutung haben. Für die junge Bundesrepublik Deutschland war es der Siegtreffer von Helmut Rahn bei der Fußball-WM 1954 in Bern. Und in Kanada kennen nicht nur Hockeyfans den Ausruf „Henderson has scored for Canada“, als 1972 die kanadischen Profis beim Hockeygipfeltreffen die Sowjets durch ein Tor von Paul Henderson schlugen. „Es war unsere Gesellschaft gegen ihre“, erinnert sich noch 50 Jahre später Phil Esposito, einer der Stars des kanadischen Teams von 1972. 

Damals ging es um mehr als nur Eishockey, das in Kanada kurz Hockey heißt. Im Frühjahr 2025 konnte dies erneut gesagt werden. Im Finale des Vier-Nationen-Cups in Boston siegte Team Canada in der Verlängerung 3:2 gegen die USA. „Es war mehr als nur ein Hockeyspiel“, überschrieb der Toronto Star seine Analyse. Die Spannung in beiden Ländern war groß, und an der Anstachelung nationaler Emotionen war der Bewohner des Weißen Hauses maßgeblich beteiligt. Donald Trump hatte seit seiner Wiederwahl im November 2024 Kanada, wann immer es ging, beleidigt und herabgewürdigt, hatte Annexionsgelüste gezeigt und den damaligen Premierminister Justin Trudeau abschätzig „Gouverneur“ genannt. 

Als Connor McDavid in der Verlängerung das goldene Tor für Kanada erzielte, war dies vielleicht sogar ein Moment für Kanadas Geschichtsbücher – mit Sicherheit aber Balsam für die Seele des Landes: „Die Kanadier konnten an diesem Abend sagen: ‚No gold for you, Mr. President!‘“, kommentierte der Toronto Star.

Das Hockeyspiel reiht sich ein in eine Serie dramatischer Ereignisse, die im Frühjahr 2025 das politische Leben Kanadas auf den Kopf stellten. Der Sieg der von Mark Carney geführten Liberalen bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 28. April markierte, so Aaron Wherry vom Nachrichtensender CBC, „den Höhepunkt einer Phase, die die bemerkenswerteste viermonatige Zeit in der kanadischen Politik sein könnte – eine unglaubliche Sequenz von Ereignissen, die auf schockierende Weise am Morgen des 16. Dezember begann“, also mit dem Rücktritt von Finanzministerin Chrystia Freeland. 

Trudeau war noch Premier, Trump war gewählt, aber noch nicht in sein Amt als US-Präsident eingeführt, seine Aussagen über Kanada als 51. Bundesstaat wurden als Witz angesehen, und die Konservativen hatten in Umfragen einen Vorsprung von 20 bis 25 Prozent gegenüber den Liberalen. Ihr Sieg bei den damals schon erwarteten vorzeitigen Wahlen schien ebenso sicher wie eine vernichtende, möglicherweise existenzbedrohende Niederlage der Liberalen. 

Aber der Rücktritt Freelands löste eine Revolte in der Liberalen Partei aus, die am 6. Januar 2025 zur Ankündigung Trudeaus führte, von seinem Partei- und Regierungsamt zurückzutreten. Im Wettbewerb um den Parteivorsitz und damit nach kanadischem Usus auch um das Amt des Premierministers setzte sich der frühere Gouverneur der kanadischen und später auch der englischen Notenbank, Mark Carney, durch. In einer schwierigen Zeit wurde der heute 60-jährige Carney als Wirtschafts- und Finanzfachmann als geeigneter Gegenspieler zu Trump gesehen. Mit ihm begann der Wiederaufstieg der Liberalen. Als Carney Mitte März als Regierungschef vereidigt wurde, hatten seine Partei in den Umfragen mit den Konservativen gleichgezogen. 

Die Legitimation durch die kanadische Wählerschaft erhielt Carney schließlich bei der vorgezogenen Wahl am 28. April, bei der die Liberalen erneut zur stärksten Fraktion wurden und somit das Recht hatten, die Regierung zu bilden. Es war ein Ergebnis, das zu Jahresbeginn niemand erwartet hatte, und das dennoch etwas enttäuschend für die Liberalen war, hatten sie sich doch sogar Chancen auf eine absolute Mehrheit der Sitze ausgerechnet. Nun blieben sie mit 169 Mandaten knapp unter der „Majority“ von 172 Sitzen. Die Konservativen von Pierre Poilievre kamen auf 144 Sitze. Insgesamt aber war es eine bemerkenswerte Wende im politischen Leben des Landes, da waren sich die kanadischen Medien einig.

Der Erfolg der Liberalen lag auch an dem Mann im Weißen Haus. „Das Wahlergebnis war ein persönlicher Triumph für Premierminister Mark Carney mit großzügiger Unterstützung durch Donald Trump“, schreibt der frühere kanadische Diplomat Derek Burney in der National Post. Denn die Wahl sei kein Urteil über die Bilanz der Liberalen gewesen, sondern ein Referen­dum darüber, wer am besten den Zolldrohungen und respektlosen Angriffen auf Kanadas Unabhängigkeit durch den unberechenbaren US-Präsidenten standhalten könne. Mit seinen Fantasien, Kanada annektieren und notfalls mit ökonomischem Zwang zum 51. Bundesstaat machen zu wollen, hatte Trump die Stimmung in der kanadischen Bevölkerung verändert. Der plötzlich aufgeflammte Nationalstolz kam vor allem den Liberalen zugute, die als ein Gegenbild zur Politik Trumps gesehen werden. All der Ärger über zehn Jahre liberale Herrschaft unter Trudeau mit hohen Lebenshaltungskosten, Wohnungsmangel und schlecht geregelter Einwanderungspolitik trat in den Hintergrund.


Erst Paris, dann Washington

Angesichts der Unberechenbarkeit von Trump und seines ständigen Wechselspiels mit Strafzöllen und Einfuhrbeschränkungen erkor Carney die Stärkung von Handelsbeziehungen mit anderen Staaten zu seiner Priorität. Er strebt eine Veränderung in den Beziehungen an, die bisher von den USA dominiert werden. Kanada müsse sich „verlässliche Partner“ suchen, sagte Carney. Dazu passt, dass ihn die erste Auslandsreise direkt nach seiner Vereidigung als Premierminister nach Frankreich und Großbritannien führte. Bei einem gemeinsamen Auftritt mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron bezeichnete Carney Kanada als „das europäischste aller nicht-europäischen Länder“. 

Am 5. Mai, eine Woche nach der für Carney erfolgreichen Parlamentswahl, flog der Premierminister nach Washington zum ersten direkten Zusammentreffen mit dem US-Präsidenten. Im Vorfeld beschrieb The Globe and Mail die Begegnung als das potenziell „wichtigste Treffen zwischen einem US-Präsidenten und einem kanadischen Premierminister seit Jahrzehnten“. Die beiden Regierungschefs stimmten überein, dass die Zusammenarbeit von Kanada und den USA „als unabhängige, souveräne Nationen“ wichtig sei. Das Weiße Haus goss aber dann wieder Öl ins Feuer, als es in einer Stellungnahme der Nachrichtenagentur Canadian Press erklärte, die Wahl beeinflusse nicht Trumps Plan, „Kanada zu Amerikas geschätztem 51. Staat zu machen“.

Carneys Besuch sollte in erster Linie dazu dienen, dem US-Präsidenten die Position Kanadas angesichts dieser Attacken unmissverständlich zu vermitteln. Gleichzeitig war beabsichtigt, Verhandlungen über eine neue Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft anzustoßen, um den Handelskrieg zu beenden. In dessen Verlauf hatte Trump Kanada zunächst im März mit Strafzöllen in Höhe von 25 Prozent belegt. Zwar wurden später bestimmte Importe, die unter das von ihm selbst in seiner ersten Amtszeit ausgehandelte Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko fielen, ausgenommen, jedoch gleichzeitig Strafzölle auf Stahl und Aluminium verhängt. 

Kanada beschloss daraufhin Vergeltungszölle, setzte deren Umsetzung aber für sechs Monate aus, um heimischen Unternehmen Zeit zu geben, sich nach alternativen Lieferketten umzusehen. Darüber hinaus entschieden die staatlichen Alkoholläden in mehreren Provinzen, keinen Alkohol aus den USA mehr anzubieten – ein Schritt, der vor allem amerikanische Whiskey-Hersteller und Weinregionen hart trifft. 

Nach Einschätzung kanadischer Medien verlief zumindest der öffentliche Teil des Treffens in freundlichem Ton. Trump bezeichnete die Vereinigten Staaten sogar als „Freunde Kanadas“. Aber selbst im Gespräch mit Carney ließ er nicht davon ab, seine Idee von einem Anschluss Kanadas an die USA zu verfolgen. Zwar räumte er ein: „It takes two to tango“ – es braucht zwei zum Tanzen. Doch dann schob er hinterher: „Sag niemals nie.“ Carney reagierte mit einem deutlichen Konter: „Kanada steht nicht zum Verkauf, es steht niemals zum Verkauf“. 

Carney gelang der diplomatische Balanceakt: Er widersetzte sich klar der Trumpschen Idee einer Annexion Kanadas durch die USA, ohne dabei einen emotionalen Ausbruch des US-Präsidenten zu provozieren. Zugleich unterstrich der kanadische Regierungschef, wie wichtig gute Handelsbeziehungen für beide Länder seien und widersprach der Ansicht Trumps, die USA benötigten nichts von Kanada. 

Bewegung in den festgefahrenen Handelskrieg brachte die Begegnung im Weißen Haus allerdings nicht. Ob die im Abkommen von 2020 vereinbarten Neuverhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den Vereinigten Staaten tatsächlich 2026 starten, ist fraglich. Trump selbst stellte die Notwendigkeit von Verhandlungen über ein Dreierabkommen in Frage. 


Der König kommt

Ende Mai reiste König Charles III. erstmals seit seiner Thronbesteigung im Jahr 2022 nach Kanada. Auf Einladung von Premierminister Carney kam der Monarch nach Ottawa, um zur Eröffnung des neugewählten Parlaments die Thronrede zu verlesen. Royale Besuche in Kanada finden selten großes internationales Interesse. Diesmal wurde jedoch genau darauf geachtet, wie sich Charles in seiner Funktion als König von Kanada zur Souveränität des Landes und zu dessen Rolle im Commonwealth äußern würde. Carney hatte den Besuch im Vorfeld als „bedeutsame und historische Gelegenheit“ bezeichnet, die „Kanadas Identität und Souveränität als konstitutionelle Monarchie“ unterstreiche.

Die kanadische Bevölkerung komme „in einem erneuerten Gefühl von nationalem Stolz, Einheit und Hoffnung zusammen“, hieß es in der von König Charles verlesenen Thronrede. Er bezog sich auch auf Kanadas Nationalhymne. Diese erinnere daran: „Der wahre Norden ist wirklich stark und frei“, so der Monarch. Zu den Beziehungen zu den USA hieß es in der Rede, der Premierminister und der US-Präsident hätten begonnen, eine neue Wirtschafts- und Sicherheits­partnerschaft zu schaffen, die in gegenseitigem Respekt wurzele und Vorteile für beide souveränen Nationen bringe. 

Die Präsenz des Königs wurde von kanadischen Medien als wichtige Geste und als deutliches Signal an Trump gewertet, dass Kanada nicht bereit ist, sein Erbe und seine Traditionen aufzugeben. Der Auftritt des Monarchen markiere einen symbolkräftigen Moment, in dem „Charles König von Kanada wurde und Kanada sein Königreich“, schrieb Kolumnist Andrew Coyne in The Globe and Mail. Bemerkenswert sei dabei weniger gewesen, was gesagt wurde, sondern wer es sagte. „Dies war der Monarch Kanadas, der in Verteidigung seines Reiches gesprochen hat“, erklärte es Coyne.

Doch nicht alle waren von der Rede begeistert. Yves-François Blanchet, Vorsitzender der monarchiekritischen, separatistischen Partei Bloc Québécois, bezeichnete es als „etwas erstaunlich“, dass König Charles in seiner Rede weder Trump noch den Handelskrieg direkt angesprochen habe. Auch in The Globe and Mail wurde Kritik geübt. In einem Meinungsbeitrag nannte Andrew Cohen, Publizist und Professor an der Carleton University, den Auftritt des Monarchen eine „Show der Schwäche, nicht der Stärke“. Der König, so Cohen, hätte deutlichere Worte finden sollen, zum Beispiel: „Präsident Trump, ich bin der König von Kanada. Ich sage Ihnen mit Freundlichkeit und Respekt, dass Kanada niemals Ihnen gehören wird.“


Trump stichelt weiter

Nur wenige Stunden nach der Rede von König Charles meldete sich Trump auf seine Weise zu Wort. Auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social nahm der US-Präsident Bezug auf ein geplantes neues Verteidigungssystem, das er wenige Tage zuvor vorgestellt hatte: den sogenannten „Golden Dome“, der, ähnlich wie Israels „Iron Dome“, gegnerische Flugkörper abfangen soll. Kanadas Beteiligung an diesem System, so Trump in seinem Post, würde 61 Milliarden US-Dollar kosten. Auf Kanada, das dem „fabelhaften“ System beitreten wolle, kämen damit als eigenständige Nation erhebliche Kosten zu – „doch es wird null Dollar kosten, wenn sie unser geschätzter 51. Staat werden“. Das Büro des Premierministers erklärte daraufhin, Carney habe „bei jeder Gelegenheit, einschließlich der Gespräche mit Präsident Trump, deutlich gemacht, dass Kanada eine unabhängige, souveräne Nation ist und bleiben wird“. 

Den Worten sollen nun Taten folgen: Carney hofft, dass Kanada schon bald eine Vereinbarung mit der EU über eine Beteiligung an dem europäischen Rüstungsplan „ReArm Europe“ schließen kann, um Kanadas Abhängigkeit von amerikanischer Rüstungstechnologie zu reduzieren. Dass derzeit 75 Cent jedes Dollars von Kanadas Verteidigungsausgaben in die USA fließen, „das ist nicht smart“, so Carney. 

Die kanadisch-amerikanischen Beziehungen dürften auf absehbare Zeit turbulent bleiben – oder, wie man beim Hockey sagen würde: körperbetont. In Kanada gehört Hockey-Vokabular zum politischen Sprachgebrauch. Begriffe wie „elbows up“ oder „gloves off“ beschreiben eine robuste Haltung, die Kanada in Zukunft nicht nur in sportlichen Auseinandersetzungen mit den USA gut gebrauchen kann.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2025, S. 120-123

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Gerd Braune berichtet seit 1997 als freiberuflicher Korrespondent aus der kanadischen Hauptstadt Ottawa.

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