Internationale Presse

31. Aug. 2018

Leben mit einem schwierigen Nachbarn

Kanadas Premier Trudeau muss an den Beziehungen zu den USA arbeiten

Die Zeit der Sommerfeste und Barbecues, bei denen sich Politiker gerne volksnah präsentieren, ist vorbei. Im Herbst beginnt wieder die harte Arbeit im Parlament. Premierminister Justin Trudeau, im Ausland weitaus länger als im Inland als liberale Lichtgestalt und liberaler Heilsbringer gefeiert, muss kämpfen. Es ist keinesfalls ausgemacht, dass seine Partei Ende nächsten Jahres weiter die absolute Mehrheit im Parlament hat – oder überhaupt noch regieren kann.

Manche Umfragen sehen Tru­deaus Liberale Kopf an Kopf mit den Konservativen, die seit Mai 2017 vom früheren Parlamentssprecher Andrew Scheer geführt werden, auch wenn Trudeau persönlich besser abschneidet als Scheer (National Newswatch, 31. Juli). Die Liberalen hatten am 1. Juli, dem Nationalfeiertag „Canada Day“, in diesem Jahr weniger zu feiern als in den beiden Vorjahren (CBC, 30. Juni). Der „honeymoon“, der weit in das zweite Amtsjahr reichte, ist Vergangenheit. Von den von Trudeau propagierten „sunny ways“, dem freundlichen Politikstil insbesondere in den Beziehungen zu den Provinzen, ist angesichts der widerspenstigen, meist konservativen Provinzfürsten wenig zu spüren ­(Globe and Mail, 3. August). 

Die Beziehungen zu den USA, von Trudeau immer wieder als „einzigartig“ bezeichnet, bestimmen weitgehend die politische Debatte in Kanada, weil sie viele Politikfelder durchdringen. Trudeau war noch nicht im Amt, als er feststellte, Premierminister und Regierungen Kanadas würden danach beurteilt, wie sie diese Beziehungen pflegen (Maclean’s, 6. Juli). Die wichtigsten Baustellen, an denen Trudeau arbeiten muss, haben mit Trump und den Beziehungen zwischen Kanada und den USA zu tun.

Die Verhandlungen über die von Trump geforderte Neugestaltung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko ziehen sich hin. Trump hat zudem – wie gegenüber der EU – Strafzölle auf Stahl- und Aluminiumerzeugnisse aus Kanada erhoben und dies mit „nationaler Sicherheit“ begründet, was beim NATO-Partner Kanada, der ­viele Kriege an der Seite der USA gekämpft und mit ihnen auch im nordamerikanischen Luftüberwachungsbündnis Norad verbunden ist, überhaupt nicht gut ankam. Trump droht auch Strafzölle auf Autos und Autoteile aus Kanada an, was dessen bedeutende Autoindustrie heftig treffen und Arbeitsplätze gefährden würde. Die aggressive Politik Trumps gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen führt dazu, dass in den USA lebende Flüchtlinge, vor allem aus afrikanischen wie mittel- und südamerikanischen Ländern, die die Abschiebung in ihre Heimat befürchten, die Grenze nach Kanada überschreiten und dort Asyl beantragen. 

Verbalattacken und Strafzölle

Über den kanadisch-amerikanischen Beziehungen liegt somit ein Schatten, der vor allem seit dem G7-Gipfel vom 8./9. Juni in Charlevoix noch um einige Grade dunkler wurde. Damals hatte Trump nachträglich seine Zustimmung zum Abschlusskommuniqué zurückgezogen, weil er sich über die Aussage Trudeaus in der Abschlusspressekonferenz geärgert hatte, Kanada werde sich im Handelskonflikt um Stahl und Aluminium­exporte nicht „herumschubsen“ lassen. Besonders heftig schlug damals Trumps Handelsberater Peter Navarro zu, der Trudeau einen „besonderen Platz in der Hölle“ zuwies, da er Trump mit seiner Kritik nach dessen Abreise zum Treffen mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un in den Rücken gefallen sei (CBC, 10. Juni).

Diese Attacken haben kanadische Gegenreaktionen hervorgerufen, die in den ersten Wochen nach dem Gipfel besonders stark waren. In den sozialen Medien kursierten damals Boykottaufrufe gegen US-Produkte (­Canadian Press, 15. Juni). Nun gibt es auf einmal sogar „patriotischen Ketchup“ (The Economist, 7. Juli). Statt zu Heinz-Ketchup aus den USA greifen Kanadier und vereinzelt Restaurants nun verstärkt zu „French’s Ketchup, bottled in Canada with 100 % Canadian tomatoes“ (CBC, 14. Juni). 

Am Nationalfeiertag schmückten sich die patriotischen Kanadier nicht nur mit roten Ahornblattfähnchen. An diesem Tag traten auch die kanadischen Strafzölle auf US-Importe in Kraft, mit denen Kanada auf den amerikanischen Protektionismus bei Stahl und Aluminium reagiert. Noch stehen die Kanadier hinter der festen Linie, die Trudeau gegenüber Trump eingeschlagen hat. Ein voll entwickelter Handelskrieg könnte dies aber schnell ändern. Allein die Unsicherheit, ob NAFTA erfolgreich erneuert werden kann, belastet Investitionsentscheidungen (To­ronto Star, 19. Juni).

Das mögliche Ende von NAFTA und tägliche Drohungen mit ­neuen Zöllen vonseiten der USA führen dazu, dass Wachstumsprognosen für 2018 gegenüber 2017 deutlich zurückgenommen werden (Conference Board of Canada, 9. Juli). Kanada hält weiter an dem ­NAFTA-Abkommen mit den USA und Mexiko fest. Aber die Dynamik verändert sich. Mexiko hat einen neuen Präsidenten gewählt, den linksgerichteten populistischen Andrés Manuel López Obrador, der sein Amt aber erst am 1. Dezember antritt. Trump hat von Beginn an klar gemacht, dass er zwei getrennte bilaterale Abkommen mit Kanada und ­Mexiko einer trilateralen Vereinbarung vorzieht. Nun versuchen die USA und Mexiko noch vor den Midterm-Wahlen in den USA eine ­Einigung zu erzielen, insbesondere im schwierigen Autosektor. Die niedrigeren Löhne in Mexiko, die ein Grund für Produktionsverlagerungen aus den USA sind, stören Trump. Plötzlich ist von „Fast Track“-Verhandlungen zwischen Mexiko und den USA die Rede (Globe and Mail, 31. Juli).

Versuche seitens Kanadas, ebenfalls ­einen Platz am Verhandlungstisch zu bekommen, scheiterten (Ottawa Citizen, 3. August). Genau in diese Zeit fällt auch die Entscheidung ­Kanadas, wegen der US-Zölle auf kanadische Solarkollektoren den NAFTA-Konsultationsprozess in Gang zu setzen, um diese Entscheidung aufheben zu lassen (ipolitics, 23. Juli). 

Und so stellen Analysten und politische Beobachter die Frage, ob Kanada vielleicht eine falsche Verhandlungsstrategie gewählt und den USA zu wenig Zugeständnisse gemacht habe (National Post, 12. Juli). Dabei gerät immer wieder die stark regulierte kanadische Milch- und Geflügelwirtschaft ins Blickfeld, die den Landwirten durch Quoten („Supply Management“) Einkommen sichert, in Kanada aber zu sehr hohen Preisen insbesondere für Milchprodukte führt. Den USA ist diese Form von Subvention ein Dorn im Auge. Für kanadische Politiker ist angesichts der starken Milch-Lobby das Supply Management bislang eine „heilige Kuh“. Um Konzessionen der USA in anderen, bedeutenderen Feldern zu erreichen, ist hier aber kanadische Kompromissbereitschaft gefordert. Dass es den Europäern offenbar gelungen ist, den Handelskonflikt mit den USA ein wenig zu entschärfen, wird in Kanada aufmerksam registriert (Globe and Mail, 3. August).   

Zustrom von Flüchtlingen

Als brisantes Thema entwickelte sich in den Sommermonaten der Zustrom von Flüchtlingen, die die USA verlassen und nach Kanada kommen. Das klassische Einwanderungsland hatte zwischen 2006 und 2015 meist 250 000 bis 270 000 Einwanderer pro Jahr aufgenommen, zu denen auch die Flüchtlinge zählen. Durch die Aufnahme syrischer Flüchtlinge direkt nach Amtsantritt der Regierung Trudeau war die Zahl auf 300 000 gestiegen. Im vergangenen Jahr wurde ein Dreijahresplan vorgelegt, der eine Steigerung um jeweils 10 000 bis 20 000 Immigranten pro Jahr vorsieht, so dass 2020 insgesamt 340 000 neue Einwohner kommen können. 

Während die geregelte Zuwanderung politisch weitgehend unumstritten ist, erlebt Kanada jetzt aber eine heftige Debatte über „irreguläre“ Einwanderung. Im vergangenen Jahr kamen rund 25 000 bis 30 000 Flüchtlinge, die vor allem aus zentralamerikanischen und afrikanischen Ländern stammen, aus den USA nach Kanada. Sie überqueren die Grenze nicht an offiziellen Übergängen, sondern ziehen über Feldwege und beantragen in Kanada Asyl. Würden sie über einen offiziellen Grenzübergang einreisen, müssten sie nach dem „Sicheren Drittland“-Abkommen zwischen Kanada und den USA in die Vereinigten Staaten zurückgeschickt werden. Sind sie aber schon in Kanada, können sie nach nationalem und internationalem Recht Asyl beantragen. Die Konservativen sprechen von einer „Krise“ und „illegaler Einwanderung“, die Trudeau durch seinen Tweet ausgelöst habe, Flüchtlinge seien in Kanada willkommen. Die Liberalen hingegen sprechen lediglich von einer „Herausforderung“ durch eine Einwanderung, die sie nicht illegal, sondern „irregulär“ nennen, und werfen den Konservativen eine Angstkampagne vor. 

Aber diese Kampagne kommt offensichtlich an. Grenzsicherung und Aufnahme von Flüchtlingen sind zu einem Thema geworden, das die kanadische Öffentlichkeit spaltet (CBC, 3. August). Die explosive Debatte über Asylsuchende könnte die Parlamentswahl im Oktober 2019 bestimmen, befinden Kommentatoren (Maclean’s, 3. August). Trudeau könnte die Debatte über Grenzübertritte verlieren, meint Eric Grenier, Umfrageexperte des CBC, der sich auf ein Meinungsbild stützt, das das Institut Angus Reid erstellt hat. Für 70 Prozent der Befragten sind die Grenzübertritte ein Thema, das sie verfolgen, und 67 Prozent sprechen von einer „Krise“, weil Kanada an die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit stoße. Nur 33 Prozent sagen, es sei keine Krise und die Lage werde von Politikern und Medien übertrieben (Angus Reid, 3. August).

Bezeichnend ist, dass fast die Hälfte der Befragten völlig überzogene Vorstellungen von der Zahl der Flüchtlinge hat und diese mit mehr als 50 000 bis 100 000 angibt. Unter denen, die derart falsche Vorstellungen haben, ist die Zahl derer, die von einer Krise sprechen, besonders hoch. Politisch profitieren kann davon in den Umfragen der konservative Parteivorsitzende Andrew Scheer. Obwohl dieser sich zu dem Thema nicht konkret geäußert hat, weisen ihm die Befragten bei der Grenz­sicherung mehr Kompetenz zu als Premierminister Justin Trudeau.

Einer, der die Debatte exzessiv zur Stimmungsmache gegen die liberale Bundesregierung nutzt, ist der neue rechtspopulistische Premier von Ontario, Doug Ford. Er wirft Trudeau vor, er habe mit seinem Willkommen-Tweet im vergangenen Jahr ein „Durcheinander“ geschaffen (Toronto Star, 9. Juli). Das Boulevardblatt Toronto Sun fordert Trudeau auf, er müsse die „Grenze unter Kontrolle bringen“, denn es sei zu leicht, nach Kanada zu kommen; Kanada sei dadurch „eine leichte Beute für Kriminelle“, meint das Blatt mit Verweis auf die steigende Waffengewalt in Toronto (28. Juni). Dass die Flüchtlingsbewegung mit der feindseligen Haltung der Trump-Regierung gegen Zuwanderer zu tun hat, wird von dieser Seite gerne verschwiegen. 

Die Debatte wirft ein schlechtes Licht auf Kanada. Das Land, das von drei Ozeanen umgeben ist und nur eine Grenze zu den USA hat, hat anders als europäische Länder den Vorteil, seine Einwanderung weitgehend regulieren zu können. Ob die Toleranz, der sich Kanada rühmt, bei einem stärkeren unregulierten Zustrom von Einwanderern Bestand haben würde, ist äußerst fraglich.

Gerd Braune berichtet seit 1997 als freier Korrespondent für Tageszeitungen aus Kanada.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 130 - 133

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