Joe Biden ist kein Trump light – und „America First“ nicht verschwunden
Eine Zwischenbilanz der ersten Monate des neuen US-Präsidenten
Die ganz große Mehrheit der europäischen Regierungen und die große Mehrheit der europäischen Bürger haben dem Macht- und Personalwechsel in Washington regelrecht entgegengefiebert. Donald Trump trug Chaos in den „Westen“, säte Zwietracht in Bündnissen, behandelte Partner wie ein Erpresser und hielt Ausschau nach allen, die sich vermeintlich gegen das amerikanische Volk versündigt hätten. Seine WWelt war der Handelskrieg – Disruption bei der Arbeit! Autokraten aber wurden umschwärmt.
Jetzt ist also Joe Biden, Freund der Europäer, Fürsprecher ihrer Integration und des Multilateralismus, der von den Europäern präferierten Methode internationalen Interessenausgleichs, Herr im Weißen Haus. Er meldet sich wie erhofft zurück: „America is back! America is back!“ Tatsächlich schlug die Regierung Biden gleich andere Töne an. Und sie hat sich wieder internationalen Organisationen und Abkommen zugewandt, denen Trump den Rücken gekehrt hatte: Amerika meldete sich zurück in der Weltgesundheitsorganisation, beim UN-Menschenrechtsrat, beim Pariser Klima-Abkommen; es will die Laufzeit des New START-Vertrags verlängern und wieder mit Iran ins Gespräch kommen. All das findet das Wohlgefallen der europäischen Verbündeten. Die Sehnsucht nach einem berechenbaren amerikanischen Partner, der Bündnisse schätzt und deren Mitglieder nicht als Schmarotzer verunglimpft werden, scheint gestillt zu werden.
„Honeymoon“, wie schön.
Wenn da nur nicht Themen wären, die gewissermaßen Dauerbrenner in den transatlantischen Beziehungen sind, die also über Trump hinausgehen und schon vor ihm strittig waren – nicht zuletzt im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Darüber, dass die deutschen Verteidigungsausgaben die Richtwerte der NATO nicht erfüllen, haben sich schon US-Regierungen vor der Trump-Truppe beschwert. Auch Biden wird dezent und mal weniger dezent darauf hinweisen, nicht darin nachzulassen, den Richtwert der NATO von 2 Prozent des Volkseinkommens zu erreichen. Und über den notorisch großen Überschuss im bilateralen Warenaustausch wird in den USA noch viel länger geklagt. Gegen Nord Stream 2 polemisierte Trump auf eine Art, wie man das unter Verbündeten so selten erlebt hat. Aber in der Ablehnung dieses Projekts sind sich die ansonsten zerstrittenen Parteien in Washington weitgehend einig – es fließt in die allgemeine geopolitische Auseinandersetzung mit Russland ein. Und deshalb hat auch die Biden-Regierung der Bundesrepublik direkt und unzweideutig signalisiert, dass sie von Nord Stream 2 unter sicherheits- und energiepolitischer Abwägung nichts hält.
Deutschland dagegen hat nicht viele Gleichgesinnte an seiner Seite; stur behaupten Bundesregierung und die an dem Projekt beteiligten und interessierten Unternehmen aus der Energiebranche, es handele sich um ein rein wirtschaftliches Vorhaben. Doch davon kann, wie generell bei allen energiepolitischen Großunternehmungen, keine Rede sein. Das Thema hat sich mit dem Präsidentenwechsel nicht erledigt. Es wäre bündnispolitisch sehr zu wünschen, dass zu vertretbaren Kosten ein Weg aus der Sackgasse gefunden würde, in die sich vor allem Deutschland manövriert hat. Da die amerikanisch-russischen Beziehungen vermutlich noch weiter erkalten werden, bleibt Nord Stream 2 ein irritierender Spaltpilz im transatlantischen Verhältnis, Sanktionen eingeschlossen.
Das Großthema, bei dem Europäer und Amerikaner nicht von demselben Blatt ablesen, ist China. Zwar hat die EU China zum systemischen Rivalen erklärt und sich von mancher naiven Annahme verabschiedet. Aber es bleibt die Tatsache, dass der chinesisch-europäische Handel der dickste Strang im Handelsgeflecht der Europäer ist. Immer größer wird die Abhängigkeit besonders deutscher Unternehmen von der Größe und Dynamik des chinesischen Marktes – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die strategische Rivalität zwischen den USA und China immer schärfer und allumfassend wird.
Die größte strategische Herausforderung Amerikas im 21. Jahrhundert ist der Aufstieg Chinas unter der immer autoritärer werdenden Herrschaft Xi Jinpings. Dieses Mantra beherrscht das Denken in Washington, es wird auch das Handeln der Regierung Biden leiten. Da die Auseinandersetzung auf den Antagonismus Demokratie versus Autokratie hinausläuft, werden die Europäer im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen Farbe bekennen müssen, und zwar spätestens dann, wenn die Regierung Biden aktiv und entschlossen Koalitionäre für diese Auseinandersetzung zu rekrutieren sucht.
Außenminister Blinken hat zwar neulich in Brüssel gesagt, die USA würden ihre Verbündeten nicht dazu drängen, sich zwischen „uns und ihnen“ zu entscheiden. Aber diese Verbündeten werden nicht auf der Tribüne der Weltpolitik sitzen und interessiert (oder bang) den Lauf der Dinge verfolgen können, wenn es ernst wird. Biden ist kein „Trump light“. Dafür ist der Wandel in Stil, allianzpolitischer Rhetorik und Haltung gegenüber multilateralen Foren und Absprachen einfach zu groß. Aber niemand sollte überrascht sein, wenn die Biden-Regierung ihre Schlüsse aus einer neuen Weltlage zieht – und aus den sozialen und politischen Erschütterungen im amerikanischen Innenleben sowie aus der Dysfunktionalität des politischen Systems. Die Zeiten, da Amerika die Amme der Europäer war und diese unter dem amerikanischen Sicherheitsschirm an der Mehrung ihres Wohlstands arbeiten konnten, die sind vorbei. Wenn Biden die „Interessen der amerikanischen Mittelschicht“, der „arbeitenden amerikanischen Familien“ ins Zentrum seiner Außenpolitik stellen will, bedeutet das zum einen eine Distanzierung von militärischen Interventionen der jüngeren Vergangenheit; insofern gibt es doch eine Verbindung zum Vorgänger. Es bedeutet zudem, dass man nicht allzu große Hoffnungen in US-Initiativen für ambitionierte Freihandelsabkommen setzen sollte, ob die nun über den Pazifik oder über den Atlantik gespannt werden sollen.
Für die Europäer gibt es keine Ausrede mehr und kein sicherheitspolitisches Outsourcing: Sie werden einen weit größeren Teil der Lasten für ihre und des Westens Sicherheit tragen müssen als in der Vergangenheit. An der diesbezüglichen Einsicht mangelt es nicht; doch auf konkretes Handeln kommt es an. Die Rolle des Ordnung stiftenden Weltpolizisten wollen und können die USA nicht mehr spielen; jedenfalls nicht als Solobesetzung.
Das wird besonders deutlich im Nahen und Mittleren Osten. Dort wird der amerikanische Fußabdruck kleiner werden. Auf die Europäer kommt dort mehr zu, so wie sie generell ihr Engagement in der Nachbarschaft – im Osten, im Südosten, im Süden, also in Afrika – hochfahren müssen. Zumindest deklaratorisch ist das den zuständigen Politikern bewusst, auch in Berlin, wo Außenminister Heiko Maas mehr deutsche Verantwortung bei der Lösung von Konflikten angekündigt hat. Es wird eine größere Arbeitsteilung im transatlantischen Verhältnis geben. Das ist überfällig.
„America First“ – das Denken, das hinter dieser Parole steckt, ist nicht aus der amerikanischen Politik verschwunden; doch in der nationalistischen Vulgarität eines Donald Trump ist es nicht mehr das alles überwölbende Leitmotiv der Regierung. Aber weil die Weltpolitik an einem Wendepunkt steht, sortieren sich auch im transatlantischen Verhältnis Prioritäten und Rollen neu. Nostalgie und Sehnsucht nach dem alten „Gesellschaftsvertrag“ haben da keinen Platz.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 110-111
Teilen
Themen und Regionen
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.