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01. Jan. 2002

Mehr Schein als Sein

Europäische Außenpolitik in der Krise

In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist von einer integrationspolitischen beschleunigung oder europäischen Bündelung von Ressourcen und Initiativen seit dem 11. September wenig zu spüren. Nötig ist eine grundsätzliche Verständigung der EU-Mitgliedstaaten über ihre außenpolitischen und strategischen Interessen.

Nach dem 11. September 2001, so hat man es immer wieder gehört, werde nichts mehr so  sein wie vor dem monströsen Terrorangriff auf Amerika. Das gelte für die Innenpolitik der Vereinigten Staaten ebenso wie für ihr Verhältnis zur Welt, zu den anderen maßgeblichen Akteuren der Weltpolitik; und für die gelte es nicht weniger. Tatsächlich hat zum Beispiel Russland in seinem Angebot zur Mitwirkung an der Antiterrorkoalition eine strategische Entscheidung getroffen. Andere Länder, zuvörderst Pakistan, haben ihre Interessen neu kalkuliert und eine Kosten-Nutzen-Rechnungen über ihre internationale Stellung angestellt, die, aus Anlass der Krise, zu einer Kehrtwende geführt hat, die nicht dramatischer hätte sein können. Bisher ist die Erwartung der pakistanischen Führung nicht enttäuscht worden, dass es sich strategisch, politisch und finanziell lohnen werde, wenn man sich an die Seite Washingtons stelle.

Welche Konsequenzen haben aber die Europäer aus dem Geschehen des 11. September und einer weltpolitischen Erschütterung gezogen, deren Folgen bei weitem alles überragen, was sich seit dem Fall der Mauer ereignet hat? Sind vom Terrorangriff und dem Kampf gegen den transnationalen Terrorismus möglicherweise Impulse ausgegangen, welche die Mitglieder der Europäischen Union enger zusammengeführt haben, die sozusagen föderierend gewirkt haben auf eine Weise, die vergleichbar wäre der alten Klammer der sowjetischen Bedrohung?

Bündelung der Ressourcen?

Von einer integrationspolitischen Beschleunigung wird man gewiss für die Innen- und Rechtspolitik sprechen können, also für die innere Sicherheit in der Europäischen Union,  und damit für ein Politikfeld, das bisher weitgehend der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit vorbehalten war. Die Einführung eines europäischen Haftbefehls stellt einen wirklichen Fortschritt dar, selbst wenn sich ein Mitgliedsland – Italien – bis zuletzt dagegen gesträubt hat.

In der Außen- und Sicherheitspolitik ist von einer integrationspolitischen Beschleunigung oder auch nur einer europäischen Bündelung von Ressourcen und Initiativen seit dem 11. September wenig bis nichts zu spüren. Die Beteuerungen, im Angesicht des Terrors brauche es mehr „Europa“, waren gut- und vielleicht sogar ernst gemeint. Aber mit der Wirklichkeit deckten sie sich nicht. Die Reaktionen, die ins Gewicht fielen, gingen von den Hauptstädten der Mitgliedsländer aus, wobei vor allem, und vermutlich in dieser Reihenfolge, London, Berlin und Paris die Akzente setzten.

Es war mehr als ein Zufall, eher ein weithin wahrgenommenes Symbol, dass sich vor dem Sondertreffen des Europäischen Rates in Gent der britische Premierminister, Tony Blair, der französische Präsident, Jacques Chirac, und der deutsche Bundeskanzler, Gerhard Schröder, im kleinen Kreis zur Vorbesprechung trafen – ohne den Ratsvorsitzenden, ohne den Kommissionspräsidenten und ohne denjenigen, der der EU nach außen ein Gesicht geben soll. Selbst wenn der Versuch Blairs, diese Runde wenige Wochen später bei einem Abendessen in seinem Amtssitz No. 10 Downing Street zu wiederholen, zu einem Wettstreit um Selbsteinladungen geriet, der an Peinlichkeit kaum zu überbieten war, so spricht die Absicht Bände, das außen- und sicherheitspolitische Heft nationalstaatlich in der Hand zu behalten.

Diese Art von Konkurrenz wiederholte sich auch bei der Außendarstellung europäischer Versuche, den Konflikt zu beeinflussen und bei dem heraufziehenden Weltensturm nicht den Halt zu verlieren. Als die Troika – mit dem belgischen Außenminister Louis Michel, mit dem Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außenpolitik, Javier Solana, und dem für die Außenbeziehungen zuständigen Kommissar, Chris Patten – Ende September in die Krisenregion aufbrach, hatte der britische Außenminister, Jack Straw, dort bereits seine Visite absolviert. Ähnliches wiederholte sich immer wieder. Zwangsläufig mussten die besuchten Regierungen von Islamabad bis Teheran und Riad den Eindruck einer gewissen europäischen Konfusion und eines Prestigegebarens gewinnen, welches den ohnehin großen Abstand zur amerikanischen Führungsentschlossenheit nur noch um so größer erschienen ließ.

Nationale Autonomie

Doch jenseits aller Klagen über einen Rückfall in außenpolitischen Partikularismus – gelegentlich wird auch das Wort von der „Renationalisierung“ gebraucht – gilt es zu bedenken, ob es angesichts einer Krise dieses Ausmaßes und angesichts der militärischen Weiterungen tatsächlich hätte anders sein können. Europa wird nicht schon deswegen zum relevanten Akteur, nur weil sein außenpolitischer Repräsentant auf Reisen geht und dann mit seinem ganz persönlichen Stil der Diplomatie mehr Schein als Sein vorführt. Seine Sichtbarkeit, die gelegentlich schon als Erfolg an sich gerühmt wird, verdeckt nur die materiellen Schwächen und die Tatsache der engen Rückbindung an die Wünsche der Mitgliedsregierungen.

Es ist eine Illusion zu erwarten, die Mitgliedstaaten der EU gäben ihre sicherheitspolitische Entscheidungsautonomie ausgerechnet in Zeiten an die Brüsseler Institutionen ab, in denen es um Krieg und Frieden geht. Wenn Entscheidungen von dieser Tragweite zu treffen sind, wenn es um die Bereitstellung und den Einsatz von Truppen geht, reagieren die Staaten auf herkömmliche Weise. Dazu, zur Abwägung von militärischen Risiken und außenpolitischen Interessen, sind sie demokratisch legitimiert, dazu haben sie ein Mandat – „Europa“ besitzt ein solches Mandat noch nicht.

Dieser grundsätzliche Vorbehalt verbindet sich unvorteilhaft mit der Art und Weise, wie in der Union Führung organisiert – nach wie vor unüberschaubar und parzelliert – und wie sie weitergegeben wird. Es ist nicht der belgischen Regierung anzulasten, dass sie just im zweiten Halbjahr 2001 den Ratsvorsitz innehatte, auch nicht, dass sie nur ein geringes Eigengewicht in die Waagschale werfen kann. Aber es ist absurd zu glauben, der belgische Ministerpräsident und sein Außenminister könnten für die Gemeinschaft und auch im Namen jedes einzelnen Mitglieds sprechen und sicherheitspolitische und militärisch relevante Verpflichtungen eingehen.

Das hat nichts mit Euroskeptizismus zu tun: Wenn die Währung der Weltpolitik, die nachgefragt wird, die des Militärischen ist, sind jene am Zug, welche diese Währung auch anbieten können und wollen, und es sind nicht jene, die der politisch naiven Auffassung sind, Krisenmanagement sei identisch mit der Verbreitung politischer Korrektheiten und plattitüdenhaften Aufrufen zum Dialog der Kulturen. Man mag bedauern, dass es phasenweise den Anschein hatte, es gebe einen nationalen Wettbewerb um Einladungen ins Weiße Haus und als sei die Präsidentschaft der EU bestenfalls ein Hilfssekundant. Doch dieses Bedauern ist allenfalls ein Indikator für den Beharrungswillen der Nationalstaaten und den Weg, den die europäische Außenpolitik noch zurückzulegen hat.

Aber so sehr sich das Denken in den Kategorien nationaler Macht historisch eigentlich überlebt hat, so wenig ist in der Sache gewonnen, wenn die materiellen Schwächen der europäischen Ambitionen durch Prestigehuberei überkompensiert werden. Brüssel braucht nicht für jedes Problemfeld einen eigenen Beauftragten und Abgesandten, jedenfalls nicht dann, wenn es nur darum geht, eine europäische Duftmarke zu setzen.

Grundsätzliche Verständigung

Was die Europäische Union wirklich braucht, ist eine grundsätzliche Verständigung ihrer Mitglieder über ihre außenpolitischen und strategischen Interessen, über deren Bündelung und Strategien zu deren Implementierung. Wer der Überzeugung ist, dass es einen europäischen Mehrwert gibt oder geben soll, der wird auch in die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik investieren. Was die Europäer bisher getan haben, um –  den eigenen Vorgaben und Zeitplänen gemäß – eine Krisenreaktions-Streitmacht auf die Beine zu stellen, ist bestenfalls ein Anfang – ein Anfang, der im übrigen die Kluft zwischen Rhetorik und Finanzierungsbereitschaft kaum verbergen kann.

Auch darum wird in der demnächst beginnenden Debatte darüber, wie die europäische Einigung in eine passende Verfassungsordnung zu kleiden ist, zu sprechen sein. Weil diese Debatte die Verteilung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten und das Verhältnis der europäischen Institutionen zueinander zum Gegenstand hat, wird das Thema Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zwangsläufig berührt. Mit dem Ziel, hier die europäische Handlungsfähigkeit zu verbessern, wird die Funktion des außenpolitischen Repräsentanten zu überprüfen und deren Verschmelzung mit der Funktion des Außenkommissars mindestens zu erwägen sein.

Verfassungskonvent und Wähler

Alles, was die Akteursqualität der Europäischen Union erhöhen kann, sollte der nun geschaffene Verfassungskonvent berücksichtigen. Aber die Stärkung der Handlungsfähigkeit kann nur gelingen, wenn sie eingebettet ist in eine hinreichende demokratische Legitimierung. Das gilt für die Sicherheitspolitik nicht weniger als für andere Politikfelder. Wer auch immer einen europäischen Willen verkörpert, der muss sich seinerseits auf einen starken demokratischen Auftrag stützen können, also auf einen Wählerwillen.

Die Wähler sehen ihren demokratischen Willen heute noch immer  in den nationalen Parlamenten aufgehoben. Diese entscheiden über den Einsatz von Soldaten – die wichtigste Entscheidung von Parlamenten und Regierungen in einer Demokratie überhaupt. Nicht zuletzt deshalb ist jenseits aller Bemühungen um mehr Gemeinsamkeit, Stringenz und Sichtbarkeit die sicherheitspolitische Konkurrenz zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten nicht etwas, das mit einem (verfassungspolitischen) Federstrich so einfach zu beenden wäre. Der Wille, die Interessen weiter einander anzugleichen, den Raum ihrer Durchsetzung weiter zu ziehen, Verantwortung und Souveränität gemeinsam auszuüben, ist dabei mehr als nur ein schwacher Zwischenschritt.

Selbst wenn der Weltkonflikt seit dem 11. September europäische Schwächen, Rivalitäten und Abstimmungsmängel offenbart – so wie der Krieg der Nato gegen Serbien Defizite der europäischen Allianzpartner schonungslos freigelegt hatte –, kann in der Krise selbst nicht die Stunde der Europäer schlagen. Die Krise kann allenfalls in der Verarbeitung der Folgen das integrationspolitische Rad weiterdrehen – pragmatisch und immer zunehmend. Und den Zugewinn müsste man noch nicht einmal gering einschätzen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2002, S. 23 - 26.

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