Gegen den Strich

01. Juli 2017

Italiens Politik

Vier Thesen auf dem Prüfstand

Chaos, Krise, Schlendrian, dazu eine Bevölkerung, die in schöner Regelmäßigkeit Politclowns vom Schlage Silvio Berlusconis und Beppe Grillos auf den Leim geht: Was in Italien schiefläuft, glaubt man in Deutschland stets besonders gut zu wissen. Und liegt doch meistens ganz weit daneben. Vier Mythen auf dem Prüfstand.

66 Regierungen in der Nachkriegszeit: Italien ist ein Land im permanenten Krisenmodus

Das mag von außen so scheinen. Doch auch wenn die Regierungen wechseln, die Gesichter sind meist jahrzehntelang die gleichen. Das Zauberwort dafür heißt „Trasformismo“. Was klingt wie eine Zeitenwende, bedeutet das genaue Gegenteil: Scheinwandel. Die 66 italienischen Nachkriegsregierungen sind kein Ausdruck mediterranen Wankelmuts, sondern die Verkörperung der Maxime aus Tomasi di Lampedusas Roman „Der Gepard“: „Alles ändert sich, damit alles bleibt, wie es ist.“

Fast 50 Jahre lang wurde Italien ununterbrochen von der Democrazia Cristiana regiert, und wäre die Mauer nicht gefallen, wäre sie wahrscheinlich immer noch an der Macht. Auf das glücklose, vom Mailänder Parteispendenskandal beendete Intermezzo der Sozialisten folgte die fast 20-jährige Herrschaft von Silvio Berlusconi.

Die Namen der Parteien ändern sich, die Protagonisten bleiben dieselben. Auch wenn Berlusconis Forza Italia vorübergehend Popolo della Libertà hieß und der Partito Democratico (PD) seinen Namen erst trägt, seitdem sich die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Linksdemokraten 2007 mit den ehemaligen Christdemokraten namens Ulivo und Margherita arrangieren konnten, gilt: Wer einmal in das italienische Parlament eingezogen ist, bleibt dort sitzen, bis er das Zeitliche segnet.

Der mit 94 Jahren verstorbene Giulio Andreotti war an 33 Regierungen beteiligt, sieben Mal davon als Ministerpräsident. Silvio Berlusconi nähert sich seinem 81. Geburtstag und hegt die berechtigte Hoffnung, mit 83 Jahren wieder in den Senat einzuziehen, wenn die über ihn verhängte fünfjährige Sperre für alle öffentlichen Ämter wieder aufgehoben wird.

Oder der einstige Staatspräsident Giorgio Napolitano, einer der Archaeopteryxe der italienischen Politik: Der 92-Jährige gehört dem Parlament seit 1953 an, er war neun Jahre lang Staatspräsident, ist heute Senator und immer noch ein gefürchteter Souffleur hinter den Kulissen der Politik.

Der einstige Kommunistenchef Massimo D’Alema sitzt seit 1987 als Abgeordneter im Parlament, wo er sowohl Ministerpräsident als auch Außenminister war. Und der heutige Außenminister Angelino Alfano saß bereits 1995, mit 25 Jahren, für Berlusconis Forza Italia im sizilianischen Regionalparlament und zog 2001 ins italienische Parlament ein, wo er Innenminister und Justizminister wurde, bevor er ins Außenamt berufen wurde.

Selbst Matteo Renzi war kein Neuling in der italienischen Politik, als er 2014 so glanzvoll gegen Enrico Letta intrigierte, dass er zum 27. Regierungschef ernannt wurde: Er wurde schon mit 21 Jahren 1999 zum Provinzsekretär des christdemokratischen Partito Popolare Italiano ernannt, der Partei seines Vaters und des späteren christdemokratischen Flügels der PD.

Silvio Berlusconi konnte sich nur dank seines Medienmonopols so lange an der Macht halten

Irrtum. Natürlich, im fernsehsüchtigen Italien des Jahres 1994 war es für Berlusconi von Vorteil, sämtliche Privatsender zu besitzen. Aber ohne die heimliche große Koalition mit der (vermeintlichen) Opposition – von den Italienern als „Inciucio“, das große Mauscheln, geschmäht – hätte sich Berlusconi niemals so lange an der Macht halten können. Die damals größte Oppositionspartei, der Partito Democratico, hat Berlusconi den Erfolg nie streitig gemacht. Rechts arrangiert sich mit Links, das war schon unter Andreotti so, das war unter Berlusconi nicht anders, und das setzte sich unter Matteo Renzi fort.

Als Berlusconi 1992 kurz nach den Attentaten gegen die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino mithilfe seiner rechten Hand, dem inzwischen als Mafiakomplizen verurteilten Marcello Dell’Utri, seinen Einzug in die Politik vorbereitete und sich den Italienern bei den Wahlen 1994 als neue politische Kraft präsentierte, befanden sich die etablierten politischen Parteien im Orkus der Geschichte und des Mailänder Schmiergeldskandals: Der Partito Comunista d’Italia war nach dem Mauerfall geschwächt, die Sozialisten waren korrupt, und 1993 hatte der Prozess gegen einen der wichtigsten Repräsentanten der Democrazia Cristiana, Giulio Andreotti, wegen dessen Zusammenarbeit mit der Mafia begonnen. Also warfen sich die Italiener Berlusconi in die Arme, weil der, wie es damals hieß, „zu reich ist, um uns beklauen zu müssen“.

In jenen Jahren waren die Wahlen in Italien so spannend wie in der DDR zu Erich Honeckers Zeiten. Die Linken arbeiteten sich an Berlusconi ab – allerdings nicht in Auflehnung, sondern in Annäherung. Massimo D’Alema rühmte Silvio Berlusconi als „ernsthaften Reformator“, regierte als Ministerpräsident in schönster Eintracht mit ihm und half tatkräftig dabei mit, das Mafia­kronzeugengesetz abzuschaffen, das ein Stachel im Fleisch der Mafia war. Der glücklose Oppositionskandidat Walter Veltroni kündigte gemeinsame Reformen mit Berlusconi an, genau wie der einstige Oppositionsführer Pier Luigi Bersani.

Ein eklatantes Beispiel für das „große Mauscheln“ war 2009 zu besichtigen, als die linke Opposition indirekte Hilfe leistete, ein gigantisches Steueramnestiegesetz durchzubringen: Die von Berlusconi geführte Regierungsmehrheit stimmte dafür, im Ausland geparktes Schwarzgeld gegen einen geringen Steuerobolus von 5 Prozent nach Italien zu holen. Ein Gesetz, maßgeschneidert nicht nur für Steuerflüchtlinge und Bilanzfälscher, sondern vor allem für die Mafia. Bei der Abstimmung über die Verfassungskonformität des Gesetzes fehlten die nötigen Stimmen der Opposition, um das Gesetz zu verhindern – 24 Abgeordnete der Linksdemokraten waren entweder gerade beim Arzt oder in Spanien oder hatten angeblich nicht begriffen, wie wichtig diese Abstimmung war.

Im Sommer 2010, als Berlusconis Popolo della Libertà nach dem Parteiausschluss des Rechtskonservativen Gianfranco Fini implodiert war – ohne Finis Anhänger hatte man keine Mehrheit mehr im Parlament – forderte die Opposition keine Neuwahlen, sondern verfiel in Schockstarre. Man hatte sich einigermaßen bequem in der Machtlosigkeit eingerichtet, und als man dann unter Romano Prodi ein Gesetz zum Interessenkonflikt zwischen dem Ministerpräsidentenamt und Berlusconis Position als größtem Medienunternehmer des Landes auf den Weg hätte bringen können, ließ man diese Gelegenheit verstreichen.

Nur so war es möglich, dass Berlusconi nicht nur einmal, nicht zweimal, sondern dreimal wiedergewählt wurde, obwohl die besten Investigativjournalisten unermüdlich Beweise für seine Mafiaverflechtungen, Richterbestechungen, ­Bilanzfälschungen, Offshore-Gesellschaften, Geheimlogen und seine 40 Ad-Personam-Gesetze präsentierten. Auch die letzte Regierung Berlusconi stürzte nicht, weil sie von der Opposition zu Fall gebracht wurde, sondern weil die Europäische Zentralbank, die EU und die anderen Europäer Berlusconi nicht mehr trauten. Staatspräsident Napolitano, der stets ein großer Freund der Amerikaner und damit der Banken war, beförderte den Cavaliere schließlich aus dem Amt.

Matteo Renzi bleibt der Hoffnungsträger Italiens

Nun ja. Als Ministerpräsident wurde Matteo Renzi von der gesamten Auslandspresse bejubelt. Doch das hat viel mit dem Copy&Paste-Prinzip der Auslandsberichterstattung zu tun. Die Ovationen für Renzis Verfassungsreform, die Jubelarien für Renzis Ankündigungen, Hashtags und Facebook-Posts – all das war stets am Vortag in den italienischen Medien zu lesen. Medien, die in überwältigender Mehrheit Parteien, parteinahen Unternehmensverbänden, parteinahen Industriellen und vorbestraften Multimilliar­dären mit eigener Partei gehören. Und die staatlich subventioniert werden, was zu gewissen Liebesdiensten stimuliert.

Die Auslandskorrespondenten werden erleichtert gewesen sein, als Renzi nach seinem Rücktritt infolge der krachend gescheiterten Verfassungs­reform bei den Urwahlen der PD wieder als Generalsekretär bestätigt wurde. Verschwiegen wird jedoch, dass der selbsternannte Verschrotter, der alle loswerden wollte – die politische Führungsklasse, die Gewerkschaften, die linken Parolen, die „Theoretiker des Mauschelns mit Berlusconi“ – sein Machtsystem auf der Freundschaft zu einem gewissen Denis Verdini aufgebaut hat. Dieser war nicht nur Berlusconis Verbündeter, sondern gilt auch als Vertrauensmann der in Italien einflussreichen Freimaurer: Als Berlusconis Macht verblasste, sprang Verdini auf den Renzi-Zug auf – im Gepäck ein Schuldspruch wegen Korruption und fünf laufende Klagen: Verdacht auf kriminelle Vereinigung, Korruption, betrügerischer Bankrott, einfacher und schwerer Betrug.

Verdini verhalf Matteo Renzi erst zu einem Mittagessen in Berlusconis Villa Arcore und schließlich zum „Pakt des Nazareno“: So genannt nach der Parteizentrale der PD, in der sich Renzi mit Berlusconi traf, um die gemeinsame Basis für weitere Kooperation zu schaffen.

Renzi setzt die Zusammenarbeit mit Berlusconi nun als Nazareno 2 fort, weil sich das von ihm konzipierte Wahlrecht „Italicum“ zum Eigentor entwickelt hat: Um die Neigung der Linken zur Gründung von Miniparteien zu beenden, sollte keine Parteienkoalition, sondern eine Partei, die mit 40 Prozent aller Stimmen gewählt wird, mit dem „Mehrheitsbonus“ von 55 Prozent aller Parlamentssitze belohnt werden. Würden die 40 Prozent im ersten Wahlgang nicht erreicht werden, wären die beiden stärksten Parteien gegeneinander angetreten. Bei einer Stichwahl hätte allerdings nicht Renzis PD, sondern die Fünf-Sterne-Bewegung die Nase vorn. Um diesen Worst Case zu verhindern, wird mit Berlusconi weiter gemauschelt – wie in den vergangenen 20 Jahren.

Die Italiener laufen auch jedem Rattenfänger nach: erst Silvio Berlusconi, jetzt Beppe Grillo

Langsam, ganz langsam. Stellen wir uns einmal vor, wir würden in einem Land leben, das 40 Jahre lang von Giulio Andreotti regiert wurde und danach 20 Jahre lang von Silvio Berlusconi. Ein Land, in dem nahezu täglich Politiker des Establishments wegen Betrugs, Korruption, Mafiaunterstützung und sonstiger Lappalien festgenommen werden und in dem es zwei Jahrzehnte lang keine echte Opposition gab, weil diese sich bestens mit Berlusconi arrangiert hatte. Ein Land, in dem 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind (im Süden sogar bis zu 70 Prozent), in dem die Staatsverschuldung mehr als 130 Prozent des Bruttosozialprodukts beträgt, in dem täglich Betriebe Konkurs anmelden und sich kleine und mittlere Unternehmer aufhängen, wenn sie von den Banken keine Kredite mehr bekommen. Stellen wir uns weiter vor, dass der wegen seiner Kritik an der politischen Kaste beliebteste politische Kabarettist im Netz die Idee von Meet-ups lanciert: kleine, renitente Zellen, die gegen Feinstaub kämpfen oder gegen die Privatisierung des Wassers, gegen die Mafia in der Müllbeseitigung und gegen den Hochgeschwindigkeitszug. Es geht um Ökonomie und Ökologie, um Politik und Konsum und um Fortschritt, der keiner ist.

Genau das tat Beppe Grillo, Starkomiker, Umweltschützer und Antichrist der italienischen Politik, der wegen seiner Kritik an Ministern und Ministerpräsidenten aus dem öffentlichen Fernsehen verbannt wurde und fortan durch Italiens Theater zog. Innerhalb von nur drei Monaten zählten Grillos Meet-ups bereits 7000 Mitglieder, vorwiegend junge Leute.

Als es im Jahr 2005 in Turin zum ersten landesweiten Treffen von Beppe Grillos Meet-ups kam, nahm kaum jemand davon Notiz. Weder Il Giornale und Libero, die Hauspostillen Berlusconis, noch die Repubblica, der Espresso des Finanziers Carlo De Benedetti oder die Turiner Stampa der Familie Agnelli verloren darüber ein Wort.

Als sich dann 2007 in Bologna 50 000 Italiener bei Grillos erstem Vaffanculo-Day (Haut-ab-ihr-Ärsche-Tag) versammelten, um die Parteien dazu aufzufordern, vorbestraften Parlamentariern das Mandat zu entziehen, rangen sich die Zeitungen ein paar Zeilen über diese Kuriosität ab. Repubblica-Herausgeber Eugenio Scalfari schauderte und schrieb: „Hinter dem Grillismus sehe ich widerwärtigstes Law and Order; ich sehe dahinter die Diktatur“, und der Espresso fühlte sich an Mussolini erinnert. Der Corriere della Sera bezeichnete Grillo als „Person mit brutaler Gier“ und die Stampa beschied: „In einem normalen Land wäre der V-Day auf den Unterhaltungsseiten besprochen worden.“

Im Jahr 2009 wurde die Fünf-Sterne-Bewegung in Mailand gegründet, benannt nach den fünf Leit-„Sternen“ (Wasser, Umwelt, Transport, Internet, Entwicklung) ihres Gründungsprogramms. Eigentlich tat Grillo nichts anderes, als die resignierten Italiener zur Selbsthilfe aufzufordern. Genau deshalb werden die Aktivisten der Fünf-Sterne-Bewegung heute von den etablierten Parteien so gefürchtet: Weil sie beweisen, dass eine Revolution von unten möglich ist. Bei den Parlamentswahlen 2013 stimmte ein Viertel der Italiener für sie: Eine Bewegung, die kein Geld hat, keine Fernsehsender, keine Tageszeitung, kein Verlagshaus, keine Banken, schaffte es, stärkste Partei zu werden.

Für Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung stimmten enttäuschte Linke und enttäuschte Berlusconi- und Lega-Wähler, kurz: alle, die hofften, dass sich endlich etwas ändert in einem Land, das zweigeteilt ist. Ein Land, in dem auf der einen Seite wohlhabende Rentner leben, staatliche Angestellte mit üppigen Monatsgehältern, dank Parteiklüngel reich gewordene Politiker und Unternehmer, und auf der anderen Seite junge Italiener, deren einzige Gewissheit ist, nie einen festen Job zu bekommen. Zweifellos ist es der Fünf-Sterne-Bewegung zu verdanken, dass ein Rechtsruck à la Frankreich in Italien ausblieb.

Die Fünf-Sterne-Bewegung betrachtet ein politisches Mandat als „Zivildienst“. Der darf ein, zwei Legislaturperioden dauern, dann müssen neue Kandidaten gewählt werden. Die Abgeordneten und Senatoren der Fünf Sterne unterscheiden sich von den anderen italienischen Parlamentariern (vorerst) dadurch, dass sie nicht mit der Mafia zusammenarbeiten und keine Vorstrafen haben. Vielleicht liegt genau darin das Problem. In den Medien des Mainstreams ist kein Halten mehr, seitdem die „Grillini“ in das italienische Parlament eingezogen sind. Nahezu täglich werden die Sympathisanten der Fünf-Sterne-Bewegung wahlweise als Faschisten, Berlusconi-Anhänger, Lega-Anhänger, geistig Behinderte, Pädophile, Terroristen, Feiglinge, Idioten, Diebe, Rassisten, Antidemokraten, Impotente, Scheißdreck, Scheintote oder Schweine geschmäht. Was kein Problem wäre, wenn die Schmähungen nicht auch von den deutschen Medien verbreitet würden.

Wie hätte man in Deutschland reagiert, wenn die italienische Presse den Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag Anfang der 1980er Jahre mit ebenso viel Häme bedacht hätte? An Heterogenität konnten es die deutschen Grünen mitsamt ihren Ex-Generälen, romantischen Pazifistinnen und grenz–wertigen Naturschwärmern mit der Fünf-Sterne-Bewegung sicher bestens aufnehmen. Und doch haben sie es mehr als jede andere deutsche Partei geschafft, die politische Kultur unseres Landes zu verändern.

Der in Bologna lehrende Politologe Piero Ignazi sagt über Grillos Fünf-Sterne-Bewegung, sie sei weder utopisch noch populistisch. Vielmehr handele es sich um einen pragmatischen Protest, der von Grillo in ein Medienspektakel umgewandelt werde. Hinter dem Protest und Grillos Show fänden sich jedoch sehr viele gute Ideen: Was ist schlecht daran, für die Umwelt zu kämpfen, für mehr Meinungsfreiheit, gegen die Verschwendung öffentlicher Gelder? Die Italiener hätten es zumindest verdient, dass die gleiche Nachsicht, die in deutschen Medien gegenüber den für Italiens desaströse Lage verantwortlichen Politikern, Bankern und Wirtschaftsbossen geübt wird, auch gegenüber einer neuen demokratischen politischen Kraft aufgebracht wird.

Petra Reski lebt seit 1991 als freie Autorin und Schriftstellerin in Venedig.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2017, S. 66 - 71

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