Ach, die Mafia
25 Jahre nach der Ermordung der Antimafia-Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino erinnert man sich in Italien der organisierten Kriminalität nur noch sporadisch. Ein Selbstbetrug, der umso leichter fällt, als die Mafia heute ein struktureller Bestandteil der Wirtschaft ist – und die Staatskasse jährlich um rund 75 Milliarden Euro schädigt.
Gibt’s die noch? Also in echt und nicht als Film oder Fernsehserie oder Computerspiel? Liest man die großen italienischen Tageszeitungen, könnte man zu der Annahme kommen, die Mafia sei „verschrottet“ worden – um mal einen Lieblingsausdruck des (vorübergehend) zurückgetretenen italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi zu gebrauchen.
Selbst der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella, immerhin Bruder des von der Mafia ermordeten sizilianischen Ministerpräsidenten Piersanti Mattarella, erwähnte bei seiner Neujahrsansprache die Mafia mit keinem Wort. Er sprach über die Opfer des Erdbebens und des Terrorismus, über die Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit eines neuen Wahlrechts, nicht aber über die Mafia, deren Umsatz inzwischen auf 170 bis 180 Milliarden Euro jährlich geschätzt wird. Womit die Mafia so viel wie die Region Lazio erwirtschaftet, fast 10 Prozent des italienischen Bruttoinlandsprodukts. Und die Staatskasse jährlich um mindestens 75 Milliarden Euro schädigt.
Kerngeschäft in der Krise
Wer aber bei „Mafia“ immer noch an Mord und Totschlag und die Blutfehden mafioser Clans denkt, beweist nur, wie gut es der Mafia gelingt, ihren chamäleonhaften Charakter zu verbergen. Egal ob es der Fall der Mauer, die Globalisierung, der gemeinsame europäische Markt, der Stabilitätspakt oder die andauernde italienische Wirtschaftskrise ist – die Mafia wusste sich anzupassen: „Sie wurde zu einem strukturellen Bestandteil des internationalen Finanzkapitalismus“, stellt Roberto Scarpinato fest, Generalstaatsanwalt von Palermo.
Ermöglicht wurde dies durch die Evolution innerhalb der Mafia: the survival of the fittest. Eine Art natürlicher Selektion, die drei verschiedene Arten von Mafia hervorgebracht hat: die traditionelle Mafia, die marktwirtschaftliche Mafia und die Mafia-Elite. Die traditionelle Mafia finanziert sich durch Schutzgeld, Erpressungen und öffentliche Gelder für die Bauwirtschaft – und ist heute praktisch ebenso verarmt wie die italienische Mittelschicht: Der Zugang zu öffentlichen Geldern, die Vergabe öffentlicher Aufträge hängen nicht mehr von den lokalen Politikern ab, mit denen die traditionelle Mafia stets zusammengearbeitet hat, sondern ist der Mafia-Elite vorbehalten. Die geht in den Kommandozentralen Italiens und Europas ein und aus – wo über wesentliche Fragen wie über die Privatisierung der Energie- und Wasserversorgung entschieden wird.
Sizilien ist heute die ärmste Region Italiens, und die Wirtschaftskrise wirkt sich auch auf die Erpressungen aus, das Kerngeschäft der traditionellen Mafia: Wenn es früher 1000 Betriebe gab, denen Schutzgeld abgepresst wurde, sind es heute nur noch knapp 400. Überdies zeigen immer mehr sizilianische Unternehmer die Erpressungen an – allerdings tun sie das nicht, weil die Legalität siegt, sondern weil sie schlechterdings nicht mehr zahlen können. Durch die Krise der Bauwirtschaft fehlen der traditionellen Mafia in Sizilien auch die Möglichkeiten zum Stimmenkauf: Das System „Ich garantiere dir Stimmen, du gibst mir dafür Aufträge“ funktioniert nicht mehr. Und weil es nicht mehr genug Geld gibt für die Familien der inhaftierten Mafiosi, für das Mafia-Volk – das für die niederen Arbeiten zuständig ist, für Erpressung, Gewalt und alles, was mit höherem Risiko verbunden ist –, versucht es sich dadurch zu rächen, dass es gar nicht mehr oder nur Protestparteien wählt: Das Wahlverhalten der Mafia lässt sich leicht am Wahlausgang des Wahlbezirks von Palermo ablesen, in dem sich das Ucciardone-Gefängnis befindet, in dem vorwiegend Mafiosi einsitzen.
Für die neoliberal geprägte „marktwirtschaftliche“ Mafia sieht die Situation entschieden besser aus. Diese Mafia ist zum internationalen Anbieter aufgestiegen – von illegalen Gütern (Drogen, Schmuggelzigaretten, gefälschte Waren, Waffen, billige Arbeitskräfte, Prostituierte) und Dienstleistungen (Investitionskapital, falsche Rechnungen, mit denen Steuern „gespart“ werden können, illegale Giftmüllbeseitigung), für die seit der Globalisierung der Wirtschaft eine unendlich große Nachfrage besteht – von Millionen anständiger Bürger, den Endverbrauchern.
Angebote, die man nicht ablehnen will
Diese marktwirtschaftliche Mafia ist nicht gewalttätig, sondern macht lediglich Angebote – auf die gerne zurückgegriffen wird. Das hat zuletzt der große Mafia-Prozess „Aemilia“ 2016 in Bologna gezeigt, in dessen Verlauf bereits Besitztümer und Unternehmen im Wert von 330 Millionen Euro beschlagnahmt wurden. Im Zentrum der Anklage steht der aus dem kalabrischen Crotone stammende Clan Grande Aracri, angeklagt sind aber nicht nur Mafiosi, sondern auch ihre Handlanger: Stadträte, Journalisten, Polizisten, Unternehmer. In der reichen Emilia-Romagna hat die aus Kalabrien stammende ‘Ndrangheta Wirtschaft, Politik und Institutionen durchsetzt – und nicht nur sie: Neben 17 ‘Ndrangheta-Clans sind vier Clans der sizilianischen Cosa Nostra und drei Camorra-Clans in der Provinz Reggio Emilia aktenkundig.
Wie aus den Ermittlungsunterlagen hervorgeht, wurden die Geldgeschäfte fast immer über Deutschland abgewickelt. So schreiben die italienischen Antimafia-Staatsanwälte in ihrem Haftbefehl: „Weil die neuen Geldwäschegesetze es den Mafiosi sehr schwer machten, sind Geldtransfers ins Ausland die einzige Möglichkeit, an Bargeld zu kommen. Am Telefon sagte ein Boss: Also der aus Deutschland, der eröffnet dir ein Konto, du schickst ihm Geld aufs Konto, und wir fahren nach Deutschland, heben das Geld ab und die Sache ist erledigt.“
Wie eine Dienstleistung der marktwirtschaftlich orientierten Mafia funktioniert, erläuterte Roberto Scarpinato am Beispiel der illegalen Müllentsorgung: Die Mafia bietet norditalienischen Unternehmen Dumpingpreise zur Giftmüllentsorgung an, sie kauft Landbesitzern für überhöhte Preise Land ab, vergräbt dort den Giftmüll, bebaut das verseuchte Terrain mit Wohnungen, die billig verkauft werden – und am Ende sind alle zufrieden: die Käufer billiger Wohnungen, die Landbesitzer, die ihre Grundstücke für überhöhte Preise verkaufen, die Unternehmen, die ihren Giftmüll billig entsorgen konnten. Folgerichtig wird diese Mafia auch nicht verabscheut, sondern als Bestandteil des Marktes geschätzt. Die Europäische Union scheint das genauso zu sehen: Die marktwirtschaftlich orientierte Mafia wurde 2014 legitimiert, als Brüssel verfügte, auch den Umsatz aus Drogenhandel und Prostitution zum Bruttoinlandsprodukt zu rechnen, eine Schizophrenie ohnegleichen: Einerseits soll die Kultur der Legalität gepflegt werden, andererseits legitimiert die EU die mafiose Wirtschaft.
Die dritte Art der Mafia ist die Mafia-Elite, meist eng verbunden mit italienischen Freimaurer-Logen. Die kalabrische ‘Ndrangheta hat für sie sogar eine übergeordnete Instanz geschaffen: die „Santa“ – Geheimlogen, in denen die Eliten der ‘Ndrangheta zusammen mit Politikern, Unternehmern und Geheimdienstlern arbeiten und Unterschiede zwischen ‘Ndranghetisti und Freimaurern gar nicht mehr auszumachen sind. Die kalabrische ‘Ndrangheta ist nicht nur der größte Kokainhändler der Welt, sondern auch die anpassungsfähigste Mafia-Organisation in Italien: Anders als die sizilianische Cosa Nostra und die kampanische Camorra kann sie auch Zellen außerhalb ihres eigenen Territoriums bilden. Kein Wunder, dass die ‘Ndrangheta heute die reichste Mafia-Organisation Italiens ist: Ihr Umsatz wird auf 53 Milliarden Euro geschätzt – das sind 3,5 Prozent des Bruttosozialprodukts Italiens im Jahr 2013 und so viel, wie die Deutsche Bank und McDonald’s zusammen umsetzen.
In der sizilianischen Cosa Nostra verkörpert der seit über 20 Jahren untergetauchte Mafia-Boss Matteo Messina Denaro den Typus dieser Mafia-Elite: Er stammt aus Trapani in Westsizilien, wo sich nicht zufällig die höchste Konzentration an Freimaurerlogen befindet. Messina Denaro versteht sich auf Risikodiversifizierung seiner Investitionen. Er stieg schon früh in das Geschäft der staatlich subventionierten Windenergie ein, verdiente am Tourismus und an Supermarktketten – der Besitzer des größten italienischen Tourismusunternehmens Valtur soll genau wie der Besitzer einer riesigen Supermarktkette sein Strohmann gewesen sein. Heute soll Messina Denaro sogar eine Bank in Manhattan besitzen – ein Reichtum, der beim Mafia-Volk Unmut auslöste: Er denke nur an sich, während das verarmte Fußvolk am Hungertuch nage, klagten die Bosse am Telefon.
Süditalien verarmt immer mehr, ihre Geschäfte macht die Mafia in Zentral- und Norditalien: Die ‘Ndrangheta sitzt in den Stadt- und Gemeinderäten im Piemont, in der Lombardei, Lazio und in der Emilia Romagna bereits seit 1995. Die Mafia verdient an allem. An jedem Erdbeben, an manipulierten Spielautomaten, an Online-Wetten, am Fußball, am Gemüsegroßhandel, an der Expo in Mailand und sogar an der Flüchtlingswelle: Einer der Bosse der römischen Hauptstadtmafia rühmte sich damit, dank der öffentlichen Gelder für die Versorgung von Flüchtlingen mehr zu verdienen als mit dem Drogenhandel.
Mafia als Bestandteil der Marktwirtschaft
„Wenn wir die Mafia nur dann sehen, wenn sie gewalttätig ist und erpresst, werden wir bald davon überzeugt sein, dass die Mafia nicht mehr existiert, weil sie als Bestandteil der Marktwirtschaft betrachtet wird“, sagt Generalstaatsanwalt Scarpinato. Als strukturelles Element des Finanzkapitalismus ist sie Bestandteil der realen Macht geworden – was sich auch daran ablesen lässt, dass bei jeder Verhaftung eines Bosses der Applaus groß ist, die Zustimmung jedoch schwindet, wenn es darum geht, die „Grauzone“ zu bekämpfen, die der Mafia ihren lebenswichtigen Sauerstoff liefert. Solange kompromissbereite Unternehmer, Beamte, Politiker, Rechtsanwälte und Notare lediglich als einfache Unterstützer gälten und nicht als wesentlicher Bestandteil des mafiosen Systems, garantiere der italienische Staat der Mafia ihre Existenz, sagt der Antimafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri. Und der nationale Antimafia-Staatsanwalt Franco Roberti stellt fest, dass die Bekämpfung der Korruption und der Wirtschaftskriminalität von keiner italienischen Regierung als Ziel betrachtet worden sei.
Wenn es einen politischen Willen gäbe, die Mafia zu bekämpfen, könnte sie schon längst besiegt sein, sagt Staatsanwalt Gratteri. Doch diesen Willen gibt es nicht – was sich an der Gesetzgebung ablesen lässt: Das Delikt des Amtsmissbrauchs wurde bereits 1997 abgeschafft, und selbst beim nachgewiesenen Stimmenkauf riskieren Politiker weniger Strafe als Mafiosi. Korruption zahlt sich aus, auch weil unzählige Verbrechen bereits verjährt sind, bevor es zu einem endgültigen Urteil kommt. Die Verjährungsfrist von Korruptionsdelikten liegt bei 7,5 Jahren. Allerdings setzt die Frist bereits ein, wenn die Tat begangen wird, nicht erst, wenn die Ermittlungen beginnen. Wird ein Verbrechen entdeckt, das drei Jahre zuvor begangen wurde, ermittelt die Justiz mit drei Jahren Verspätung. Gefängnishaft droht nur bei Strafen über vier Jahren, alles andere wird mit Hausarrest und Sozialdiensten abgegolten.
25 Jahre nach der Ermordung der beiden sizilianischen Antimafia-Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino scheint man sich in Italien der Mafia nur an den Gedenktagen für die Attentate zu erinnern, wenn Schulklassen in den Gerichtsbunker von Ucciardone (Palermo) pilgern, in dem es den beiden Staatsanwälten Ende der achtziger Jahre gelang, 360 Mafia-Bosse zu insgesamt 2665 Jahren Haft zu verurteilen. Damals mussten die Bosse zum ersten Mal erleben, dass sie Urteile nicht wie gewohnt in der letzten Instanz „zurechtrücken“, also aufheben konnten. Für Falcone und Borsellino bedeutete dieser Sieg ihr Todesurteil: Ausgeführt wurde das Attentat von der Mafia – Seite an Seite mit Geheimdienstlern, Politikern, hohen Staatsbeamten und Ministern.
Heute findet in demselben Gerichtsbunker ein Prozess statt, der diesen Pakt zwischen Staat und Mafia klären will – der federführende Staatsanwalt Nino Di Matteo wird von 42 Leibwächtern bewacht, seitdem ein Hinrichtungsbefehl der Mafia bekannt wurde. Wie ungebrochen der Pakt zwischen Mafia und Staat ist, lässt sich nicht nur an den Mordaufrufen gegen Nino Di Matteo ablesen, sondern auch an der Stille seitens der Institutionen und der Politik. Der redselige Premier Renzi hatte keinen einzigen Tweet übrig, als anonyme Briefe aus dem Umfeld der Geheimdienste darauf hinwiesen, dass die „römischen Freunde“ des untergetauchten Bosses Messina Denaro die Ermordung des Staatsanwalts beschlossen hätten, der „zu weit“ gegangen sei.
Wer sich damit zu trösten versucht, dass es sich um ein italienisches Problem handele, der sei daran erinnert, dass sich die Mafia in den vergangenen 25 Jahren im Ausland ungehindert ausbreiten konnte, während die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Mafia auf der Strecke geblieben ist. Die Mafia ist schon lange ein europäisches Problem. „Heutzutage gibt es in Europa kein Land mehr, das immun gegen die Mafia ist“, sagt Nino Di Matteo. „Im Gegenteil, die Mafia investiert ihr Geld da, wo die Wirtschaft floriert. Und sie ist sehr aufmerksam gegenüber Signalen, die von Politikern und Staatsdienern ausgehen. Die Duisburger Mafia-Morde waren ein Alarmsignal für etwas, das möglicherweise viel weiter reicht und die Wirtschaft unterwandert. Um Geschäfte zu machen, braucht die Mafia die Stille. Deshalb wäre es gut, wenn ein deutscher Politiker das Wort ergreifen würde, einfach nur um klarzumachen, dass er alles gegen die Ausbreitung der Mafia tun würde. Das wäre ein Signal für die Mafia, dass dieses Land nicht hinnehmen wird, unterwandert zu werden, selbst nicht in der Wirtschaft.“
Petra Reski lebt seit 1991 als freie Autorin und Schriftstellerin in Venedig.
IP Länderporträt 1, März - Juni 2017, S. 19-23