Islamisten nicht isolieren
Barrieren für eine echte Teilnahme am politischen Prozess müssen sinken
Der Arabische Frühling hat Islamisten die Teilhabe an der Macht ermöglicht. Doch fehlt ihnen die nötige Kompetenz, und seit dem Sturz Mursis sind sie auf dem gefährlichen Weg in die Isolation. Nötig wären eine kluge Einbindung, die es Islamisten erlaubt, beispielsweise auf lokaler Ebene Regierungserfahrung zu sammeln, und eine Übergangsjustiz.
Eine echte Demokratie ohne Islamisten ist im Nahen und Mittleren Osten derzeit unmöglich. Ihre Parteien haben große Wahlerfolge erzielt; würde man sie gänzlich ausschließen, setzte man die Legitimität des gesamten Prozesses aufs Spiel. Es nützte aber auch nichts, ihnen einfach leichteren Zugang in die politischen Prozesse zu gewähren, um das existierende Demokratiedefizit zu lindern. Der politische Islam ist so divers, dass es keine Einheitsformel gibt, die eine erfolgreiche Eingliederung garantieren würde.
Manche Gruppierungen sind aus ideologischen Gründen gegen jegliche Teilnahme an einem demokratischen Prozess. Sie halten an ihrer Vorstellung eines islamischen Staates fest, in dem das Volk als Souverän keine Rolle spielt und eine Islamisierung von oben betrieben wird. Andere Gruppierungen haben sich regelmäßig zu einem demokratischen Prozess wenigstens in Form freier Wahlen bekannt – mit gemischten Resultaten. Nach dem Sieg der ägyptischen Muslimbrüder in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zeigte sich ein Demokratieverständnis, das sich auf das Gewinnen der Macht durch Wahlen reduzierte – was schließlich zur Beendigung von Mursis Präsidentschaft durch das ägyptische Militär führte. Tunesiens Ennahda-Bewegung wiederum befindet sich gemeinsam mit den der „Troika“ angehörenden Partnern noch auf einem sehr mühevollen Weg in Richtung Demokratie. Von stabiler und guter Regierungsführung ist man noch weit entfernt.
Ein Ausschluss aus einem demokratischen Prozess führt zu Unterdrückung und unterminiert die Demokratie. Eine Integration aber garantiert noch lange keine Lösung. Um diesem Paradox gerecht zu werden, sind weit klügere Ansätze gefordert, die über den üblichen Rahmen von „Ausschluss versus Integration“ hinausgehen und die Erfahrungen während und nach dem Arabischen Frühling einbeziehen.
Die Aufstände in Tunesien, Libyen, Ägypten und Jemen haben es bis dahin marginalisierten islamischen wie säkularen Kräften ermöglicht, am politischen Geschehen teilzunehmen. Weil die in den jeweiligen Ländern regierenden Parteien so lange eine Monopolstellung im und über den Staat innehielten und weil zivilgesellschaftliche Institutionen erheblichen Restriktionen ausgesetzt waren, stand Oppositionellen so gut wie keine Möglichkeit zur Verfügung, sich konkrete Kompetenzen in Politik oder öffentlicher Verwaltung anzueignen. Neoliberale Reformen und deren soziale Auswirkungen schufen einen größeren Bedarf nach den alternativen – und enorm wachsenden – sozialen Netzwerken der Islamisten. Politisch marginalisiert und unterdrückt, aber gleichzeitig „sozial nachgefragt“ zu werden, beförderte die Islamisten in eine Art Paralleluniversum. Der Wunsch nach einer Integration in den politischen Prozess blieb dabei naturgemäß gering.
Für eine ernsthafte politische Debatte blieb nur wenig Raum. Die Konzentration der Islamisten auf Identitätspolitik – nämlich dass es in erster Linie gälte, eine muslimische Identität zu stärken und sie gegen die säkulare Bedrohung zu verteidigen – wurde damit nur vertieft. Diese Politik diente als Bindeglied zwischen ideologisch und sozioökonomisch höchst unterschiedlichen Gruppierungen. Und aus dieser Identitätspolitik stammt auch der Slogan „Islam ist die Lösung“, der ja die Illusion weckt, „der“ Islam böte nicht nur ein geschlossenes, ganzheitliches System von Regierungsführung, sondern auch eine Lösung für die chronischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme muslimischer Staaten. Die Einhaltung religiöser Gesetze wird also höher gewertet als der Erwerb politischer Kompetenz.
Nicht alle Islamisten teilen diese Haltung. Vor allem jene, die eher am Rand ihrer Organisationen zivilgesellschaftlich oder sozial tätig waren, verstanden sehr wohl, dass Kompetenz wichtiger ist als eine lupenreine muslimische Identität. Ihre Nähe zu den politischen und sozialen Realitäten ließ sie auch wesentlich pragmatischere und politikorientiertere Ansätze entwickeln. Politiker, die lange Zeit im Exil verbracht hatten – wie im Fall von Syrien und Tunesien – standen dieser Gruppe meist näher. Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb der islamistischen Organisationen waren offensichtlich; im vorrevolutionären Kontext wurden diejenigen, die näher am Kern der Organisationen waren, als „Konservative“ bezeichnet, während diejenigen, die eher an der Peripherie der Organisationen arbeiteten, als „Moderate“ galten.
Kein Kompromiss ist je genug
Der Arabische Frühling hat Islamisten und anderen marginalisierten oder unterdrückten Kräften den Zugang zum politischen Geschehen und Teilhabe an der Macht ermöglicht. Nur überstieg dieser schnelle Wandel deren Fähigkeiten, auch damit umzugehen – wobei die Islamisten zwar nicht erfahrener waren als andere, nicht religiöse Oppositionelle. Sie verfügten allerdings über die besseren Organisationsstrukturen. Und da sie in den meist konservativen Gesellschaften des Nahen Ostens auf eine starke Wählerbasis zählen können, kamen sie sowohl in Tunesien als auch in Ägypten schnell an die Macht. Dies dürfte auch für ein Syrien nach Assad gelten – unabhängig davon, welche Art von Ordnung sich dort im Detail entwickeln mag.
Einmal an der Macht, sahen sich Islamisten mit Problemen konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet waren: Die Revolutionen hatten hohe Erwartungen geschürt; ihre Gegner brachten ihnen größte Skepsis entgegen; die Lösung chronischer und struktureller wirtschaftlicher Probleme war plötzlich zu ihrer Aufgabe geworden; und nicht zuletzt formierten sich auch die „alten Kräfte“ wieder, die zudem auf größte finanzielle Unterstützung aus den Golf-Staaten zählen konnten. In Ägypten wurden die Islamisten schließlich von der Macht verdrängt. In Tunesien ringt die Ennahda-Partei noch immer mit den ganz akuten Problemen.
Die Absetzung Mursis in Ägypten und die brutale Niederschlagung der Demonstrationen gegen den „Coup“ des Militärs blieben nicht ohne weitreichende Wirkung. Sie verstärkten den Rückzug auf eine Haltung des „Nicht-Engagements“, das sich im Wesentlichen aus zwei Motiven speist. Innerhalb des politischen Islam wachsen die Zweifel, ob eine Teilnahme am „politischen Spiel“ wirklich zum Erfolg führt. Dass ein demokratisch gewählter und legitimierter Präsident nur ein Jahr nach seiner Vereidigung abgesetzt wurde, hat – neben einem ohnehin schon sehr begrenzten Verständnis der Verfahrenstechnik demokratischer Prozeduren – die Überzeugung nur noch verstärkt, dass Islamisten sich nur dann bei Wahlen aufstellen lassen dürfen, wenn sie keine Aussicht haben, sie zu gewinnen. So kehrt sich die oft zitierte Beobachtung des Historikers Bernard Lewis um. Er glaubte, die Islamisten würden, einmal an der Macht, nach dem Prinzip „One man, one vote, one time“ handeln. Für die Islamisten sieht die Realität genau umgekehrt aus. Gewinnen sie ein Mal die Macht, dann wird dafür gesorgt, dass sie sie für immer verlieren.
Ganz deutlich wird diese Haltung in der Basis der Muslimbruderschaft, wo man sich immer mehr der isolationistischen Ideologie des islamistischen Vordenkers Sayyid Qutb anschließt. Es ist kein Randphänomen mehr, wenn junge Muslimbrüder finden, dass der aktuelle Kampf gegen das Militär und das regierende Bündnis ihr „letzter politischer Kampf“ sei, nach dem sie sich dann entweder aus der Bruderschaft zurückziehen, sich in radikaleren Organisationen engagieren oder die Politik ganz verlassen würden, um sich allein sozialen Tätigkeiten zu widmen. Diese Haltung ist besonders stark unter jenen Gruppierungen, die nicht an der Regierung beteiligt sind. Die „demokratischen Kompromisse“ der Ennahda, so ist man überzeugt, reichten den Gegnern ja ebenfalls nie. Und nun müsse man endlich wieder zu einer weniger kompromissbereiten und klarer islamistischen Haltung zurückkehren.
Das zweite Motiv dieser Haltung des „Nicht-Engagements“ ist der fehlende Glaube an die Fähigkeit des politischen Systems, Gerechtigkeit zu garantieren. Die Massaker, die der Absetzung Mursis folgten, provozierten eine nur noch größere Wut gerade unter jüngeren Islamisten. Dass es keine glaubwürdigen Untersuchungen der Vorgänge oder gar eine Strafverfolgung der Verantwortlichen gibt und dass das Rechtssystem alles andere als neutral und ausgewogen ist, untergräbt jeden Anreiz für Engagement. So verstärken sich die Tendenzen eines „isolationistischen Islam“, während gleichzeitig die Schwelle zum Gebrauch von Gewalt als Mittel der Politik immer weiter sinkt.
Bislang ist die Gewalt noch nicht ausgeufert. Aber erste Anzeichen für einen Stimmungswechsel zeigten sich schon nach der Ermordung von Polizisten und Soldaten in Kairo und auf der Sinai-Halbinsel: Für viele junge Islamisten war das ein nicht allzu bedauerlicher Teil der Auseinandersetzung. Immer häufiger auch setzen islamistische Demonstranten bei Konfrontationen mit den Sicherheitskräften nun Molotow-Cocktails, Stöcke, Steine und in manchen Fällen auch Feuerwaffen ein.
Wie genau sich die jüngsten Entwicklungen in Ägypten weiterhin auf die Muslimbruderschaft auswirken werden, ist nicht wirklich vorhersehbar. Aber sie werden nicht zu einer größeren Spaltung der Bewegung führen, solange die Spannungen mit der gegenwärtigen Regierung andauern. Man nutzt den Zustand der Konfrontation, um eine organisatorische Einheit zu wahren. Aber damit weicht man auch den notwendigen inneren und inhaltlichen Debatten aus. Und das führt wiederum dazu, dass sich die Gruppierung von eher pragmatischen Positionen zu entfernen scheint. Derzeit jedenfalls versuchen die Muslimbrüder, den politischen Prozess in Ägypten zu behindern und dem gegenwärtigen Regime die demokratische Legitimität zu verweigern, die sie durch ein Verfassungsreferendum erringen will. Egal ob sie dabei erfolgreich sein werden oder nicht: Eine solche Strategie wird das politische System weiter destabilisieren und einen Wandel in Ägypten nur erschweren. Die Nour-Partei und andere salafistische Gruppen – die traditionell weniger pragmatisch, aber resistenter gegenüber einer internen Demokratisierung als die Muslimbrüder sind – scheinen nun ihre Position mit den Muslimbrüdern getauscht zu haben. Weil sie einen Platz in einer Gesellschaft erringen wollen, die generell immer feindlicher gegenüber Islamisten wird, zeigen sie jetzt mehr Pragmatismus als die Muslimbrüder.
Die Situation in Ägypten bleibt selbstverständlich auch nicht ohne Wirkung auf Islamisten in anderen Teilen der Region, besonders in Syrien, Libyen, Tunesien und Jemen. Dort können radikale Gruppierungen und Gruppen, die ohnehin jegliche Beteiligung an dem jetzt existierenden System ablehnen, Kapital aus dem Anti-Islamisten-Kurs in Ägypten schlagen. In Tunesien hat die Absetzung Mursis der Ennahda zwar vor Augen geführt, wie schädlich sich eine politische Stagnation auswirken könnte. Nicht zuletzt deshalb hat deren Führung versucht, die regierende Allianz mittels weitreichender Kompromisse zu stärken. Gleichzeitig aber unterstützt Ennahda radikale Elemente, die davon überzeugt sind, dass es vollkommen sinnlos ist, der islamistischen Sache mittels demokratischer Mittel zum Erfolg zu verhelfen. Für Syrien gilt ohnehin: In welche Richtung sich der Bürgerkrieg auch entwickeln mag, die Unterdrückung der Muslimbrüder in Ägypten wird dazu beitragen, die dortigen radikalen Elemente zu stärken. Das wird auch Konsequenzen für eine Ordnung nach Assad haben.
Eine Strategie für Engagement
Wenn man an der Entwicklung stabiler Rechtsstaaten und friedlicher Verhältnisse in der Region interessiert ist, wird man Islamisten besser und erfolgreicher einbeziehen müssen. Das ist aber nur mit einer klügeren Strategie möglich, die auch die bisherigen Erfahrungen berücksichtigt. Zunächst gälte es, einem „islamistischen Isolationismus“ entgegenzutreten. Das kann nur geschehen, wenn die Barrieren für eine echte Teilnahme an den politischen Prozessen sinken. Wer Gewalt befürwortet, sollte durchaus weiter ausgeschlossen bleiben. Aber anderen politischen Kräften – islamistisch wie säkular – muss es erlaubt sein, sich zu organisieren und in den politischen Prozess einzubringen. Dazu wäre es auch notwendig, endlich einige der restriktiven Maßnahmen gegen zivilgesellschaftliche wie politische Organisationen aufzuheben.
Gleichzeitig muss das Fundament des demokratischen Systems auf den Prüfstand gestellt werden. Es bedarf einer Stärkung der Zivilgesellschaft generell und von Institutionen, die als Gegengewichte für die Regierung dienen können und eine größere Teilnahme der Bürger am politischen Geschehen ermöglichen. Besonders Lokalregierungen und Kommunen könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Hier wird Politik für die Bürger unmittelbar überprüfbar und genau in diesen Institutionen können islamistische wie säkulare Politiker die Kompetenzen erwerben, die sie brauchen, wenn sie einen Staat leiten oder eine Gesellschaft repräsentieren sollen. In diesen Institutionen muss jenseits von Dogmen gehandelt werden und die Konzentration darauf liegen, Dienstleistungen für die Bürger bereitzustellen – was durchaus zu einer Annäherung zwischen säkularen und islamistischen Kräften führen kann. Jede Strategie, die am Ende Erfolge erzielen will, muss darauf angelegt sein, lokale Regierungen zu stärken, faire und transparente Kommunalwahlen abzuhalten und politische Parteien zur Teilnahme zu ermutigen. Staatliche Unterstützung für Parteien sollte allerdings vom Wahlergebnis abhängig gemacht werden.
Die Stärkung von Lokalregierungen sollte mit Maßnahmen verbunden werden, die auf die Demokratisierung des Systems und eine Stärkung seiner Legitimität abzielen. In erster Linie sollten die gegenwärtig dominanten neoliberalen Strukturen überprüft werden. Man sollte Verbote lockern oder aufheben, die bislang für notwendig erachtet werden, weil sie eine gewisse Stabilität garantieren und die Kontrolle des Staates in Zeiten größter Volatilität sichern, dabei aber die dringend notwendige Arbeit unabhängiger Gewerkschaften einschränken. So wäre ein insgesamt besser ausbalancierter Prozess der Transformation möglich. Es muss ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der eine größere öffentliche Teilnahme an den Entscheidungsprozessen, vor allem auf lokaler Ebene, ermöglicht. Unabdingbar ist es, die sozioökonomischen Probleme offen anzusprechen. Eine umfassende Einführung von Mindestlöhnen bei gleichzeitiger Deckelung von Höchstgehältern könnte der wachsenden Einkommenskluft entgegenwirken. Ebenso wichtig wäre eine Neustrukturierung der umfassenden Subventionen und vor allem die Aufhebung von Subventionen für energieaufwändige Industrien, die geradezu Brutstätten für Vetternwirtschaft sind. Auch muss der Staat wesentlich mehr Verantwortung im Bereich soziale Dienstleistungen, Gesundheitswesen oder Bildung übernehmen. Polizeigewerkschaften zu erlauben, wäre ein äußerst hilfreicher Schritt, staatlichem Machtmissbrauch vorzubeugen und für eine höhere Professionalität in einer Institution zu sorgen, die noch immer von geradezu ausufernden Netzwerken geprägt ist. All diese Maßnahmen könnten zu größerer politischer Transparenz und größerer Teilnahme führen und dem islamistischen Isolationismus entgegenwirken. Das würde nicht, wie jetzt, die „moderaten“ Kräfte an den Rand drängen, sondern die „radikalen“.
Missbrauch aufarbeiten, Gerechtigkeit schaffen
Sollen all diese Maßnahmen Früchte tragen, dann ist eine umfassende Übergangsjustiz unerlässlich. Jedes Land des Arabischen Frühlings hat seine Eigenheiten. Und doch leiden alle diese Gesellschaften unter den vielfachen Schäden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die in den langen Jahren und Jahrzehnten der Unterdrückung entstanden sind. Es geht dabei nicht nur um Aufarbeitung und einen Prozess der Versöhnung. Vielmehr wäre es wichtig, den strukturellen Ursachen für die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu Leibe zu rücken. Dazu gehören die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die von Reiseverboten über willkürliche Verhaftungen, Folter und rechtswidrige Todesstrafe reichen. Sowohl Islamisten als auch säkulare oder liberale Kräfte sind Opfer dieser Missbräuche unter vorrevolutionären Regimen geworden. Ein wirklich stabiles System muss so aufgestellt oder umstrukturiert werden, dass derlei Missbrauch verhindert wird und damit das Misstrauen zwischen Gruppierungen gemindert wird, die um die politische Macht konkurrieren. Ein spürbares und sichtbares Ergebnis einer solchen Umstrukturierung muss eine Gesetzgebung sein, die die Unabhängigkeit der Justiz garantiert und die Einhaltung der Menschenrechte überprüfbar und einklagbar macht.
Ebenso müssen alle strukturellen Defizite beseitigt werden, die zu den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Blockaden geführt haben. Das würde auch die Legitimität und die politische Integrationsfähigkeit des neuen Regierungssystems erhöhen. Unter den alten Regimen war ja nicht nur Wahlbetrug gang und gäbe. Auch Institutionen des alten Systems waren disfunktional. Der Übergangsprozess in der Justiz sollte deswegen nicht nur freie und faire Wahlen gewährleisten, sondern auch eine Gewaltenteilung, die die Stärkung von repräsentativen Institutionen auf der nationalen und lokalen Ebene sichert.
Beseitigt werden müssen auch die Umstände, die Vetternwirtschaft und Korruption Vorschub leisteten. Ägyptens Privatisierungspolitik hat hauptsächlich dem inneren Zirkel des Regimes genutzt. Dies muss korrigiert werden, wenn ein neues politisches System jemals Anerkennung erfahren will.
Könnten diese Maßnahmen umgesetzt werden, würde dies zum Aufbau eines demokratischeren Systems beitragen, das in der Lage ist, eine Vielzahl an politischen Akteuren und neuen Kräften einzubinden. Und sie wären auch dazu geeignet, einem „islamistischen Isolationismus“ entgegenzuwirken.
Für ein neues Engagement pragmatischer Islamisten
Es wäre wohl naiv anzunehmen, dass damit das Problem radikaler Gruppierungen schon beseitigt wäre. Eine Stärkung lokaler Regierungen, eine umfassende und offene Auseinandersetzung mit den strukturellen Ungerechtigkeiten der „anciens regimes“ und der Versuch, bislang marginalisierte Kräfte in einen zivilen Prozess politischer Teilhabe einzubinden, könnten durchweg positive Ergebnisse erzielen. Sie würden dem neuen Narrativ eines „Anti-Engagements“ entgegenwirken und es auf Gruppierungen beschränken, die aus ideologischen Gründen resistent gegen jeglichen demokratischen Prozess sind. Eher pragmatische Gruppen würden hingegen ermutigt, sich zu engagieren. Gelänge es, eine durchgreifende Übergangsjustiz zu etablieren, die auch eine Aussöhnung anstrebt, dann würde selbst unter Radikalen der Anreiz geringer, auf Gewalt zurückzugreifen. Den Organisationen, die sich dem Dialog verschrieben haben, werden diese Maßnahmen helfen, ideologische Dogmen zu überwinden. Das kann nur ihre Kompetenz und ihr Engagement für die Demokratie stärken.
Ibrahim El Houdaiby ist Publizist, Leiter des Forschungszentrums der Zeitung Al-Shorouk und Senior Researcher beim House of Wisdom in Kairo. Eine Zeitlang war er Mitglied der Muslimbruderschaft.
Internationale Politik 2, März/April 2014, S. 15-21