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04. Jan. 2013

„Es fehlt an politischer Substanz“

Ist der politische Islam regierungsfähig? Und hat der Nationalstaat Zukunft?

Ein halbes Jahr nach der Wahl Mohammed Mursis zum ägyptischen Präsidenten wachsen die Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Muslimbrüder. Mit Recht, erklärt der ehemalige Muslimbruder Ibrahim El-Houdaiby im
IP-Interview: Ein Konzept ist bislang ebenso wenig zu erkennen wie eine Vorstellung davon, welche Rolle der Islam im öffentlichen Leben spielen soll.

Internationale Politik: Herr El-Houdaiby, was sind die wichtigsten Probleme, mit denen sich der politische Islam in Ägypten derzeit auseinandersetzen muss?

Ibrahim El-Houdaiby: Das erste ist die Frage nach dem, was ich als „Relevanz“ oder „politische Substanz“ bezeichnen würde. Islamisten haben immer wieder versucht zu beweisen, wie gemäßigt, wie moderat sie sind. Wir sind geradezu besessen von der Angst, nicht als moderat wahrgenommen zu werden.

IP: Von wem?

El-Houdaiby: Von der eigenen Gesellschaft, vom Westen. Ich selbst bin kein Politiker, mir ist es egal, ob ich als Gemäßigter oder als Radikaler wahrgenommen werde, aber bei Politikern stellt man immer wieder fest, dass das Bemühen, als moderat zu gelten, ihr Denken beherrscht. Was immer man sie fragt: Man wird nicht unbedingt eine Antwort voller politischer Substanz erhalten, aber mit Sicherheit eine, die zum Ausdruck bringt, wie moderat sie seien. Dabei ist es nicht das, worum es jetzt gehen müsste. Sondern um politische Substanz.

IP: Hat die Regierung ein Programm?

El-Houdaiby: Nein. Wir können vielleicht von „Hoffnung“ sprechen, von einer „Vision“: Wir wollen nachhaltige Entwicklung, wir wollen geringere Einkommensunterschiede etc. Nur, wie will man das konkret umsetzen? Ich erinnere mich, dass ich 2011 kurz vor den tunesischen Wahlen mit dem Tunesier Rashid al-Ghannushi und dem Ägypter Abd al-Munim Abul-Futuh bei einer Konferenz in der Türkei war. Ich habe sie gefragt: „Könnten Sie mir einmal Ihr ökonomisches Konzept näher erläutern?“ Schweigen. Dann antwortete al-Ghannushi: „Nun, Sie können einfach in das Parteiprogramm der an-Nahda schauen.“ Und ich entgegnete: „Ich habe das Parteiprogramm gelesen. Deshalb frage ich ja.“

IP: Liegt das vielleicht daran, dass es sich bei den Muslimbrüdern immer noch eher um eine soziale Bewegung handelt als um eine politische Partei?

El-Houdaiby: Das ist in der Tat das Hauptproblem. An die Macht gekommen sind die Islamisten mit dem Versprechen, einen sozialen und politischen Wandel herbeizuführen und die Beziehung zwischen Religion und Staat neu zu definieren. Darin sehe ich die zweite große Herausforderung für die Islamisten: die Rolle zu bestimmen, die der Islam im öffentlichen Leben spielen soll. Und letztlich müssen sie, und das wäre die alles umfassende Herausforderung, eine Balance zwischen Authentizität und Relevanz finden.

IP: Also zwischen dem, was sie als religiös korrekt erachten …

El-Houdaiby: … und dem, was praktisch relevant ist, genau. Die Rolle eines salafistischen Predigers unterscheidet sich nun einmal deutlich von der eines Politikers. Als Politiker muss ich eine Alternative präsentieren. Wenn die Islamisten das Aufzeigen von Alternativen als falsch darstellen, als etwas, wodurch die Authentizität kompromittiert wird, dann bleibt die Forderung nach Authentizität im Raum. Die könnte von einer anderen Bewegung aufgegriffen werden, die Demokratie als Verrat an den religiösen Prinzipien betrachtet.

IP: Was wäre denn die Lösung?

El-Houdaiby: Was wir brauchen, sind Alternativen, die Authentizität und Relevanz miteinander verbinden. Nehmen wir nur mal die Muslimbruderschaft und das Thema Finanzen. Auf ihrer Webseite schreiben sie über eine Vielzahl von finanzpolitischen Themen, darüber, was sie alles nicht akzeptieren können, aus welchen Gründen auch immer: internationale Kredite allgemein, Kredite vom IWF, Kredite von der Weltbank. Bis zum April 2012, als die ägyptische Regierung den IWF um einen Kredit bat, weil sie es als ökonomisch unausweichlich bezeichnete. Das sorgt für eine starke Spaltung …

IP: Eine Spaltung innerhalb der eigenen Prinzipien?

El-Houdaiby: Genau, eine Art Schizophrenie. Letztlich ist es aber nur der Versuch, Authentizität und Relevanz miteinander zu versöhnen. Ich glaube nicht, dass man das den Islamisten in dieser Entwicklungsphase ihrer Bewegung vorwerfen kann. Was ich ihnen vorwerfe, ist die mangelnde politische Substanz.

IP: Im Islam war die religiöse Sphäre nie von der politischen getrennt …

El-Houdaiby: Auf eine gewisse Weise schon. Der Staat spielte für Muslime lange keine große Rolle. Man konnte in Ägypten leben und sterben, ohne zu wissen, wer das Land regiert. Erziehung, Gesundheitsfürsorge, alles wurde außerhalb staatlicher Strukturen organisiert. Der Staat hatte bei Fragen der öffentlichen Moral überhaupt kein Mitspracherecht. Die Islamisten waren eine Reaktion darauf – eine Reaktion auf der sozialen Ebene, die dann politisiert wurde. Jetzt übernehmen sie den Staat, und jetzt müssen sie sich der Diskussion stellen, weil die Anwendung der Scharia durch den Staat zu einer Unterdrückung führen würde, wie es sie vorher nicht gegeben hat.

IP: Jetzt, da sie an der Macht sind, wäre es eigentlich die Aufgabe der Islamisten, sicherzustellen, dass auch die religiösen Minderheiten ihren Glauben ausleben können. Sind sie bereit dafür?

El-Houdaiby: Das Problem ist, dass das Verständnis des Islam stark politisiert wurde. Was unsere Gesellschaften brauchen, ist Zeit. Aber die haben wir nicht. Wir müssen also sehr pragmatisch vorgehen. Konzentrieren wir uns auf die Probleme, die alle betreffen. Vergessen wir die Scharia nicht, aber …

IP: … stellen wir sie zurück? Und lösen zuerst andere Probleme?

El-Houdaiby: Ja. Zumal wir noch nicht wissen, was eine zentrale Rolle der Scharia in der Verfassung für praktische Konsequenzen hätte.

IP: Gibt es irgendein Vorbild, an dem Sie sich orientieren könnten?

El-Houdaiby: Nein. Das Konzept des modernen Nationalstaats an sich muss überdacht werden. Und das braucht Zeit.

IP: Und wie könnte ein außenpolitisches Konzept aussehen? Was wären die wichtigsten Länder und Regionen?

El-Houdaiby: Zunächst einmal die Nachbarstaaten und Palästina. Dann Syrien, der Irak, der Iran, die Türkei. Vor allem geht es darum, unsere regionalen Bündnisse mit neuem Leben zu erfüllen. Kairo kann nicht auf ewig der Verbündete von Tel Aviv, Riad und Washington bleiben.

IP: Welche Rolle spielt Tunesien? In Tunesien und Ägypten nahm der Arabische Frühling seinen Anfang …

El-Houdaiby: … das war eine Art Wettbewerb. Die Tunesier waren die ersten, die uns in der Nacht des 27. Januar 2011 strategische Tipps via Facebook gaben. Und es war wohl auch einer der Gründe für uns, auf die Straße zu gehen, dass die Tunesier damit erfolgreich waren. Wir konnten doch nicht zulassen, dass sie erfolgreicher sind als wir! Als wir dann die Polizeibüros gestürmt haben, haben die Tunesier das am nächsten Tag getan. Dann haben sie die Behörde für Staatssicherheit aufgelöst: 2:1 für Tunesien! Das hieß für uns, dass wir uns möglichst schnell daran machen mussten, unseren eigenen Sicherheitsapparat aufzulösen.

IP: Heute haben beide Länder ähnliche Probleme, was den demokratischen Übergang angeht. Wäre es da nicht naheliegend, die jeweiligen Erfahrungen auszutauschen?

El-Houdaiby: Da ist in der Tat auf beiden Seiten eine gewisse Ratlosigkeit zu beobachten. Beiden Regierungen fehlt die Kreativität, bestimmte Probleme zu lösen, beide sind noch immer in den Rahmen gefangen, die die alten Regime hinterlassen haben. Das einzige, worin die Tunesier erfolgreicher waren, ist die Schaffung eines Ministerium für Menschenrechte und die Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber ich glaube, das ist ein guter Ansatzpunkt für Kooperation, und das ist der Grund, weshalb die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn so wichtig wäre. Die Menschen hier sind geradezu besessen davon, was der Wes-ten tut, was Europa tut, was die Vereinigten Staaten tun. Dabei gäbe es von anderen Ländern viel mehr über demokratische Übergänge zu lernen, etwa von Lateinamerika. Entscheidend für das Gelingen unseres Übergangsprozesses wird es sein, die Bevölkerung an der Macht zu beteiligen – an der politischen Macht, aber auch an der ökonomischen Macht.

IP: Die wirtschaftliche Misere ist eines der dringendsten Probleme. Wie kann die internationale Gemeinschaft hier behilflich sein?

El-Houdaiby: Noch verfügt die Muslimbruderschaft über keinerlei ökonomisches Programm. Während der letzten zehn Jahre von Mubaraks Regierung hatten wir extrem neoliberale Tendenzen in Ägypten. Die Bruderschaft ist ebenfalls neoliberal ausgerichtet, weil das eben die bestehende Art der Ökonomie war, die sie nicht in Frage stellen wollte. Was internationale Organisationen tun können? Definitiv nicht auf die neoliberalen Reformen drängen, die der IWF und die Weltbank vorschlagen. Das hat in Europa und im Nahen Osten zu Desastern geführt. Ich bin mir nicht sicher, ob ökonomische Unterstützung nützlich ist. Glauben Sie wirklich, dass Ägypten Geld braucht?

IP: Zumindest erhält Kairo finanzielle Zuwendungen aus anderen Ländern …

El-Houdaiby: Investitionen könnten wir wohl brauchen, aber nicht unbedingt mehr Geld. Eine angemessene Verteilung des Geldes wäre wichtiger. Nehmen Sie nur das Gesundheitswesen. Die höchsten Gehälter sind mehr als hundert Mal höher als der Mindestlohn. Absolut inakzeptabel! Und es hat dazu geführt, dass die Mitarbeiter im Gesundheitssektor selbst gesagt haben: Wir wollen nicht mehr Geld, aber lasst uns die Gehaltsstrukturen reformieren.

IP: Wo würden Sie außerdem den Hebel für Veränderungen ansetzen?

El-Houdaiby: Zunächst einmal müssen wir einen gesellschaftlichen Konsens darüber schaffen, was wir in Zukunft unbedingt verhindern wollen: Menschenrechtsverletzungen, Abschottung des politischen Systems, Staatsversagen, Vergeudung staatlicher Ressourcen. Konzentrieren wir uns auf die Wahrheit. Das Thema Versöhnung muss für einige Zeit ruhen. Erst wenn wir die Wahrheit kennen, wenn wir verstehen, was schiefgelaufen ist, wenn die Kriminellen bestraft und solche, die eher Opfer als Täter waren, amnestiert sind, dann kann der Übergang gelingen.

IP: Welche Rolle kann und wird das Militär bei diesem Prozess spielen?

El-Houdaiby: Mittel- und langfristig bin ich optimistisch. Die Menschen werden sich die Rechte, die sie sich erkämpft haben, nicht kampflos nehmen lassen. Aber kurzfristig sehe ich ein massives Problem: Man tauscht die Personen aus, nicht die Strukturen. Wenn man sich den bisherigen Entwurf der Verfassung ansieht, dann hat das Militär jetzt mehr Macht als in der Verfassung von 1971. Meiner Ansicht nach sollte es aber darum gehen, die zivilen Kontroll-mechanismen institutionell zu stärken. Am Ende werden wir wohl auf die Verfassung von 1971 zurückgreifen, mit dem Vorbehalt, dass sich die Machtverhältnisse noch durch Gesetzesänderungen ändern könnten. Das bedeutet, dass wir mehr Zeit dafür brauchen, als wir gedacht hatten.

IP: Haben Sie irgendwelche Erwartungen an die EU, was die Unterstützung dieses Übergangsprozesses angeht?

El-Houdaiby: Ich denke, es lässt sich viel von europäischen Erfahrungen lernen. Zum Beispiel von Deutschland, von der Reform der Streitkräfte, von der Ausgestaltung des Justizapparats. Und ich halte auch viel vom skandinavischen Wirtschaftsmodell. Generell glaube ich, dass die EU eine gute Chance hat, stabile Beziehungen zum Nahen und Mittleren Osten aufzubauen, eine bessere als die USA. Ob es gelingt, hängt in erster Linie von Europas Haltung zur palästinensischen Frage ab. Davon, an einer fairen und realistischen Lösung für die Palästinenser mitzuarbeiten.

IP: Wie könnte die aussehen?

El-Houdaiby: Mit der traditionellen Denkweise von Politikern, die politisch korrekt sein wollen und einer Zwei-Staaten-Lösung das Wort reden, weil das eben alle tun, werden wir nicht weiterkommen. Allein ein Abbau der Siedlungen, der für eine solche Lösung nötig wäre, ist mittlerweile praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem hat das palästinensische Volk zu viel mitgemacht, um jetzt von einer Führung verraten zu werden, die einen Kompromiss eingeht und das Nichts akzeptiert, das von den Israelis angeboten wird. Ich tendiere zur Einstaatenlösung. Dazu stehe ich.

IP: Die Ein-Staaten-Lösung ist eine Lösung, die Israel nicht akzeptieren kann …

El-Houdaiby: Und eine Zwei-Staaten-Lösung ist eine Lösung, die die Palästinenser nicht akzeptieren können. Es gibt hier eine Reihe von fundamentalen Fragen, die sich nicht einfach ignorieren lassen: das Rückkehrrecht, die Ostjerusalem-Frage. Also lassen Sie uns warten. Auf eine neue Generation, falls nötig.

Das Interview führten Uta Kuhlmann-Awad, Joachim Staron und Sylke Tempel am Rande der 13. Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich Böll Stiftung ("Demokratie und Sicherheit im Nahen Osten")

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2013, Seite 20-24

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