Islam und Staatlichkeit
Zur Vereinbarkeit von Religion, Demokratie und Marktwirtschaft
In den Köpfen vieler westlicher Intellektueller wird der Islam selten mit Demokratie und Marktwirtschaft in Zusammenhang gebracht, vielmehr mit Bevormundung und Technologiefeindlichkeit. Islam, Demokratie und Marktwirtschaft schließen sich jedoch prinzipiell nicht aus, so der Bochumer Wirtschaftswissenschaftler, aber sie bedingen einander auch nicht.
Der Islam wird zunehmend als Bedrohung der westlichen Zivilisation empfunden. In der öffentlichen Diskussion mehren sich Zweifel an der Vereinbarkeit von Islam und westlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnungskonzepten, also vor allem Demokratie und Marktwirtschaft. Sie werden insbesondere durch folgende Beobachtungen genährt:
- Von wenigen Ausnahmen abgesehen, setzen die politischen Systeme islamischer Länder in der Gegenwart eine Tradition undemokratischer autoritärer Herrschaft fort.
- Die Länder der islamischen Welt sind überwiegend unterentwickelt und besitzen keine wettbewerbsfähigen Wirtschaftssysteme.
- Islamische Aktivisten lehnen westliche Ordnungen ab und fordern die Errichtung eines islamischen Staates, wobei sie sich auf die über 1300 Jahre zurückliegende Frühzeit des Islam sowie auf das göttliche Recht der Scharia berufen. Sie lehnen westlichen Säkularismus ab und betonen, dass der Islam Religion und Staat zugleich sei.
- Islamisten kritisieren westlichen Materialismus und zügellosen Kapitalismus. Sie betonen den Grundwert der Gerechtigkeit als primäre Leitschnur für die Gestaltung aller zwischenmenschlichen Beziehungen.
- Als „Prototyp“ eines islamischen Staates gilt die Islamische Republik Iran, in der ein islamischer Klerus politische Macht ausübt und die deshalb gern als „Gottesstaat“ bezeichnet wird.1
- In der Wirtschaft Irans dominieren in vielen Bereichen Staatsbetriebe, und die meisten Schlüsselbereiche unterliegen staatlicher Lenkung, so dass man das iranische Wirtschaftssystem nicht als Marktwirtschaft im liberalen Sinne bezeichnen kann.
In der Summe erscheint ein islamischer Staat als rückwärts gewandte autoritäre und antiwestliche Theokratie mit einer ineffizienten staatsinterventionistischen Ökonomie.
Wenngleich die angeführten Beobachtungen jeweils für sich zutreffend sind, führen sie in dieser Zusammenstellung zu einer einseitigen und irreführenden Sicht islamischer Ordnungskonzepte. Dies liegt zum einen an der Selektivität der Beobachtungen, die die umfangreichen Diskussionen islamischer Intellektueller über das Verhältnis von Islam, Demokratie und Marktwirtschaft ebenso ignorieren wie den historischen Kontext des politischen und ökonomischen Status quo. Zum andern wird das Beispiel Iran in unzulässiger Weise verallgemeinert: Das iranische Staatsmodell ist hinsichtlich der politischen Führungsrolle der islamischen Geistlichkeit ein schiitischer Sonderweg, der in einem deutlichen Gegensatz zur sunnitischen Staatslehre steht. Der Iran ist daher gerade kein typisches Beispiel für einen (sunnitisch) islamischen Staat.
Ob es heute real überhaupt ein typisches Beispiel gibt, ist zweifelhaft: Von den über 50 (sunnitischen) Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz berufen sich nur drei bei der Definition ihrer Staatsform explizit auf den Islam, nämlich die Islamische Republik Mauretanien, die Islamisch-Sozialistische Volksrepublik Libyen und die Islamische Republik Pakistan; in zwei weiteren Staaten spielt der Islam eine tragende politische Rolle, nämlich in der Republik Sudan und im Königreich Saudi-Arabien. Diese fünf Länder weisen politisch und wirtschaftlich kaum Gemeinsamkeiten auf; keines von ihnen kann als verallgemeinerungsfähiger „Prototyp“ eines islamischen Staates gelten. Die Frage der Vereinbarkeit von Islam, Demokratie und Marktwirtschaft muss daher auf theoretisch-konzeptioneller Grundlage diskutiert werden.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Der Demokratiebegriff ist vielschichtig.2 Islamische Kritiker verstehen Demokratie als ein System zur Ausübung von Macht auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen, das sie wegen des Fehlens einer verbindlichen Wertebasis und der Gefahr einer schrankenlosen Tyrannei der Mehrheit und Unterdrückung von Minderheiten ablehnen.3 Kritik an einer schrankenlosen Demokratie ist allerdings auch von Liberalen im Westen geübt worden, die ähnlich wie die islamischen Demokratiekritiker eine Begrenzung von Mehrheitsentscheidungen durch Vorkehrungen für einen Minderheitenschutz und eine Bindung der Machtausübung an ein durch den Herrscher nicht veränderbares Recht fordern. Für die Kritiker ist Demokratie nur akzeptabel, wenn sie in ein rechtsstaatliches System mit Freiheitsrechten für Individuen und Schutzrechten für Minderheiten eingebettet ist. Strukturell stimmen liberale und islamische Positionen in diesem Punkt überein. Unterschiede bestehen vor allem in den Annahmen über die Quellen des übergeordneten, die Herrschaftsgewalt bindenden Rechts.
Westliches Modell
Im westlichen Modell wird die Herrschaftsgewalt von einer gewählten Regierung ausgeübt, und die Gesetzgebung steht einem vom Volk gewählten Organ (Parlament) zu, das nach dem Ideal der Gewaltenteilung allgemein gültige Gesetze erlässt und damit in Ausübung der Volkssouveränität Recht schafft, an das auch die Regierung gebunden ist. Über die Grundlagen der normativen Orientierung dieses Rechts (z.B. Vernunft, Religion) gibt es unterschiedliche Ansichten.
Islamisches Modell
Islamische Staatsmodelle unterscheiden sich dadurch, dass die Herrschaftsgewalt nicht unbedingt von einer gewählten Regierung ausgeübt wird; auch eine Monarchie erscheint akzeptabel, wobei es unterschiedliche Methoden zur Bestimmung des Monarchen (Wahl, Abstammung) geben kann. Wichtig ist allerdings, dass einem Alleinherrscher (König, Sultan, Kalif) keine „übermenschlichen“ Eigenschaften zugesprochen werden: Er ist Mensch wie jeder andere – auch vor dem Recht, das z.B. keine Immunitätsregeln kennt. Dies schließt nicht aus, dass der Herrscher eines islamischen Staates (Monarch oder Regierung) religiöse Funktionen auszuüben hat (z.B. die Verteidigung des Glaubens).
Ein fundamentaler Unterschied wird bei der Frage nach der Gesetzgebungskompetenz sichtbar: Dem Islam ist die Vorstellung einer Volkssouveränität fremd; Recht kann nicht durch den Willen des Volkes geschaffen werden, sondern es ist den Menschen (in Koran und Sunna) von Gott offenbart worden. Daher kann es in einem islamischen Staat keinen autonomen Gesetzgeber geben. Primäre Aufgabe des islamischen Staates ist es, das göttliche Recht, die Scharia, anzuwenden. Nur in den von der Scharia nicht geregelten Bereichen kann der islamische Staat ein eigenes Recht entwickeln, dessen Kompatibilität mit der Scharia sicherzustellen ist.
Auf den ersten Blick spricht diese Position für eine Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass dem nicht so ist.
Mit dem Begriff „Scharia“ wird meist die Gesamtheit des islamischen Rechts bezeichnet, das einerseits in den primären Quellen des Islam (Koran und Sunna) enthalten ist und andererseits von islamischen Juristen unter Rückbezug auf diese Quellen und unter Beachtung bestimmter Methoden der Rechtsfindung entwickelt wurde. Die Verwendung nur eines Begriffs für diese beiden Art von Recht verdeckt einen wesentlichen Unterschied zwischen Regeln der primären Quellen (Scharia im engeren Sinne) und Regeln des daraus abgeleiteten kanonischen Rechts (fiqh): Während die primären Quellen göttliche Offenbarung sind und damit für alle Zeiten gelten und ihre konkrete Ge- und Verbote unmittelbar anzuwenden sind, ist fiqh ein von fehlbaren und unter konkreten raum-zeitlichen Umständen handelnden Menschen formuliertes Recht, das grundsätzlich einer Anpassung an gewandelte Umstände zugänglich sein muss und einer Ergänzung und Fortschreibung bedarf.
Nur etwa 10 Prozent der Regeln des islamischen Rechts sind dem Scharia-Kern zuzurechnen, während der Rest als fiqh zu klassifizieren ist. Außerdem ist zu beachten, dass sich die Ge- und Verbote der Scharia im ursprünglichen Sinne vor allem auf die Pflichten des Einzelnen gegenüber Gott beziehen und sich nur sehr wenige konkrete Handlungsanweisungen für die Beziehungen der Menschen untereinander finden (insbesondere Vorschriften zum Erbrecht und zur Bestrafung von Verbrechern); Koran und Sunna enthalten vor allem normative Orientierungen (Werte, Prinzipien), deren Anwendung mit den Umständen von Zeit und Raum variieren können.
Für die Gestaltung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen macht die ursprüngliche Scharia kaum bindende Vorgaben. Gemäß dem Grundsatz, dass alle Handlungen und Regelungen erlaubt sind, sofern sie nicht gegen ausdrückliche Anweisungen der Scharia verstoßen und grundlegenden Werten des Islam widersprechen, ergeben sich damit erhebliche Spielräume für das Design der politischen und wirtschaftlichen Ordnung eines islamischen Staates.
Diese Spielräume bedeuten allerdings keine Beliebigkeit: Konkrete Ordnungsentwürfe müssen auch den nicht determinierenden, aber inspirierenden Vorgaben der Scharia Rechnung tragen. Solche Vorgaben beziehen sich zum einen auf den Staatszweck und zum andern auf institutionelle Aspekte des politischen Systems. Beim Staatszweck wird immer wieder auf die Verwirklichung des Gemeinwohls und die Durchsetzung von islamischen Grundwerten verwiesen. Verwirklichung des Gemeinwohls bedeutet vor allem den Schutz der Religion, des Lebens, der Familie und des Eigentums, und bei den Grundwerten wird stets mit höchster Priorität die Gerechtigkeit genannt. Weitere Werte sind Gleichheit, Freiheit und Verantwortlichkeit, die institutionell in die in der Scharia erwähnte gegenseitige Beratung münden. Wie diese Beratung im Einzelnen ausgestaltet werden sollte (wer daran teilnimmt, wer Adressat und was der Gegenstand der Beratung ist, welche Bindungswirkungen Empfehlungen haben usw.) ist im islamischen Recht nicht festgelegt und Gegenstand aktueller Diskussionen.
Islam und Demokratie
Eine gewählte Regierung und ein unabhängiges, vom Volk gewähltes Parlament wären auch für einen islamischen Staat ein denkbares institutionelles Arrangement, das sich zwar hinsichtlich der Quellen des Rechts und der Legitimation und Begrenzung von Macht von westlichen Demokratien unterscheidet, aber nicht unbedingt hinsichtlich der institutionellen und prozeduralen Gestaltung des politischen Lebens. In diesem Sinne schließen sich Islam und Demokratie nicht aus. Allerdings kann man wohl nicht so weit gehen, dass sich Islam und Demokratie gegenseitig bedingen.
Zum einen schließt nach westlicher Vorstellung eine demokratische Verfassung Vorkehrungen zur Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative ein. Dies ist der islamischen Staatslehre weitgehend fremd, da es kein eigenes Legislativorgan gab. Die Rechtsentwicklung erfolgte entweder durch Setzungen des Herrschers oder durch Urteile von Richtern, die nur bedingt unabhängig waren, da sie von Herrschern ernannt wurden, allerdings nach ihrer Ernennung nicht wieder abberufen werden konnten.
Zum andern können neben der Demokratie auch verschiedene andere (heute existierende) Staatsformen, wie beispielsweise eine Monarchie, mit islamischen Grundsätzen vereinbar sein. Bemerkenswert ist allerdings, dass ausgerechnet die Staatsform nicht mit sunnitischem Staatsverständnis vereinbar ist, mit der man den Islam im Westen gern identifiziert, nämlich die Theokratie, sofern man darunter die Herrschaft einer Person von Gottes Gnaden oder eines Klerus versteht, der ein Interpretationsmonopol für religiös-politische Fragen beansprucht. Allen Menschen stehen grundsätzlich die gleichen Mittel zur Verfügung, um Gottes Offenbarung zu deuten; es gibt keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit für Einzelne oder Gruppen.
Im Gegensatz zu einer im Westen verbreiteten Meinung nimmt seit Jahren die Bedeutung islamischer Theologen und traditioneller Rechtsexperten für die Gestaltung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ordnungen islamischer Länder nicht zu, sondern ab. Dies liegt u.a. am rapiden Anstieg der Komplexität sozialer Phänomene, zu deren Verständnis die traditionellen islamischen Wissenschaften wenig beitragen können. Zunehmend werden Vorschläge für die Anwendung und Fortentwicklung des Rechts von Intellektuellen und Experten gemacht, die nicht primär in islamischem Recht, sondern z.B. in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ausgebildet wurden. Außerdem sind es auch nicht in erster Linie die traditionellen Rechtsexperten und Theologen, die als politische Aktivisten die Forderung nach einem islamischen Staat erheben, sondern Journalisten, Schriftsteller, Lehrer, Rechtsanwälte und Ingenieure. Ihr Anliegen ist es, die staatliche Gesetzgebung und die Ausübung der Regierungsgewalt unter das islamische Recht zu stellen, die Scharia im ursprünglichen Sinne (und nicht das später entwickelte fiqh) anzuwenden.
Dieses Anliegen weist zwar nicht normativ-legitimatorisch, wohl aber strukturell-funktional viele Gemeinsamkeiten mit den von westlichen Institutionen in Politikdialogen und bei der Konditionierung von Hilfsprogrammen erhobenen Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und verantwortlicher Regierungsführung auf. Mit einer von Klerikern geleiteten Theokratie bzw. einem Gottesstaat im mittelalterlich-europäischen Sinne hat es nichts zu tun.
Während eine offene bzw. programmatische Säkularisierung im Sinne einer strikten Trennung von Religion und Politik von Verfechtern einer islamischen Ordnung abgelehnt wird, findet zunehmend eine Art faktische Säkularisierung insofern statt, als immer mehr Bereiche des komplexer werdenden sozialen und wirtschaftlichen Lebens nicht mehr auf der Grundlage offenbarter Texte oder tradierten Rechts geregelt werden, sondern nach auf Vernunft beruhenden Funktionalitätskriterien. Die Verlagerung der „Zuständigkeit“ für die Gestaltung der Ordnung eines islamischen Staates von Experten für religiös-rechtliche Fragen hin zu Experten für säkular-funktionale Fragen kann als Tendenz in Richtung Laizismus interpretiert werden. An der Bedeutung der Scharia als letzter Prüfinstanz für Ordnungsentwürfe ändert sich damit jedoch nichts; diese Prüfung dient aber immer weniger dem Zweck, eine historische Kontinuität der Rechtsentwicklung zu sichern, sondern nur noch der Aufgabe, die Konsistenz von Ordnungsprinzipien (der Scharia und der „säkularen“ Teilordnungen) zu wahren. Konsistenz ist die Minimalanforderung an jede Weltanschauung, die beansprucht, auf alle Fragen des menschlichen Lebens eine Antwort geben zu können.
Marktwirtschaft und Islam
Dazu gehört auch die Gestaltung des Wirtschaftslebens. Koran und Sunna enthalten zu Wirtschaftsfragen nur wenig konkrete Aussagen; das umfangreiche Wirtschaftsrecht islamischer Staaten ist nicht der ursprünglichen Scharia, sondern dem später entwickelten Richterrecht (fiqh) zuzurechnen, dessen Anwendbarkeit und Relevanz unter gewandelten sozioökonomischen Bedingungen heute zunehmend in Frage gestellt wird.
Jeder Entwurf einer islamischen Wirtschaftsordnung hat zumindest drei Vorgaben zu beachten:
- das im Koran mehrfach ausgesprochene Verbot, „riba“ („Wucher“zinsen) zu nehmen,
- das im Koran allgemein angeführte Gebot, „zakat“ (soziale Abgaben) zu entrichten,
- das im Konsens akzeptierte Prinzip, Eigentum zu schützen (als Dimension des Gemeinwohls).
Privateigentum an Produktionsmitteln wird als konstitutives Element einer Marktwirtschaft angesehen. In dieser Hinsicht dürfte es zwischen einer islamischen Wirtschaftsordnung und einer Marktwirtschaft keinen grundlegenden Konflikt geben – selbst dann nicht, wenn vielfach muslimische Autoren die Sozialpflichtigkeit des Eigentums betonen, Privateigentum an Bodenschätzen (z.B. Öl, Wasser) ablehnen und dem Staat das Recht zugestehen, zur Korrektur von Marktversagen die Dispositionsfreiheit von Produktionsmitteleigentümern einzuschränken. Ob darüber hinaus staatliche Lenkungseingriffe zulässig oder wünschenswert sind, ist umstritten. Ein entsprechendes Ge- oder Verbot findet sich in der Scharia nicht, so dass diese Diskussion mit Vernunftargumenten, die vor allem auf die Wirkung von Staatseingriffen abstellen, geführt werden muss. Bei einer sehr ausgeprägten Einkommens- und Vermögensverteilung können Korrekturen durch umverteilende Eingriffe gerechtfertigt sein.
„Zakat“
„Zakat“ ist eine Abgabe, die für eine im Koran aufgeführte Liste von Zwecken zu verwenden ist, die man im weiteren Sinne als Unterstützung von Bedürftigen und als soziale Dienste bezeichnen kann. Die Höhe dieser Abgabe wurde vom Propheten auf ca. 2,5% des einen Freibetrag übersteigenden Nettovermögens und 5% (10%) der landwirtschaftlichen Erträge bei natürlicher (künstlicher) Bewässerung festgesetzt. Eine solche Abgabe stellt sicherlich keine Bedrohung einer marktwirtschaftlichen Ordnung dar.
„Riba“
Als Problem für eine funktionsfähige Marktwirtschaft könnte sich jedoch das „riba“-Verbot erweisen, das als Wucher- oder Zinsverbot Restriktionen für den Finanzsektor und die Kapitalmärkte impliziert. Der Zins ist in westlichen Marktwirtschaften ein wesentliches Steuerungselement, um Kapital in die produktivsten Verwendungen zu lenken. Es besteht zwischen islamischen Autoritäten keine Einigkeit darüber, ob mit durch den Koran verbotenen „riba“ nur Wucherzinsen (besonders bei Notkrediten) oder jegliche Zinsen bei Finanztransaktionen gemeint sind. Die für eine Marktwirtschaft problematischste Variante wäre ein Verbot jeglicher Zinsen, wie es z.B. von Verfechtern islamischer Banken gefordert wird. Diese leugnen allerdings weder die Produktivität von Kapital (in Verbindung mit unternehmerischer Initiative) noch die Bedeutung eines Kapitalmarkts für die Funktionsfähigkeit einer Marktwirtschaft. Daher schlagen sie zum einen zinslose Techniken vor, die aus konventionellen Kreditfinanzierungen Kauf- oder Mietgeschäfte machen. So wird aus einer Finanztransaktion ein Realgeschäft, bei dem kein Zins, sondern ein Aufschlag für eine Kaufpreisstundung oder Ratenzahlung verlangt wird.
Ökonomisch besteht zwischen Zins und Aufschlag kein nennenswerter Unterschied, juristisch dagegen sehr wohl. Auch im deutschen Recht gelten für Kreditverträge andere Vorschriften hinsichtlich der Haupt- und Nebenleistungen der Vertragsparteien, als für Kauf- oder Mietverträge. Zum andern wurden Modelle entwickelt, bei denen sich Banken an Investitionen von Unternehmen beteiligen und dafür im Erfolgsfall einen im voraus nur prozentual, nicht in der absoluten Höhe festgelegten Gewinnanteil erhalten; im Falle eines Misserfolgs tragen die Banken auch proportional zu ihrem Kapitalanteil einen Teil des Verlusts. Sparer erhalten bei islamischen Banken keinen Zins auf ihre Einlagen, sondern sind am Gewinn (oder Verlust) der Bank beteiligt.
Man kann darüber streiten, ob ein System mit zinslosen Finanztechniken einen vergleichbaren Effizienzgrad erreichen kann, wie ein auf Zinsen beruhendes System. Aber selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, muss man doch – nicht zuletzt angesichts der seit inzwischen rund 20 Jahren in zahlreichen Ländern der islamischen Welt profitabel arbeitenden islamischen Banken – zugestehen, dass auch ein zinsloses Bankensystem die grundlegenden Funktionalitäten, die für eine Marktwirtschaft unverzichtbar sind, bieten kann.
Festzuhalten ist, dass die Scharia zwar kein spezifisches Wirtschaftssystem vorschreibt, dass aber eine Marktwirtschaft mit einem zinslosen Finanzsektor, einem sozialen Sicherungssystem, staatlicher Korrektur von Marktversagen und gewissen Umverteilungseingriffen bei zu starker Einkommens- und Vermögenskonzentration eine zur Scharia kompatible Wirtschaftsordnung darstellen könnte.
Abbau von Konfliktpotenzial
Islam, Demokratie und Marktwirtschaft sind keine Gegensätze. Ihre grundlegenden Prinzipien sind miteinander vereinbar. Allerdings ist eine islamische Ordnung auch mit einem anderen politischen und wirtschaftlichen System vorstellbar. Zur Zeit wird weder die Demokratie noch die Marktwirtschaft von den Massen in der islamischen Welt positiv wahrgenommen. Die Verhinderung des Machtwechsels nach demokratischen Wahlen in Algerien, das als islamfeindlich und aggressiv wahrgenommene Auftreten der demokratischen Vereinigten Staaten und die Unmöglichkeit, durch Wahlen autoritäre, dem Westen genehme Regierungen abzulösen, haben bei islamischen Aktivisten die „säkulare“ Demokratie diskreditiert.
Auch Reformen zur Stärkung marktwirtschaftlicher Strukturen werden von Vielen als nicht positiv angesehen: Strukturanpassungsprogramme haben über Preissteigerungen, Einschränkungen öffentlicher Leistungen und Entlassungen bei Staatsbetrieben die Lebenslage breiter Bevölkerungsschichten verschlechtert, und die in Aussicht gestellte Belebung der Wirtschaftsaktivität ist nicht selten ausgeblieben oder hat sich auf etablierte Wirtschaftskreise konzentriert. Die Diagnose einer abstrakten Kompatibilität von Werten und Ordnungsentwürfen allein reicht nicht aus, um Konfliktpotenziale zwischen der islamischen Welt und dem Westen abzubauen. Man wird sich auch über politische Interessen und Machtpositionen unterhalten müssen.
Anmerkungen
1 Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von George Henderson, S. 32–38.
2 Vgl. hierzu insbesondere John L. Esposito, John O. Voll, Islam and Democracy. New York, Oxford 1996, sowie Erdmute Heller, und Hassouna Mosbahi (Hrsg.), Islam, Demokratie, Moderne – Aktuelle Antworten arabischer Denker, München 1998.
3 Vgl. auch Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik – Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999.
Internationale Politik 3, März 2002, S. 11 - 18.