Essay

01. Nov. 2010

Im Wohnzimmer durch die Welt

Keine Freude an ihrer Souveränität, kein Interesse an Außenpolitik. Die Deutschen möchten so bleiben, wie sie sind: klein und selbstbezogen

Zu den Pflichten der Bundeskanzlerin gehört es, Staats- und Regierungschefs anderer Staaten zu empfangen oder sie in ihrem jeweiligen Land zu besuchen. Solche Treffen gehören zur diplomatischen Routine. Wer miteinander redet, findet vielleicht Lösungen.

Da Angela Merkel ein demokratisches Land regiert, in dem obendrein den Medien eine große wirklichkeitserzeugende Aufgabe zukommt, nimmt die Kanzlerin, wie ihre Vorgänger, auf ihre Reisen in aller Regel eine ausgewählte Zahl von Journalistinnen und Journalisten mit. Das ist keine uneigennützige Geste, es geht nicht nur um Transparenz und die bestmögliche Informationsversorgung des Souveräns. Egal ob die mitreisenden Journalisten Positives oder Negatives zu vermelden haben – sie berichten in jedem Fall und verbreiten damit die Kunde vom unermüdlichen Einsatz unserer Bundeskanzlerin.

Wer aber denkt, in der Berichterstattung ginge es um die Außenpolitik Deutschlands, der täuscht sich. Ganz selten nur dürfen die mit der Außenpolitik betrauten Journalisten die Kanzlerin bei ihren immerhin außenpolitischen Unternehmungen begleiten. Es reist in aller Regel das für die Innenpolitik und nicht zuletzt das für die Kanzlerinnenpflege zuständige Personal mit. So fällt dann auch recht regelmäßig die Berichterstattung aus.

Weil es nun einmal nach Moskau, Paris, Washington, Peking oder Astana geht, informiert die Bundeskanzlerin bei den obligatorischen Treffen mit den Journalisten in knapp 10 000 Metern Höhe geduldig über die zu behandelnden politischen Fragen, und sie lässt sich auch danach befragen. Aber jeder weiß, dass diese Frage-Antwort-Spiele Höflichkeitsrituale sind. In Wahrheit geht es nur um eines: um Innenpolitik.

Nun wäre denkbar, dass vor solchen Reisen erörtert würde, welche Probleme und Chancen es im Verhältnis zu dem jeweils besuchten Staat gibt. Doch das wird nur pflichtschuldigst gestreift als leider unverzichtbare Übung, um das Vertrauenskapital zu erwerben, das es erlaubt, zum Eigentlichen zu kommen: zur geliebten Innenpolitik. Noch bevor die Bundeskanzlerin ihre Reise antritt, häufen sich scheinbesorgte Artikel, in denen heuchlerisch mitfühlend die rhetorische, weil längst positiv beantwortete Frage aufgeworfen wird, ob Angela Merkel mit der Reise, auf der sie gewiss wieder glänzen werde, nicht von ihrer  Misere zu Hause ablenken wolle.

Gegenstand und Zweck der Reise sind Akzidenzien, die man zwar nicht ganz übergehen kann, die aber nur mit dem Ziel in Kauf genommen werden, über das Eigentliche – die jeweiligen innen- und vor allem personalpolitischen Querelen – ratschen zu können. Die Reise ist ein Betriebsausflug, man kommt nie woanders an, man nimmt das Berliner Zimmer mit, das nicht zuletzt, aber keineswegs ausschließlich ein Tratsch- und Ratsch-Zimmer ist. Als etwa Außenminister Guido Westerwelle im März 2010 zu einer großen Lateinamerika-Reise aufbrach, interessierten sich die begleitenden Journalisten kaum für die Situation des Kontinents, dem das besondere Interesse des Außenministers galt. Es hätte viel über die einzelnen Länder, die sich im Aufbruch befinden, zu sagen und zu berichten gegeben. Doch wo auch immer der Minister landete, gingen die ihn begleitenden Journalisten mit Inbrunst vor allem der Frage nach, was denn der damalige Lebensgefährte (und heutige Ehemann) Westerwelles auf der Reise mache und ob seine Reisebegleitung nicht ein Fall von Vetternwirtschaft sei. Es war im Grunde ein erbärmliches, ein zutiefst provinzielles Schauspiel: Wo auch immer in der Welt wir sind, wir verlassen unsere Scholle nie. Die große weite Welt ist ein notwendiges Übel, aber ein Übel. Am liebsten wollen wir für uns und unter uns sein.

Wenn wir debattieren, dann möglichst über unsere inneren Angelegenheiten. Deutschlands Rolle, Deutschlands Verpflichtungen und Deutschlands Chancen in der Welt sind uns den Streit nicht wert. Nicht einmal 9/11 konnte uns dazu veranlassen, uns aus unserer splendid isolation zu befreien. Immerhin 20 Jahre nach der deutschen Vereinigung, die das Land in eine zuvor jahrzehntelang entbehrte Selbständigkeit entließ, ist von einer außenpolitischen Debatte, die den Namen verdiente, nichts zu erkennen. Wohl gibt ein ehemaliger Außenminister in regelmäßig erscheinenden Beiträgen die immer gleichen mahnenden Fleißarbeiten zum Besten; wohl versammeln sich ergraute Botschafter a.D. regelmäßig in esoterisch-zurückhaltenden Zirkeln; und wohl ist die Floskel „Deutschlands neue Rolle in der Welt“ längst zum Gemeingut des Leitartikelgewerbes geworden. Über wirklich große Weichenstellungen aber wird fast gar nicht gestritten. Außenpolitik ist nicht sexy, sie gilt als graues, emotionsfreies, langweiliges Diplomatengewerbe.

Was wollen wir in Afghanistan? Vor allem: raus

Beispiel 1. Zur eisernen Ration bundesdeutscher Kontinuitäten gehörte ein halbes Jahrhundert lang die von allen Regierungsparteien stets hochgehaltene Überzeugung, die Wehrpflicht sei unabdingbar. Es galt als ausgemacht, dass der „Bürger in Uniform“ eine wichtige Errungenschaft sei, um die Republik wirkungsvoll am Rückfall in die Barbarei zu hindern. Deutschlands Wehrpflichtarmee eingebettet in die Armada des westlichen Bündnissystems: Das schien eine gelungene Lehre aus Deutschlands irrlichternder und gefährlicher Geschichte aus Minderwertigkeitskomplex und Großmannssucht zu sein. Man musste dieses Wehrpflichtmantra nicht mögen – alles schien aber dafür zu sprechen, dass es ernst gemeint war und zur politischen DNA der Republik gehört.

Doch mit einem Schlag ist nun alles anders. Im Sturmschritt hat der alerte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der auf rätselhafte, jedenfalls nicht meritokratisch erklärbare Weise zum Liebling der Deutschen wurde, die Wehrpflicht auf den Müllhaufen der deutschen Geschichte geworfen. Nur einer hat, aus dem Off, gewichtig Einspruch eingelegt: Helmut Kohl, der ja immer ein flexibler Pragmatiker gewesen war, forderte in seiner Rede vom 1. Oktober 2010 unmissverständlich, darüber müsse gründlich – „und ich sage: gründlich!“ – debattiert werden. Damit blieb er alleine.

Mühelos gelang es dem Verteidigungsminister, seine eigene Partei, den sprunghaften Vorsitzenden Horst Seehofer eingeschlossen, von jahrzehntelang gehaltenen Positionen abzubringen. Während links der Mitte ein erleichtertes pazifistisches Räuspern zu hören war, verfiel man rechts der Mitte in stieres Schweigen. Keine Debatte, nirgends.

Damit nicht genug. Als sei Deutschland ein unbedeutendes Eiland im hintersten Winkel der Weltpolitik, wurde die schnelle und stumme Abkehr von der Wehrpflicht ausschließlich etatpolitisch begründet: Sie wäre on the long run einfach zu teuer, also weg damit. Wie ja überhaupt die größte Bundeswehrreform in der Geschichte der Bundesrepublik strikt innenpolitisch debattiert wird. Als gäbe es kein Bündnis, keine Verpflichtungen Deutschlands und keine Notwendigkeit, in Zusammenarbeit mit Deutschlands Partnern auf mögliche Bedrohungen und Gefahren von außen zu reagieren, nehmen wir die Reform der Bundeswehr als eine rein haushaltspolitische Maßnahme in Angriff. Und in den beiden großen Traditionsparteien der Republik – von den kleineren zu schweigen – gibt es nahezu niemanden, der aufschreit und beklagt, dass hier das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt wird. Es sieht ganz so aus, als interessiere kaum jemanden, welche Gewitterzonen in der Welt sich abzeichnen. Von Lust am sicherheitspolitischen Diskurs erst recht keine Spur.

Das gilt auch für Beispiel 2: Afghanistan. Hier wollen wir vor allem nur eines: raus. Die interventionistische Episode deutscher Außen- und Sicherheitspolitik scheint abgeschlossen zu sein. Wie auf ein unvorsichtiges Abenteuer, begangen im kurzen Taumel neuer Selbständigkeit, blicken wir darauf zurück. Und in der Rückschau erkennt man, dass der Anfang gar kein Aufbruch zu neuen Ufern war. Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 war ideologiepolitisch extrem teuer erkauft. Erst der Auschwitz-Vergleich, den Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping mehr oder minder ausdrücklich zogen, brachte Bürger und Öffentlichkeit dazu, das erste militärinterventionistische Unterfangen des nachnazistischen Deutschlands wenigstens hinzunehmen. Darunter war der Konsens nicht zu haben. Was im Umkehrschluss ja heißt, dass militärische Interventionen a) die absolute Ausnahme sein müssen, b) nur im alleräußersten Fall zulässig sind und c) ausschließlich moralisch zu rechtfertigen sind. Der Auschwitz-Bezug zeigte zudem schon früh die Selbstbezüglichkeit unserer außen- und sicherheitspolitischen Diskurse. Es geht nicht um diese oder jene – im Zweifelsfall auch unangenehmen – Pflichten, die man als Staat mit Interessen und bündnispolitischen Verpflichtungen nun einmal hat. Es geht um die Rettung unserer Seelen, um unser gutes Gewissen. Haben wir dieses, kann uns der Rest der Welt gestohlen bleiben.

Ein Fest des guten Willens und der heillosen Selbstüberschätzung

So konnte es nicht ausbleiben, dass unsere Interventionsduldsamkeit schon bald rapide abnahm. Es kam dem deutschen Michel, der sich moralpolitisch als Weltpolizist fühlt, sehr gelegen, dass den Irak-Krieg von 2003 ein Präsident George W. Bush verantwortete, der allen alt- und neudeutschen Klischees vom hässlichen und tumben Amerika auf so wunderbare Weise zu entsprechen schien. Da wollte man nicht mit von der Partie sein und war auf seine interventionspolitische Enthaltsamkeit stolz wie Bolle.

Denker wie Jürgen Habermas verstiegen sich zu der törichten Theorie, das fast gemeineuropäische Nein zum Irak-Krieg als die Geburtsstunde einer friedenspolitischen Supermacht, der EU, zu verklären, die mit der mauerbrechenden Kraft des Diskurses das Zeitalter von Mars endgültig beenden werde. Es war ein Fest des guten Willens und der heillosen Selbstüberschätzung Europas, dem ein von einem begeisterten Publikum beklatschter Denker eine Mission und Überlegenheit attestierte, für die es in der Geschichte des Kontinents keinerlei Anzeichen gab. Westeuropa hatte nach dem Zweiten Weltkrieg, von einer Schutzmacht eingehegt und in Stabilität gehalten, ein ungeheures Glück gehabt und ein Leben in Wohlstand und Frieden leben können. Es zeugt, vorsichtig ausgedrückt, von Weltfremdheit, daraus eine besondere Legitimation des alten Kontinents abzuleiten, dem Rest der Welt zivile Mores zu lehren.

Doch es ist zumindest zu Teilen diese Haltung, die das Verhältnis der Mehrheit der Deutschen – einschließlich ihrer meinungs- und politikbildenden Schichten – zur Afghanistan-Mission bestimmt. Auf heillose Weise wird ziviles und militärisches Engagement gegeneinander ausgespielt und, bestenfalls, die Illusion genährt, ein verstärktes polizeiliches und Aufbauengagement könne – auch ohne militärische Flankierung – dem Land wenigstens ein kleines Stück Stabilität und selbsttragende Kraft verleihen. Während in Großbritannien, wo die populäre Abneigung gegen die Verwicklung am Hindukusch ebenfalls groß ist, in Afghanistan gefallene Soldaten unter großer öffentlicher Anteilnahme geehrt und beerdigt werden, reagiert Deutschland verschämt und fast ganz ohne Anteilnahme auf den Tod von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Selbst wenn die Kanzlerin bei Trauerfeiern zugegen ist, fehlt ihnen das Offizielle, das Staatliche. Da der Tod jedes Soldaten sofort die Systemfrage des Abzugs aufwirft, versucht man, die Realität dieses Krieges möglichst wenig ins öffentliche Bewusstsein eindringen zu lassen. Wie überhaupt jede politische Debatte über die Ziele sowie die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes fast ganz unterbleibt.

Verteidigungspolitiker, die den Einsatz gut heißen, geben recht deutlich zu verstehen, dass sie diese Debatte für gefährlich halten. Als sei der Souverän ein nicht belastbares Mündel, versuchen sie die Realität dieses Krieges möglichst klein zu reden. Sie kennen nur den Weg der Überlistung des Souveräns.

Nicht, dass das in anderen Staaten nicht auch geschähe. Bei uns aber hat es System. Niemand glaubt, es könne erfolgversprechend sein, den in Deutschland mehrheitsfähigen unpolitischen Strukturpazifismus in Frage zu stellen. Außen- und Sicherheitspolitik von Staaten ist kein pädagogisches und auch nicht in erster Linie ein moralpolitisches Unternehmen. Staaten haben Interessen, und es ist die Pflicht ihrer Außenpolitiker, diese Interessen nüchtern zu vertreten. An dieses Kernthema jeder Außenpolitik hat man sich in Deutschland seit dem Ende der Naziherrschaft nie wieder ernsthaft herangetraut. Das wirkt zwar auf den ersten Blick so, als habe ein schuldbeladenes Land damit die richtige Konsequenz aus einer Politik brutalen Interessenverfolgs gezogen. Tatsächlich aber war es keine moralisch anspruchsvolle Entscheidung, sondern ein Ausweichen vor der Außenpolitik überhaupt. In den ersten Jahrzehnten war diese alleiniges, abgeschirmtes Privileg einer Kaste von Fachleuten. In durchaus obrigkeitsstaatlicher Tradition ließ man sich unter den Außenministern Konrad Adenauer, Heinrich von Brentano und Gerhard Schröder gar nicht erst in die Karten gucken. Und es gab ja auch gute Gründe, die kühne Annäherung an Frankreich oder das Verhältnis zum Staat Israel am deutschen Volk vorbei zu schmuggeln: Der Nachkriegspaternalismus der bundesdeutschen Politik war die verständliche und richtige Antwort auf das vorhergehende Versagen eben nicht nur der Eliten, sondern fast des gesamten Volkes.

Doch dabei blieb es auf Dauer nicht. Peu à peu kehrte die Bundesrepublik in das zurück, was man den „Kreis der Nationen“ nennt, und die Republik gewann an Konturen und Stabilität. Da wäre es womöglich an der Zeit gewesen, auch außenpolitisch mehr Demokratie zu wagen, das heißt: den Wählern nicht länger zu verheimlichen, dass Außenpolitik auch ein Interessengeschäft ist. Das wurde sie in den Jahren der Entspannungspolitik zwar auch, aber möglich war das nur, weil diese weltmoralisch so wuchtig überhöht wurde, dass man den Interessenkern gar nicht sah, der vom moralischen Friedensdiskurs ummantelt wurde. Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Willy Brandts und Egon Bahrs von einem Teil des politischen Spektrums aggressiv abgelehnte Entspannungspolitik bei dem anderen Teil des politischen Spektrums nicht deswegen so überaus populär wurde, weil sie so kühn, so futuristisch gewesen wäre und weil sie so entschlossen die Brücken zurück zum deutschen Militarismus samt seiner antislawischen Imprägnierung abgebrochen hätte. Die Entspannungspolitik wurde auch deshalb so populär, weil sie dem heißen Wunsch der Mehrheit entsprach, aus den Händeln der Welt und in diesem Fall besonders aus der Epochenkonfrontation zwischen offener Gesellschaft und Totalitarismus herausgehalten zu werden. Die Planer der Entspannungspolitik mögen so mutig und vorausschauend gewesen sein, wie Egon Bahr im Nachhinein behauptet – dem Milieu, das diese Politik unterstützte, ging es mehrheitlich um etwas anderes: um die Entlassung aus der Blockkonfrontation, um ein Stück Neutralismus und um Distanz zur bisherigen Schutzmacht USA, die nach einem kurzen Frühling der Dankbarkeit und der nachahmenden Emphase wieder als fremd und andersartig empfunden wurde. Man wollte der Blockkonfrontation, als ginge sie einen nichts an, ausweichen: trautes Heim, Glück allein.

Netzwerken bis zur Unkenntlichkeit

Mit der langen außenpolitischen Ära Genscher begann die bis heute andauernde Phase des Netzwerkens. Was Hans-Dietrich Genscher zu sinnesverwirrender Perfektion trieb, ist seitdem mehr oder minder Standard für jeden Außenminister der Bundesrepublik: die Kunst, öffentlich mit sehr vielen Worten buchstäblich nichts zu sagen. Das sah lange Zeit wie die Eigenart dieses einen Außenministers aus, dem die Kunst der plastischen Sprache nicht gegeben war und der ja auch in anderen politischen Funktionen ein Meister des Nebels und der aussagefreien Rede gewesen war. Doch es war mehr. Mit der Autorität des Amtes und der Wucht seiner damals stattlichen Figur machte der Außenminister Rede um Rede, Interview um Interview, Statement um Statement unmissverständlich klar, dass er über etwas sprach, dessen eigentlicher Kern den Souverän nichts angeht. Der Minister schirmte redend seinen Gegenstand ab, er duldete mit immer gleichbleibender Gelassenheit, aber durchaus gnadenlos keine Einmischung des öffentlichen Interesses. So bekam die Außenpolitik wieder ihre paternalistische Note: Außenpolitik ist das, was Herr Genscher macht, punktum. Und es ist etwas, bei dem Hans-Dietrich Genscher stets das Richtige, Notwendige, Angemessene, Alternativlose und mit allen seinen Gesprächspartnern Abgestimmte macht – was immer es auch sei. Zugespitzt gesagt: Außenpolitik war, was den Bürger nichts anging.

Nichts gegen die Macht des Wortes und die brückenbauende Kunst der Rede. Sie sind ohne Zweifel das Königsmedium gelungener Politik. Es schadet daher nicht, wenn deutsche Außenpolitik vor allem darin besteht, mit allen Staaten stets im Gespräch zu bleiben. Außenpolitik ist aber mehr. Es ist bezeichnend, dass Geopolitik zwar weltweit eine Realität ist, in Deutschland aber schon das Wort unter Tabu steht. Da deutsche Geopolitik einmal furchtbar ausgefallen war, ist das verständlich. Und doch ist es unpolitisch, denn die Geopolitik pausiert nicht, weil wir Deutsche nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Wie es auf Dauer auch nichts nützt, Interessen aus der Außenpolitik heraushalten zu wollen. Für Helmut Kohl war es eisern befolgte Leitlinie gewesen, deutsche Interessen immer derart konsequent in transatlantische und vor allem europäische Interessengeflechte zu verpacken, dass das nationale Interesse am Ende gar nicht mehr erkennbar (und manchmal wohl auch gar nicht mehr vorhanden) war.

Davon ging ohne Zweifel eine große vertrauenstiftende Kraft aus. Auf Dauer aber kann es nicht gut gehen, wenn ein Staat seine Interessen herunterspielt und sich als wandelnder Vermittlungsausschuss gibt (worin übrigens auch ein gutes Stück Anmaßung steckt). Wie tief die Furcht vor interessengeleiteter Außenpolitik sitzt, war im Frühjahr 2010 zu beobachten, als die Staaten Europas darüber debattierten, ob und unter welchen Konditionen dem vor der Pleite stehenden Griechenland geholfen werden könne und solle. Als Bundeskanzlerin Merkel skeptisch blieb und darauf bestand, dass die Hilfe an klare Konditionen gebunden sein müsse, brachte ihr das in anderen europäischen Staaten umgehend den Vorwurf ein, Deutschland verlasse den Weg der gemeinsamen Politik und werde auf einmal national-egoistisch. Dass man in Italien oder Frankreich so argumentierte, ist aus der Interessenlage der beiden Staaten heraus gut zu verstehen. Schwerer zu begreifen und eigentlich unerträglich ist jedoch, dass diese durchsichtige Kritik auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel und zur Waffe im innenpolitischen Streit wurde. Deutsche Interessen klar und schnörkellos vertreten: Das gilt als unzulässig und gefährlich. Wir wollen klein bleiben.

Freundliche Menschen, nicht für die große, weite Welt gemacht

Allein deswegen, weil uns die Furcht noch immer in den Knochen sitzt, Größe könne barbarische Dimensionen annehmen? Mag sein. Doch die Abneigung gegen selbstbewusstes Interesse an der Welt und den Verfolg eigener Interessen sitzt tiefer und reicht historisch weit hinter den Nationalsozialismus zurück. Als Madame de Staël zu Anfang des 19. Jahrhunderts Deutschland bereiste, fand sie in den verschiedenen Kleinstaaten freundliche, aber eher weltfremde Menschen vor, die sie in ihrem Reisebuch „De l’Allemagne“ (1813) mit Verwunderung und Zuneigung, zuweilen auch mit einer Prise Spott beschrieb. Diese introvertierten, ganz dem häuslichen Leben verpflichteten Personen waren offensichtlich nicht für die große, weite Welt und das helle Parkett großer Öffentlichkeiten gemacht. Aus einer alten, aber auch sehr schwachen Reichstradition kommend, hatten sie mehr als ein Faible für das Kleine. Die Nation kam daher spät zustande, gewissermaßen erst, als es gar nicht mehr anders ging: Als in der Mitte des Kontinents mehr als ein Flickenteppich gefragt war.

Als Deutschland unter preußischer Führung geeint war, war Kaiser Wilhelm I. in der Thronrede bei der Reichstagseröffnung 1871 sichtlich bemüht, dem Land und der Welt klar zu machen, dass es kein Staat sein wolle, der über sich selbst hinausgreift: „Das neue Deutschland wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewusst genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als ein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenes Erbteil zu bewahren.“

Dass sich Deutschland ausschließlich mit sich selbst beschäftigen wolle – das war kein Lippenbekenntnis des Kaisers, es war der Wunsch Bismarcks ebenso wie der Mehrheit der Deutschen, die lange Zeit kein Interesse an Kolonialpolitik entwickelten. Die Wendung nach außen, die Entscheidung für das, was später „Weltpolitik“ genannt wurde, war gerade wegen dieses Hangs zur Selbsteinschließung ein Kraftakt, dem aller dann üblichen Kraftmeierei zum Trotz das Selbstverständliche und das Selbstbewusste fehlten.

Immer war äußerste Mühe im Spiel, immer griff man gegen die eigene Befindlichkeit nach außen. Das klang, in der ersten Reichstagsrede des gerade ernannten Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Bernhard von Bülow, im Dezember 1897 in einer berühmt gewordenen Wendung dann so: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber. Mit einem Worte: Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Als seien das Interesse für die Welt und der Wunsch, jenseits der eigenen Grenzen politisch zu agieren, eigentlich etwas Unanständiges, wurde es schnell zum Krampf, wenn sich Deutschland daran machte, seine Selbstbezüglichkeit abzulegen. Der Blick in die Welt hatte nichts Natürliches, nie ergab er sich aus dem normalen Lauf der Dinge.

Das hat sich bis heute wohl nicht geändert. Und es führte – nach dem Debakel der Naziherrschaft – zu einer seltsamen außenpolitischen Interessenlosigkeit. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat eine lang andauernde europäische Anomalie ihr Ende gefunden. Mittel- und Osteuropa gehören wieder dazu. Doch das deutsche Interesse an der oft rasanten, oft beeindruckenden, manchmal auch bedenklichen Entwicklung dieser Staaten bleibt schwach entwickelt. Deutschland lebt, nun vereint, weiter wie vorher: mit sich selbst beschäftigt und sich in selbstverschuldeter außenpolitischer Unmündigkeit haltend. Es fehlt die Freude an der Welthaltigkeit. Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Der stärkste Staat Europas kann nicht so tun, als genüge er sich. Auch ein freundliches Vakuum bleibt ein Vakuum.

THOMAS SCHMID ist Herausgeber der Welt-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 118-125

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