Im jähen Vakuum der Macht
Die Irak-Wahlen waren ein Erfolg. Aber wie damit ein Staat zu machen ist, weiß niemand
Die Bilder glücklicher Iraker mit violett markiertem Finger täuschten darüber hinweg, dass sich die irakischen Verhältnisse nicht allein deshalb ändern, weil es möglich war, sie für einen Tag auszuhebeln. Ungeübt in Demokratie, versuchen nun Stämme, Clans, Ethnien und religiöse Gruppen, miteinander Staat zu machen. Und die Verlierer ermorden Friseure.
Am Tag zwei nach den Wahlen im Irak am 30. Januar 2005, die weltweit und zutreffend als erster großer Erfolg der demokratischen Nachkriegsordnung gefeiert wurden, stellte Ismail Abdullah ein Schild vor seinen kleinen Friseurladen in Bagdads Stadtteil Hay al-Aalam: „Hier keine Entfernung der Gesichtshaare!“ Denn die traditionelle Methode, mit gezwirbelten Nylonfäden die feinen Barthaare am oberen Wangenbogen zu epilieren, ist für Abdullah und hunderte andere Friseure in weiten Teilen Bagdads lebensgefährlich geworden. Die Dschihadis seien gekommen, erzählt er in einem unbeobachteten Moment, und hätten ihn gewarnt: Epilation sei unislamisch. Fahre er damit fort, sei ihm der gewaltsame Tod gewiss. Der gleiche, der im nahe liegenden Stadtteil Dora allein im Januar fünf Friseure traf, weil sie ihren Kunden angeblich „westliche“ Haarschnitte verpasst oder Bärte gestutzt hatten.1 Ob die neuen Regeln der selbsternannten Hüter des Glaubens auch fürs Rasieren generell gälten, wusste Ismail Abdullah nicht. „Aber wenn die das verlangen, höre ich auch mit dem Rasieren auf. Oder schließe“, fügte er halb ängstlich, halb resigniert hinzu.
Die Bilder glücklicher Iraker mit violett markiertem Finger täuschten leicht darüber hinweg, dass sich die irakischen Verhältnisse nicht deswegen ändern, weil es möglich war, sie für einen Tag auszuhebeln. Gewiss: Die Wahlen, ihr schieres Gelingen, mit lediglich acht Selbstmordanschlägen in Bagdad und ungefähr 40 Toten2 im ganzen Land, bedeuten den wichtigsten Erfolg der Nach-Saddam-Ära. 8,45 Millionen Iraker, knapp 60 Prozent, haben sich an ihnen beteiligt, und auf den Straßen Bagdads waren junge Frauen, alte Frauen, Familien zu sehen, die sonst nur noch selten wagen, ihr Haus zu verlassen. Aber um diese Atmosphäre eines künstlichen Raumes zu schaffen, waren 300 000 Polizisten und andere Sicherheitskräfte nötig, die Sperrung aller Straßen und gestaffelte Betonbarrikaden vor den Wahllokalen.
Eigentlich haben die Aufständischen an diesem Tag verloren, denn sie hatten Blutbäder angekündigt und das ganze Land in Angst versetzt. Aber sie haben es nicht als Niederlage betrachtet. Sondern zwei Tage später ihre Anschläge mit voller Wucht wieder aufgenommen, Selbstmordattentate auf Polizisten, ein Massaker in einer Bäckerei verübt, Nationalgardisten hingerichtet. Seien es die täglich im Schnitt zehn bis 20 Toten, sei es die sich metastasenartig ausbreitende Einschüchterung und Angst in den Einflussgebieten der sunnitischen Aufständischen, sei es die sich weiterhin verschlechternde Versorgungslage, was Energie, Wasser, Benzin betrifft: Der Enthusiasmus des Wahltages war zwar keine Erfindung der Medien wie der allgemeine Jubel nach Saddams Festnahme, aber er bedeutet auch keinen Durchbruch in Richtung einer friedlichen Machtverteilung. Nur, weil die Wahlen im Irak so aussehen wie andernorts, heißt das nicht, dass auch der weitere Verlauf der Machtbildung in geordneten Bahnen verläuft. Demokratisches Aufbegehren wird gemeinhin sichtbar, wenn sich Bewegungen gebildet haben, die organisiert und einig genug sind, eine autoritäre Macht herauszufordern.
Doch die irakischen Wahlen fanden in einer künstlich geschaffenen Atmosphäre statt. Ihre Gewinner sind konfessionelle oder ethnische Zweckbündnisse. Und weder ist der Irak unter Kontrolle einer Ordnungsmacht, noch ist überhaupt klar, inwieweit er als geeinter Staat überstehen wird, wenn seine Bewohner das Recht haben, über ihren politischen Rahmen selbst zu befinden. Dennoch haben die Wahlen Entscheidendes gezeigt: Ihr Stattfinden hat in zwei Dritteln des Landes zum ersten Mal jenen Macht und Stimme gegeben, die relativ friedlich und frei diesen Weg nutzen wollten und zuvor keine Möglichkeit dazu hatten. Von den 111 zur Wahl stehenden Listenverbindungen für die 275 Sitze des neuen Parlaments hat die vor allem aus den großen schiitischen Gruppierungen bestehende „Vereinigte Irakische Allianz“ (VIA), mit 140 Sitzen knapp mehr als die Hälfte für sich verbuchen können3 – was am Bevölkerungsanteil der Schiiten, aber vor allem daran lag, dass sich ihre Kandidaten auf die Unterstützung des einflussreichsten Großayatollahs, Ali Sistani, berufen konnten, dessen Büro in Nadschaf dem zumindest nicht widersprach. An zweiter Stelle rangiert die „Kurdische Allianz“ mit 75 Sitzen4, was weit mehr ist, als dem kurdischen Bevölkerungsanteil entspricht. Das lag daran, dass in den kurdischen Provinzen die Wahlbeteiligung rund 20 Prozent höher war als im Landesdurchschnitt. Der momentane Premier Eyad Allawi, ein säkularer Schiit, der einerseits das Manko hat, Regierungschef von Washingtons Gnaden zu sein und andererseits „nicht mit der Brutalität, aber mit der Härte des alten Regimes“5 die Ordnung im Land wieder herzustellen versprach, kam mit 40 Sitzen6 auf Platz drei. Alle anderen Listen blieben weit abgeschlagen, und selbst der noch vor Monaten als Präsident gehandelte sunnitische Exilpolitiker Adnan Pachachi schaffte mit seiner „Nationalen Demokratischen Allianz“ gerade mal seinen eigenen Einzug ins Parlament.
Gewonnen haben die Schiiten und Kurden, zusammen halten sie jene Zweidrittelmehrheit, die zur Regierungsbildung vereinbart worden ist – sofern sie sich auf eine gemeinsame Regierung einigen können. Eine weit gefährlichere potenzielle Zeitbombe dieser Wahl liegt darin, dass die ca. 20 Prozent Sunniten des Irak, seit Jahrhunderten die Herrscher, die technisch-wirtschaftliche Elite des Landes und heute die Basis des Aufstands, diese Wahlen nicht nur verloren, sondern sich ihnen verweigert haben: In Mosul, Samarra, Ramadi, den sunnitischen Vierteln Bagdads war es kaum möglich zu wählen, weil Aufständische die Wahllokale stürmten, weil Wahllokale gar nicht erst öffneten, weil viele Angst hatten, beim Wählen beobachtet und hinterher umgebracht zu werden. So geschehen in Bagdads Viertel Dora Tage nach den Wahlen. Vielerorts lag die Wahlbeteiligung unter zehn Prozent. In Saddams Heimatprovinz um Tikrit siegten die demographisch völlig unterlegenen Schiiten.7
Was die künftige Haltung der Sunniten insgesamt gegenüber dem Kampf sunnitischer Aufständischer gegen die US-Truppen, aber auch die irakische Polizei, Nationalgarde und sonstige Staatsinstitutionen betrifft, ergeben sich aus diesen Wahlen zwei gegenläufige Konsequenzen: Einerseits legitimiert der Wahlverlauf friedliche Wege und die neue Regierung. Andererseits fühlen sich die Sunniten durch den Ausschluss von den Wahlen (sei es freiwillig durch Boykott oder aus Angst vor Vergeltung) als Opfer der neuen Macht. Insofern wird der Aufstand an Wucht nicht nachlassen, während gleichzeitig gemäßigte Sunniten jetzt schon versuchen, nachträglich in den politischen Prozess eingebunden zu werden. Wie sich das Kräfteverhältnis innerhalb der sunnitischen Bevölkerung entwickelt, wird auch stark davon abhängen, inwieweit die alte Elite tatsächlich eingebunden wird oder nicht.
Dort, wo dieser Prozess schon in den vergangenen anderthalb Jahren sichtbar werden konnte, in Stadtverwaltungen, Universitäten und Ministerien, gibt es wenig Anlass zu Hoffnung: Wer immer eine Institution besetzt, bringt seine Landsleute, seine Glaubensgenossen, seinen Stamm, seine Familie unter. Sei es das „kurdisierte“ Außenministerium, sei es die von schiitischen Exilirakern übernommene Mustansiriya-Universität in Bagdad, an der allein bis Mitte 2004 ein halbes Dutzend sunnitischer Professoren ermordet wurden, sei es die Regionalverwaltung von Nadschaf, wo sich Schiiten über die Bevorzugung anderer Schiiten beschweren – überall wiederholt sich das alte Muster irakischer Politik, den Staat und alle Institutionen als Beute der herrschenden Gruppe zu betrachten.
Aber was wollen die Sieger überhaupt? Zwar bilden Kurden und VIA die einzige handlungsfähige Zweidrittelmehrheit, die zur Präsidentenkür notwendig ist. Doch jenseits ihrer Handlungsfähigkeit und ihrer Abneigung gegen Saddams Loyalisten haben beide nur wenig gemein: Die VIA, die ihren Sieg dem mutmaßlichen Segen des 74-jährigen Großayatollah Sistani verdankt, der sich selbst nicht äußert und weder selbst zur Wahl stand noch – als Iraner – überhaupt mitwählen durfte, will die Glaubensloyalität ihrer Wähler in politische Macht ummünzen, während die Kurden weitgehend säkular und im Übrigen Sunniten sind. Kurden wollen eine extrem weitreichende Autonomie, Schiiten wollen den ganzen Staat. Kurden betrachten die USA als ihre besten Verbündeten, die Schiiten fordern ihren zwar nicht sofortigen, aber baldestmöglichen Abzug.
Wenn es um die Agenda geht, haben beide völlig unterschiedliche Ziele. Die Kurden fahren zweigleisig: Sie bereiten eine Form der Autonomie vor mit eigenem Parlament, eigener Armee,8 schwer gesicherten Grenzen, von der es bis zum eigenen Staat nur noch wenige Schritte sind. In einer Umfrage 2004 sprachen sich 1,7 Millionen, rund 45 Prozent der irakischen Kurden, für eine völlige Souveränität aus.9 Gleichzeitig betonen sie, im Irak verbleiben zu wollen und sichern sich in Bagdad ein größtmögliches Mitspracherecht. Denn außer um die Gebiete ihrer seit 1992 bestehenden Autonomiezone erheben sie Anspruch auf Kirkuk – jene multiethnische Stadt südlich der alten Demarkationslinie, die von Kurden, Arabern, Turkmenen und assyrischen Christen bewohnt wird, wobei letztere sich dadurch auszeichnen, dass sie als einzige Gruppe nicht behaupten, die Mehrheit der Bewohner Kirkuks zu stellen. Kirkuk hat alle Chancen, zum einem mesopotamischen Jerusalem zu werden: Kurden und Turkmenen bezeichnen es als ihre „wahre Hauptstadt“, während im restlichen Irak niemand bereit ist, eine Abspaltung Kirkuks hinzunehmen, denn rund um die Stadt liegen einige der größten Ölfördergebiete des Landes. Ein souveränes Kurdistan wäre wirtschaftlich aussichtslos ohne Kirkuks Öl. Bei den Verhandlungen zum „Transitional Administration Law“ (TAL), das der scheidende US-Statthalter Paul Bremer hinterließ, setzten die Kurden Artikel 59 durch,10 demnach sich die irakische Übergangsregierung verpflichte, „Maßnahmen zu ergreifen, die Ungerechtigkeit aufzuheben, die das vorherige Regime durch seine Praxis der demographischen Veränderungen bestimmter Regionen, einschließlich Kirkuk, verursacht habe“. Saddam hatte über Jahre kurdische Familien, deren Männer nicht in die Baath-Partei eintreten wollten, ins Exil nach Norden gezwungen und im Austausch Sunniten angesiedelt.
Wer darf nun bleiben, wer muss gehen? In Flüchtlingslagern nördlich von Bagdad sammeln sich mittlerweile vertriebene sunnitische Familien aus Kirkuk, von denen viele beteuern, schon seit Generationen dort gelebt zu haben. Für die Wahlen setzten die Kurden die Ausnahmegenehmigung durch, dass noch nicht zurückgekehrte kurdische Flüchtlinge wiederum auch in anderen Orten für Kirkuk mitstimmen durften. Und obwohl sunnitische Gruppen ihren ansonsten einhelligen Wahlboykott für Kirkuk extra aufhoben, verbuchten die Kurden schließlich 59 Prozent der Stimmen für sich. Woraufhin Araber und Turkmenen ihnen Wahlbetrug vorwarfen. Während Kurden in Korsos durch die Stadt rasten und Freudenschüsse abgaben, kündigte Scheich Abdelrahman Munschid Asi, Führer einer arabischen Gruppierung, an, „dies wird uns in einen Bürgerkrieg führen“ und rief – ungewöhnlich für einen sunnitischen Führer – die US-Truppen um Hilfe.11
Die schiitische Führung der VIA, die sich bislang einer kurdischen Übernahme Kirkuks vehement widersetzt hat, will an der Einheit des Landes festhalten – eines Landes allerdings, das weit stärker islamischen Gesetzen und Traditionen unterworfen sein soll, als es unter Saddam war. Je nachdem, wem man zuhört, soll dies eine Regierung zwar treu muslimischer, aber nicht klerikaler Politiker sein – oder doch eine Theokratie. Anfang Februar verbreiteten Sprecher der Großayatollahs Fayad und Sistani, dass der Islam „die einzige“ Grundlage aller künftigen Gesetzgebung zu sein habe, und nicht „eine“, wie die bisherige Kompromissformel lautete;12 woraufhin Sayyid Hamid al-Chaffaf, ein anderer Sprecher Sistanis, wieder das Gegenteil verkündete: Mitnichten sei geplant, die Trennung von Staat und Glauben aufzuheben. Sistani selbst äußerte sich nicht, da er sich nie direkt äußert. Was an der traditionellen, von ihm vertretenen Rolle schiitischer Gelehrter liegen mag, die eher als politische Schiedsrichter, denn als Politiker agieren wollen.13 Aber auch, was es bedeutet, den Islam als eine Quelle der Gesetzgebung zu erklären, bleibt vage. Selbst der lange Zeit im britischen Exil lebende derzeitige Vizeaußenminister Hamid al-Beyati hat bereits angekündigt, dass etwa das Erbrecht geändert werden müsse: Laut islamischer Überlieferung erben Frauen nur die Hälfte, das müsse in der neuen Verfassung berücksichtigt werden.14 Dass im Übrigen auch eine Regierung aus Nichtgeistlichen eine immens rigide Politik betreiben kann, zeigt Saudi-Arabien.
Einerseits wird oft auf die fundamentalen Unterschiede der irakischen und der iranischen Schiiten verwiesen, was im Fall der jahrzehntelangen Abneigung zwischen Chomeini und Sistani auch zutrifft. Aber wer prognostiziert, dass die Iraker das „iranische Modell“ nicht übernehmen würden, übersieht, dass Großayatollah Ruhollah Chomeinis Modell von der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ dem iranischen Klerus seinerzeit so fern war wie dem irakischen. Es war Chomeinis Erfindung, die mit der jahrhundertelangen Tradition politischer Enthaltsamkeit brach und für die selbst im Kreise der iranischen Großayatollahs nur einer votierte: Ali Montazeri, der heute Chomeinis Erben für ihre Machtversessenheit und Korruption geißelt. Auch Chomeini erging sich 1979 in rosigen Ankündigungen, Freiheit, Demokratie und keinen rigiden Gottesstaat einführen zu wollen. Was folgte, war seine totale Machtübernahme und das Ende Zehntausender echter oder vermeintlicher Oppositioneller vor den Erschießungspelotons. Entworfen hat Chomeini sein Programm im Exil in Nadschaf, in fußläufiger Nachbarschaft zu Sistani.
Die Kurden, die zuletzt weniger mit der Islamisierung ihrer Bevölkerung als mit dem Kampf gegen radikale Islamisten beschäftigt waren, und die VIA haben außer der Regierungsbildung noch einen weit größeren Auftrag: sich auf eine neue Verfassung zu einigen. Die soll, so der laut TAL festgelegte Fahrplan, am 15. Oktober 2005 zur Volksabstimmung gestellt werden, zwei Monate später sollen abermals Wahlen stattfinden.
Doch die Frage ist, ob der Streit um die Verfassung, die eigentlich ja als stabilisierendes Element kommenden Wahlen vorangestellt werden soll, nicht an sich destabilisierend und ergebnislos sein wird. Um alle Gruppen an den Verhandlungstisch zu bringen, haben sich die bisherigen Verhandlungspartner anfänglich auf Druck der Kurden auf ein Vetorecht geeinigt: Der Einspruch dreier Provinzen gemeinsam genügt, jeden Verfassungsentwurf zu blockieren. Womit die Kurden, aber auch die Sunniten die Verabschiedung jeder Verfassung verhindern können, die nicht in ihrem Sinne ausfällt.
Was alle Baupläne für die politische Zukunft des Irak immer wieder als Illusion entlarvt hat, ist die Ungewissheit, auf welchem Grund überhaupt gebaut wird: Wo stehen die Iraker? Inwieweit existiert in diesem Land, in dem über Jahrzehnte jedes Gerücht glaubwürdiger war als die gleichgeschaltete Presse, überhaupt eine gemeinsame Wahrnehmung der Wirklichkeit als Grundlage politischen Handelns? Gerüchte, groteske Verschwörungstheorien eines zionistischen Freimaurerkomplotts und die Direktiven von Stammesführern und Geistlichkeit sind weit mächtiger als jeder rationale Diskurs um die Möglichkeiten und Kompromisse für einen Regierungsaufbau.
Der völlige Kollaps einer innerlich ausgehöhlten Zentralmacht, die mit den Mitteln der Angst und Abhängigkeit geherrscht hatte und nach drei Wochen Krieg in sich zusammenbrach, hat ein gigantisches Vakuum hinterlassen, das noch tiefer reicht als etwa das durch die Desintegration Ex-Jugoslawiens verursachte.
Es gibt keine demokratische Tradition im Irak, aber vor allem gibt es nicht einmal eine längere Nationalgeschichte, die Gewähr bieten würde gegen den Zerfall. Der Irak ist die meiste Zeit seiner 84-jährigen Geschichte ein Kunstprodukt gewesen, zusammengehalten entweder von äußeren Kräften wie seinem Schöpfer Großbritannien, oder von wechselnden Diktaturen. Dazu kommt, dass die US-Invasion im Irak einen kompletten Macht- und Elitenwechsel zur Folge gehabt hat – der angesichts der fortschreitenden Unregierbarkeit des Landes nicht wirkt, als sei er beabsichtigt gewesen. Tatsächlich hat vor allem das State Department bis in den letzten Wochen vor dem Krieg auf einen Putsch innerhalb der alten sunnitischen Elite gesetzt, um zum einen das fragile Machtgefüge Iraks intakt zu halten, zum anderen, um zu verhindern, dass die iranische Führung jene Macht über die schiitische Bevölkerungsmehrheit bekommen kann, von der Chomeini stets träumte.
Es kam anders. Der Krieg, die Auflösung der irakischen, sunnitisch geführten Streitkräfte, vor allem aber die mörderische Eskalation nach der von George W. Bush telegen auf einem Flugzeugträger verkündeten Einstellung der Kampfhandlungen am 1. Mai 2003 haben die traditionelle sunnitische Vormachtstellung derart zertrümmert, dass eine Rückkehr ausgeschlossen ist. Was die Auswirkungen von Machtausschluss und für wertlos erklärten Biographien für Folgen haben kann, erlebt Deutschland in homöopathischer Form mit der nicht weichen wollenden Kluft zwischen West- und Ostdeutschland. Was der totale Absturz der sunnitischen Elite für den Irak bedeutet, erleben wir bereits im nihilistisch erscheinenden terroristischen Kampf sunnitischer Extremisten gegen irakische Polizisten und schiitische Zivilisten. Es hat Monate gedauert, bis die Vertreter der einstigen Herrschaftschicht überhaupt das Ausmaß ihres Sturzes begriffen. Noch im Mai 2004 empörte sich ein Unternehmer aus Ramadi, einer der heutigen Hochburgen des Aufstands, der zuvor ein Monopol für den Import von Baumaschinen besessen hatte: „Stellt euch vor, jetzt importiert ein Schiit aus dem Süden Bagger! Ein Schiit! Ist das nicht kriminell?!“
Unter Saddams eiserner Glocke war Aufbegehren selbstmörderisch. Wie die blutig niedergeschlagene schiitische Revolte von 1991 jedem Iraker bewies, machte es generell keinen Sinn, sich innerhalb ethnischer oder konfessioneller Grenzen zu organisieren, da daraus keine Macht zu schöpfen war. Nun aber brechen die Unterschiede auf, organisieren sich Völkerschaften, Konfessionen, Stämme. Mangels ideologischer Programme und demokratischer Tradition entstehen Machtblöcke aus der nahe liegendsten Verbindung: der Herkunft.
Diese Form der Machtschöpfung treibt den Irak in den Zerfall. Die Kurden haben ein großes Interesse daran, viele der radikalen Sunnitengruppen angesichts ihrer maßlos brutalen Anschläge auf Polizeistationen und schiitische Zivilisten augenscheinlich auch.15 Ihnen geht es nicht um einen Sieg, sondern um die Unregierbarkeit des Landes. So absolut zerstörerisch das auch sein mag. Und selbst unter der schiitischen Mehrheit gibt es Separationsgelüste: So trafen sich am 6. Dezember 2004 600 schiitische Notabeln in Nadschaf, um die Errichtung einer autonomen zentral-irakischen, schiitischen Zone voranzutreiben, um, so Nadschafs Gouverneur Adnan al-Zorfi, „politische, wirtschaftliche und militärische Schritte zu koordinieren“.16
Neue Bruchlinien zeichnen sich ab: zwischen Bagdads Zentralgewalt, die bis tief hinein in regionale Belange reichte, und dem neu erwachten Selbstbewusstsein der Regionen, insbesondere Basras. Die zweitgrößte Stadt Iraks hatte erst jahrelang unter ihrer Lage an der irakisch-iranischen Front gelitten und wurde ab 1991 systematisch verwahrlost als Strafe für die Revolte der Schiiten nach dem verlorenen Krieg um Kuwait. Anfang Dezember äußerten sich mehrere Scheichs der großen Stämme, dass sie wie die Kurden nun ihrerseits Autonomievorpläne entwerfen würden. Mansur al-Qanaan, Scheich der Beni Tamim, hatte bereits sehr konkrete Vorstellungen: „Abu Dhabi hat das Öl und behält davon die Hälfte für sich, die andere Hälfte ist für den Rest der Vereinigten Arabischen Emirate. So sollten wir das auch halten!“
Selbst im Mikrokosmos gemischter Bagdader Stadtteile ist das Auseinanderfallen spürbar, etwa im Mittelklasseviertel Zayouna, wo die Nachbarn nach dem Fall der Stadt eine Nachbarschaftsmiliz gründeten, die Verteidigung gegen Plünderer organisierten und nächtelang über Kommunalwahlen debattierten. Heute traut kaum noch ein Nachbar dem anderen, denn der eine ist Schiit, der nächste Kurde, der dritte Turkmene, der eine arbeitet mit den Amerikanern zusammen und hat Angst vor dem sunnitischen Ex-Baath-Parteimitglied, der wiederum Angst hat vor den Todesschwadronen, die auf Baathisten Jagd machen.
Die Frage, wie man miteinander leben kann, mussten sich die meisten Iraker nie stellen, da immer eine Macht existierte, die das Land als Beute und seine Bürger im Zweifelsfall als gefährlich einschätzte. Dazu kam der Fluch des Ölreichtums, der aus den Irakern keine steuerzahlenden Bürger, sondern gnadenabhängige Zahlungsempfänger machte. Das jähe Vakuum der Macht lässt nun Zentrifugalkräfte wachsen, die durch die Wahlen einerseits gebremst werden, sofern eine neue Regierung das Land unter Kontrolle halten kann. Andererseits aber können die Wahlen und vor allem ihr Boykott unter Sunniten oder in Krisenherden wie Kirkuk den Zerfall auch beschleunigen, denn sie geben eine klare Antwort auf die Machtfrage. Wer sich dieser Antwort verweigert, hat keinen Grund mehr zum Stillhalten.
Der Kampf gegen die Amerikaner ist dabei die vergleichsweise harmlose, kontrollierbare Phase, denn er würde enden mit ihrem Abzug. Zwar errichten die US-Streitkräfte im Irak in Beiji, bei Ramadi und Beled nördlich und westlich von Bagdad rund ein Dutzend Basen, deren massiver Ausbau nicht auf baldige Abzugspläne schließen lässt.17 Doch inwieweit Washington sich langfristig damit durchsetzen kann, die politische Elite und vor allem die Ölförderung zu kontrollieren, ist fraglich. Das Ergebnis der Wahlen – die nicht auf ihren Druck, sondern den von Großayatollah Sistani stattgefunden haben – hat mit den Schiiten ein neues Machtzentrum hervorgebracht, das eine Existenz der US-Truppen nur so lange dulden will und wird, bis es seine eigene Herrschaft etabliert hat. Und auch die US-Allianz mit den Kurden steht vor dem mittelfristigen Problem, dass die USA entweder dem kurdischen Separationskurs folgen oder sich irgendwann gegen ihren Verbündeten wenden müssen, wollen sie nicht den Rest-Irak und die Türkei gegen sich aufbringen.
Doch den weit größeren Konflikt um die Macht im Lande können die Amerikaner weder lösen noch letztlich aufhalten. Es wird an den Irakern sein, ihn auszutragen, und es wird eher Jahrzehnte als Jahre dauern. Die Wahlen haben auf dieser Bühne dem Ganzen keine klare Richtung gegeben, sondern die Zahl der Optionen vergrößert: Die einen gehen abstimmen, die anderen ermorden Frisöre.
Alles ist offen: Möglich ist ein Fortbestand des gesamten Irak unter einer nicht sonderlich demokratischen Führung ohne größere Kampfhandlungen. Aber das ist eben nur die beste von vielen möglichen Optionen. Am anderen Ende der Skala steht ein Bürgerkrieg der Sunniten gegen Kurden und Schiiten sowie zahlloser Kleingruppen untereinander, der die islamische Welt in einen sunnitisch-schiitischen Konflikt führt, der alle Nachbarstaaten mit hineinziehen wird und den die Ableger von Al-Qaida sich in ihren kühnsten Träumen nicht zu erhoffen gewagt hätten.
1 AP, 7.2.2005.
2 Westliche Geheimdienste, so einer ihrer Mitarbeiter in Bagdad Anfang Februar, hatten mit 2000 bis 4000 Opfern gerechnet.
3 Mitteilung der „Unabhängigen Irakischen Wahlkommission“ vom 13.2.2005.
4 Ebenda.
5 Az-Zaman, 21.6.2004 und Knight Ridder Service, 21.6.2004.
6 Mitteilung der „Unabhängigen Irakischen Wahlkommission“ vom 13.2.2005.
7 New York Times, 12.2.2005.
8 Die Beibehaltung eigener Streitkräfte hat der derzeitige irakische Vizepräsident und kurdische Politiker Barham Salih Anfang Februar nachrücklich betont, New York Times, 9.2.2005.
9 Ebenda.
10 TAL, veröffentlicht am 30.6.2004 von der Coalitional Provisional Authority in Bagdad.
11 Washington Post, 14.2.2005.
12 Daily Star, Beirut, 7.2.2005.
13 The Independent, 9.2.2005. Gerüchteweise liegt Sistanis Schweigen auch daran, dass er aufgrund seiner iranischen Herkunft bis heute nur leidlich arabisch spricht.
14 Christian Science Monitor, 8.2.2005.
15 In einem von US-Truppen 2004 abgefangenen und Abu Mussab al-Zarqawi zugeschriebenen Brief fordert dieser seine Anhänger zu Anschlägen auf Schiiten auf, um einen Bürgerkrieg zu entfachen.
16 Afp, 6.12.2004.
17 Ein irakischer Bauunternehmer sollte bereits errichtete Gebäude in der Luftwaffenbasis Anaconda Airfield bei Beled wieder abreißen, weil er die vorgeschriebenen 30 Zentimeter Frostschutz-Fundament nicht gegossen hatte mit der Begründung, dass es rund um Bagdad nie friere.
Internationale Politik 3, März 2005, S. 80 - 87.