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01. Febr. 2008

Hooligans mit Teddybären

Russlands neuer Autoritarismus gewährt Wahlfreiheit nur noch in der Warenwelt

Regime im Rückwärtsgang: In beängstigendem Tempo fällt Russland unter Putin in sowjetische Verhaltensmuster zurück. Die neuen Zeiten sind die alten: Kritik am „Führer“ wird nicht geduldet, Andersdenkende werden drangsaliert, Gegner beseitigt – und das Volk in Shoppingzentren ruhiggestellt. Konsumieren ist angenehmer als demonstrieren.

Der Moskauer Akademiker Wadim Pokrowskij hat es genau untersucht: Russische Journalisten sind ansteckend. Pokrowskij leitet die staatliche Anti-Aids-Behörde in Moskau, im Herbst 2007 verkündete er am Rande einer Pressekonferenz seine kleine wissenschaftliche Sensation. Neben den Homosexuellen, behauptete er, gehörten ausgerechnet Journalisten zur Risikogruppe neuer HIV-Infektionen. Seine Erklärung ist nicht einfach nur absurd. Sie ist vielmehr bezeichnend für das heutige Russland, wo unabhängige Journalisten so viel Respekt genießen wie Straßenhunde. Und wo mitunter der Eindruck entsteht, ihr Beruf, nämlich die unabhängige, kritische Berichterstattung, ist seit kurzem mit Berufsverbot belegt. Alle wichtigen Entscheidungen werden inzwischen unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen. Die Massenmedien dürfen für die Regierung die Pressearbeit übernehmen. Wer kritisch nachfragt oder recherchiert, riskiert einiges, wenn nicht alles.

Jüngstes Beispiel: Natalja Morar, die 23 Jahre alte Redakteurin der Moskauer Wochenzeitschrift New Times, neue Zeiten also. Die Journalistin berichtete kritisch über die Verstrickungen in der russischen Innenpolitik, zuletzt über die dubiose Parteienfinanzierung bei der Dumawahl. Mitte Dezember vergangenen Jahres flog sie nach Israel – und wurde bei ihrer Rückkehr praktisch aus dem Land geworfen. Morar lebte zwar seit sechs Jahren in Moskau, ist aber moldauische Staatsbürgerin. Und obwohl ihre Heimat visafreien Verkehr mit Russland unterhält, landete ihr Name auf der Liste unerwünschter Personen des russischen Grenzschutzes. Auf diese Liste kann jeder geraten, der russische Sicherheitsorgane ärgert – es gibt keine klaren Regeln, wer zu „unerwünschten Person“ erklärt werden kann und von wem. Nach einer Nacht in Abschiebehaft wurde sie nach Moldawien abgeschoben.

Die neuen Zeiten also. Doch die sehen ziemlich alt aus: Ganz wie in der Sowjetunion verkommen die Massenmedien immer mehr zum Instrument staatlicher Kontrolle über die Gesellschaft. Neben dem Irak, Afghanistan und Pakistan ist Russland, statistisch gesehen, einer der gefährlichsten Orte für Journalisten in der Welt. Die monatlichen Bulletins der Moskauer „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ lesen sich wie Frontberichte. Oktober 2007: fünf Überfälle, sieben Festnahmen, 18 Klagen. Festnahmen von Journalisten sind ein neues Phänomen, unter Jelzin undenkbar, jetzt eine Realität. Erhält die Polizei die Anweisung, eine nicht genehmigte Demonstration aufzulösen, hilft der Presseausweis nicht viel. Beim so genannten „Marsch der Nichteinverstandenen“ in St. Petersburg eine Woche vor der Dumawahl wurde ein Fotograf gleich drei Mal nacheinander festgenommen und wieder freigelassen.

Noch schlimmer erwischte es am selben Wochenende ein Team des Senders REN TV. Die Journalisten waren nach Inguschetien gereist, um über eine Protestkundgebung zu berichten. Bewaffnete Männer in Uniform stürmten ihre Zimmer im bestbewachten Hotel der Republik, zogen ihnen Plastiktüten über die Köpfe, entführten sie. Stunden später, verprügelt und ausgeraubt, fanden sich die Kollegen im Wald wieder. Barfuß im Schnee, gingen sie eine halbe Stunde bis zum nächsten Dorf.

Eine andere Zeitungskollegin musste kündigen, weil sie zu kritisch über eine neue Verhaltensregelung im Moskauer Regierungssitz berichtet hatte: Verbot für Beamte, mit Journalisten zu sprechen. Damit will sich die Staatsmacht noch weiter von der Öffentlichkeit abschotten. Die führende Wirtschaftszeitung Wedomosti hat den Geist der neuen Zeit nüchtern zusammengefasst: „Unser politisches System, und mit ihm auch unsere Wirtschaft, regredieren in sowjetische Zeiten. Bald werden wir wieder als ein ‚Obervolta mit Atomraketen‘ ausgelacht.“ Ausländische Journalisten dürfen sich für ihre Heimatredaktionen kritisch austoben, aufdecken und anprangern, was sie wollen – in Russland bekommt das kaum jemand mit. Ein paar Moskauer Zeitungen drucken ab und zu Übersetzungen aus europäischen Zeitungen. Doch für die meisten Russen bleibt das Fernsehen die Hauptnachrichtenquelle – und die ist fest in staatlicher Hand.

Die letzten Idealisten?

Jurij Tscherwotschkin war kein Journalist, er schrieb keine Artikel und recherchierte keine Korruptionsaffären. Der 22-Jährige aus einer Kleinstadt südlich von Moskau engagierte sich für die Anarcho-Partei des Schriftstellers Eduard Limonow. Sie hatte sich einen Namen mit medienwirksamen Protestaktionen gegen die Staatsführung gemacht und war als „extremistisch“ verboten worden. Tscherwotschkin engagierte sich trotzdem, beteiligte sich an illegalen Aktionen, verbreitete Flugblätter. Am 22. November 2007 rief er abends einen Bekannten an und sagte, er werde von vier Mitarbeitern einer Sonderabteilung der Polizei verfolgt – sie hatten ihn bereits mehrfach festgenommen. Eine Stunde später wurde er bewusstlos aufgefunden: sein Schädel gebrochen, neben ihm Baseballschläger, alle seine Wertsachen bei ihm. Tscherwotschkin starb nach drei Wochen in Koma. Der Mord schickte Schockwellen durch die Reihen der demokratischen Opposition, die der Staatsmacht vollkommen hilflos und ausgeliefert gegenübersteht.

Wer ist aber diese „Opposition“? Ein schnell sprechender Schachweltmeister und der Schriftsteller und Möchtegern-Politiker Limonow, dieses merkwürdige Duo ist alles, was nach anderthalb Jahren vom Oppositionsbündnis „Anderes Russland“ übriggeblieben ist. Es fordert zwar Rechtsstaat, freie Wahlen und Pressefreiheit, ist aber erstaunlich einsam. Derweil wird der Kampf des Staates gegen „Anderes Russland“ immer absurder. Kurz nachdem Tscherwotschkin beerdigt worden war, verschwand ein anderer Oppositioneller. Oleg Koslowskij, 23, Koordinator der Jugendbewegung „Oborona“, die mit ihrem Symbol – schwarze Faust auf weißem Hintergrund – an den serbischen Verband „Otpor“ erinnerte, jene Jugendorganisation, die entscheidend zum Sturz MiloäeviŤs beigetragen hatte. „Oborona“ war viel kleiner, unbedeutender. Doch die Parallelen genügten: Koslowskij, abgeführt von der Polizei, wurde zwangsweise in die russische Armee geschickt. Das Militär hatte jene Unterlagen „verloren“, die belegen, dass er bereits während seines Studiums eine militärische Ausbildung absolviert hatte und nicht mehr als Soldat eingezogen werden konnte. Er konnte: Als seine Eltern ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekamen – 200 Kilometer entfernt von Moskau – war sein Kopf bereits kahl geschoren.

Neue Macht auf der Straße

Als sich am Abend nach der Dumawahl ein Häufchen von Idealisten auf den Weg zum stillen Protest vor der zentralen Wahlkommission in Moskau machte, stand ihr ein ungewöhnlicher Trupp gegenüber. Dutzende Polizisten und auffällig unauffällige Männer in Zivil schauten lächelnd zu, als die „Nicht-Einverstandenen“ abgedrängt wurden – von einer Gruppe aggressiver Jugendlicher, die aussahen wie betrunkene Fußballfans. Sie trugen Schals der russischen Nationalmannschaft und schwenkten Teddys, für den Bären der Regierungspartei „Einiges Russland“. Mit „Russland! Putin!“-Rufen schubsten die -Jugendliche die Demonstranten weg und erledigten damit die Arbeit der -Sicherheitsorgane.

Vier Tage später. Auf einer Brücke in der Nähe des Kremls hindern Hooligans unser Fernsehteam an der Arbeit. Sie lassen sich nicht filmen und stören die Journalisten auf dem Weg zu einer Versammlung von „Naschi“ (die Unsrigen), eines weiteren kremltreuen Jugendverbands. Die Hooligans sind eine Abteilung von „Naschi“, zuständig für die Ordnung bei Großveranstaltungen. Ein neues Phänomen auf Moskaus Straßen – aggressive junge Männer, ohne Identität und Legalität, die polizeiliche Aufgaben ganz nach Gutdünken aus-üben. Gewalt ist einkalkuliert: „Unsere Waffen sind physische Stärke und moralische Überlegenheit. Streitet nie mit Provokateuren, im schlimmsten Fall verprügelt sie“, instruierten Naschi ihre Aktivisten kurz vor der Wahl.

Entstanden sind all diese Bewegungen als Reaktion auf die Volksaufstände in Serbien und in Ländern der ehemaligen Sowjetunion, vor allem auf die orangene Revolution in der Ukraine. Damals waren es vor allem Jugendliche, die auf die Straße gingen. In Russland war der Staat schneller – mit massiver Unterstützung wurden Jugendbewegungen aus dem Boden gestampft, um solche Aufstände zu verhindern. Mit regimetreuen Parolen und viel Geld versuchen sie die Jugend zu mobilisieren. Mit Erfolg. Wie Pilze schießen die Pro-Putin-Bewegungen aus dem Boden, eine eigens eingerichtete Internetseite „Für Putin!“ wirbt mit professionell gemachten Filmchen für den „nationalen Führer“, wie es neuerdings auf Russisch heißt. Der Begriff wurde von seinen Anhängern eingeführt – für jemanden, der in dem von ihm geschaffenen System eine solch entscheidende Rolle spielt, dass sein Abgang das Land ins Chaos stürzen würde.

Idealer Führer

Tatsächlich entspricht Putin für viele Russen, unabhängig von ihren politischen Überzeugungen, einem Ideal: Er ist schlau, sportlich, trinkt nicht, spricht Fremdsprachen und macht sich über das Ausland lustig. Demokratische Ideale hin oder her, hat er es innerhalb weniger Jahre geschafft, die chaotischen staatlichen Strukturen in den Griff zu kriegen. Putin, mächtigster Mann im Staat (manche flüstern, auch der reichste) und gleichzeitig Fernsehstar. Kein Wunder, dass seine Popularitätswerte über 70 Prozent liegen.

Gleich nach der Dumawahl erreichte der Wahn seinen vorläufigen Höhepunkt: In Moskau wurde die Kinderbewegung „Bärchen“ gegründet, Zielgruppe 8- bis 15-Jährige. Auch sie warben dafür, der Präsident möge an der Spitze des Staates bleiben und ihre Bewegung anführen. Es war die letzte Episode in der rasanten Sowjetisierung Russlands. Wie die gekidnappten Journalisten in Inguschetien steht heute die gesamte russische Gesellschaft da, entführt und verloren, eine Plastiktüte der Propaganda über dem Kopf. Investitionen hin oder her, fällt das Land gesellschaftlich immer weiter zurück – und will es nicht wahrhaben.

Wieso auch. Nach 70 Jahren kommunistischen Elends bedeutet die heutige Zeit ein Paradies der Möglichkeiten. Abgeschaffte Bürgerfreiheiten beiseite, steht die heutige russische Demokratie für die Wahlfreiheit des Supermarkts: Jeder ist frei zu nehmen, was er will, gegen Bezahlung. Die freie Wahl ist in Russland reduziert auf die Wahl zwischen Kühlschränken und Waschmaschinen, Urlaubszielen und Autokrediten. Zugegeben: Konsumieren ist deutlich angenehmer als demonstrieren, ohne zu wissen, ob man festgenommen wird oder nicht. Demokratie ist abstrakt, die Einkaufszentren dagegen konkret. Und so ist die russische Gesellschaft von einer ganz neuen Ideologie ergriffen: verdienen und shoppen. Der Bestseller-Autor Boris Akunin formuliert es so: Wer die Vorteile der Demokratie sehen wolle, brauche sich nur umzuschauen. Und: Der neue russische Autoritarismus ist nicht nur „unfair oder unschön, er ist einfach nur dumm.“

WLADIMIR ESIPOV, geb. 1974, Absolvent der St. Petersburger Universität und der Hamburger Henri-Nannen-Schule, arbeitet als Redakteur und Producer im Moskauer ARD-Studio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 33 - 36

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