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01. Sep 2003

Hinten in der Türkei...

Die Bedeutung außenpolitischer Themen für die Deutschen

Das Vorurteil, die Deutschen interessierten sich nur wenig für Außenpolitik, wird von Manfred Güllner widerlegt: Nach den seit 1992 kontinuierlich durchgeführten Befragungen des Instituts spielen außenpolitische Ereignisse in der Wahrnehmung der Befragten eine konstant große Rolle. Einen Einfluss auf ihr Wahlverhalten hat dies allerdings nicht. Nur einmal, bei der Bundestagswahl 1972, bestimmte mit der Ostpolitik ein außenpolitisches Thema den Wahlkampf.

Die gängige These lautet: außenpolitische Themen scheinen keinen Einfluss auf das Wahlverhalten zu haben. Ein Blick auf die Geschichte der Bundestagswahlen im Nachkriegsdeutschland (und nur auf der Ebene der Bundespolitik könnten sich ja außenpolitische Themen auf die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse der Wahlbürger auswirken) scheint diese These zu bestätigen. Nur bei einer Wahl, der Bundestagswahl 1972, dominierte ein außenpolitisches Thema – die Ostpolitik – den Wahlkampf.

Allerdings war die inhaltliche Auseinandersetzung mit der von Willy Brandt eingeleiteten Öffnung der deutschen Politik Richtung Osten nach der von Konrad Adenauer vollzogenen Westintegration nicht abgekoppelt von den handelnden Personen. Brandt, der wegen seiner Biografie bei Teilen der westdeutschen Bevölkerung außerhalb des Stadtstaates Berlin lange auf Vorbehalte gestoßen war, aber sich während der ersten Jahre seiner Kanzlerschaft und nach der Verleihung des Friedensnobelpreises ein moralisch-intellektuelles Charisma erworben hatte, stand mit Rainer Barzel ein eher wenig attraktiver Kanzlerkandidat der Union gegenüber. Diese Kombination aus Ostpolitik und dem Brandtschen Charisma brachte der SPD ihr bis heute bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl.

Bei allen anderen Bundestagswahlen aber spielten außenpolitische Themen keine oder nur eine vermittelnde Rolle. So führte Adenauer die Wahlkämpfe 1953 und 1957 akzentuiert mit der im Verlauf des „Kalten Krieges“ entstandenen Furcht vor dem „Bolschewismus“, die er als psychologische Waffe gegen die Sozialdemokraten einsetzte. 1961 bestimmte der Bau der Berliner Mauer den Wahlkampf – ein im Prinzip zwar außenpolitisches Ereignis, dessen Folgen aber eher innenpolitisch wahrgenommen wurden.

Die erste gesamtdeutsche Wahl 1990 wurde von den Menschen in Deutschland ebenfalls nicht als Folge außenpolitischer Veränderungen in der Welt, sondern als innenpolitischer Glücksfall interpretiert. Und bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2002 verhalf das Thema Irak der rot-grünen Koalition nicht deshalb zum Sieg, weil es um eine außenpolitische Kontroverse ging. Vielmehr nutzte Gerhard Schröder dieses Thema – wie auch die Flutkatastrophe – , um sich in der letzten Phase des Wahlkampfs gegen seinen Herausforderer Edmund Stoiber als agierender und die Sorgen der Menschen ernst nehmender Kanzler zu profilieren. Während Schröder die realen Ängste der Menschen vor einem Krieg in Irak aufnahm, erweckte Stoiber mit seiner Aussage, der Irak-Konflikt sei derzeit kein Thema, über das politisch zu entscheiden sei, den Eindruck, dass er sich um die Ängste der Menschen zu wenig kümmere.

Bei den übrigen Bundestagswahlen (1965, 1969, 1976, 1980, 1983, 1987, 1994 und 1998) gab es so gut wie keine Bezüge zur Außenpolitik. Aus der Tatsache, dass außenpolitische Themen bei den bisherigen Bundestagswahlen keine herausragende Rolle gespielt haben, den Schluss zu ziehen, die Deutschen würden sich für außenpolitische Ereignisse nicht interessieren, wäre jedoch falsch.

Wie stark auch außenpolitische Ereignisse wahrgenommen werden, zeigt ein Blick auf von forsa seit 1992 kontinuierlich durchgeführte Beobachtungen. Seit dieser Zeit gibt es das „forsa-Themen-Radar“. Grundlage dieses „Themen-Radars“ sind tägliche repräsentative Erhebungen, die mit Hilfe von computergestützten Telefoninterviews in ganz Deutschland durchgeführt werden. Befragt werden täglich jeweils 500 repräsentativ ausgewählte Personen. Dabei wird die Frage nach den drei wichtigsten Themen in Deutschland Tag für Tag „offen“, d.h. ohne Vorgabe, gestellt. So kann gezeigt werden, welche Ereignisse und Themen in der Bevölkerung als wichtig wahrgenommen werden und in welchem Umfang sie gesellschaftliche Relevanz erlangen. Beobachtet werden kann auch, wie lange „Themen-Karrieren“ dauern.

Die Ergebnisse des „forsa-Themen-Radar“ können auf Tagesbasis ausgewiesen werden. Um einen zusammenfassenden Überblick über einen längeren Zeitraum, z.B. ein Jahr, zu gewinnen, empfiehlt es sich jedoch, die ermittelten Befunde auf Wochenbasis auszuweisen.

Großes Interesse

Die Befunde zeigen, dass außenpolitische Ereignisse sehr wohl von den Deutschen mit großem Interesse zur Kenntnis genommen werden. Das gilt nicht nur für einzigartige und herausragende Ereignisse wie die Terroranschläge in den USA im September 2001, den Kosovo-Krieg 1999 oder den Krieg gegen Irak 2003, die von über 90% der Bürger wahrgenommen wurden.

Zwischen 60 und 70% aller Bürger haben in den letzten Jahren die Konflikte und Kriege im ehemaligen Jugoslawien, die Entwicklung der Lage in Russland, den Krieg gegen Afghanistan oder den Verlauf des europäischen Einigungsprozesses aufmerksam verfolgt. Zwischen 40 und 60% haben die Präsidentschaftswahlen in den USA (sowohl bei Bill Clintons erster Wahl 1992 als auch den Wahlkampf George W. Bush gegen Al Gore 2002), den Verlauf des Irak-Konflikts, die Unruhen in Afrika, den EU-Gipfel in Essen 1994, die von Frankreich durchgeführten Atomtests, die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin oder den Besuch des amerikanischen Präsidenten George Bush in Europa als wichtige Ereignisse empfunden.

Der Anteil der Bürger der Bundesrepublik, der außenpolitische Ereignisse wahrnimmt, ist deshalb als beachtlich hoch einzuschätzen, weil das außenpolitische Geschehen ja in Konkurrenz mit innenpolitischen Ereignissen und Themen, mit wirtschaftlichen Gegebenheiten, mit Naturereignissen und -katastrophen sowie mit sportlichen und gesellschaftlichen Ereignissen steht. Im Jahr 2001 wurden neben den außenpolitischen Ereignissen z.B. die Tierseuchen (BSE, Maul- und Klauenseuche) von 85%, Erdbeben von 30%, der Ätna-Ausbruch oder die Überschwemmungen in Polen von jeweils 24%, der Tunnelbrand in Österreich von 4% aller Deutschen interessiert verfolgt.

Den Selbstmord von Hannelore Kohl nannten 26% aller Deutschen, die Leichtathletik-Weltmeisterschaft 4%, die Tour de France 14% oder die Kokain-Affäre des Fußballtrainers Christoph Daum 3% als wichtige Themen. Als wichtig eingestufte innenpolitische Ereignisse konnten 2001 die Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin (35%), die Affäre Scharping (34%), die Castor-Transporte (33%), die vom Kanzler gestellte Vertrauensfrage (25%), die Diskussion über die Vergangenheit von Joschka Fischer (26%) oder die Parteitage der CDU (6%), der SPD (5%) und der FDP (3%) verzeichnet werden. Diese Vergleichszahlen machen deutlich, welch hohen Stellenwert das außenpolitische Geschehen in der Wahrnehmung der Deutschen hat.

Selbst während der Wahlkämpfe der letzten drei Bundestagswahlen 1994, 1998 und 2002 wurde von den Menschen in Deutschland trotz der großen Bedeutung der jeweiligen Wahl das außenpolitische Geschehen nicht ausgeblendet, sondern weiter verfolgt. Während des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 1994 waren das die Ereignisse auf Haiti, die Krise zwischen Irak und Kuwait, die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien oder die Unruhen in Afrika.

Während des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 1998, als die innenpolitischen Themen, insbesondere die Erwartung nach Auflösung des von den Menschen so empfundenen Reformstaus nach 16 Jahren Kohl-Ära und die Hoffnung auf eine Erneuerung und Modernisierung des Landes dominierten, wurden auch die Entwicklung in Russland, die Angriffe der USA in Sudan, die Anschläge auf amerikanische Einrichtungen in Afrika oder der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien registriert. Und im Jahr 2002 nahmen die Wahlbürger in Deutschland auch während des Wahlkampfs die weltweiten Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus sowie die Entwicklung des Nahost-Konflikts wahr.

Erstaunlich sind auch die „Karrieren“ außenpolitischer Themen. Hier ist zu beobachten, dass das Interesse an außenpolitischen Problemfeldern keinesfalls allmählich nachlässt, sondern so lange andauert, wie Konflikte oder Probleme fortbestehen. Die Konflikte und gewaltsamen Auseinandersetzungen im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens wurden beispielsweise über mehrere Jahre hinweg laufend wahrgenommen. Das Interesse an der Entwicklung in dieser Region ließ keinesfalls nach. Erst als nach dem Kosovo-Krieg mit dem Ende des Miloöevib-Regimes eine vorläufige Beruhigung in der Region eintrat, flaute das Interesse an der Entwicklung auf dem Balkan ab. Aber für fast ein Jahrzehnt waren die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien für die Menschen in Deutschland Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat ein wichtiges Thema.

Das gleiche gilt für das Interesse an der Entwicklung in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in Russland. Auch hier ließ das Interesse der Deutschen  im Lauf der Zeit nicht nach. Das Thema wurde 1992 in 48, 1993 in 42, 1994 in 33, 1995 in 48, 1996 in 49 Wochen und 1999 in 17 Wochen als wichtiges Thema genannt.

Zu den außenpolitischen Themen, die die Menschen in Deutschland nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft interessieren, gehört in den letzten Jahren auch der Konflikt im Nahen Osten zwischen Israel und den Palästinensern. Es gab kaum eine Woche, in der der Nahost-Konflikt nicht als wichtiges Thema genannt wurde. Der Grad und die Intensität des Interesses war und ist jedoch abhängig von den tatsächlichen Ereignisabläufen: Immer, wenn es neue Probleme, Schwierigkeiten oder Gewalttaten gibt, steigt auch die Wahrnehmung der Bevölkerung.

Während also Naturereignisse, das Geschehen im Bereich Sport oder Gesellschaft oder auch viele innenpolitische Themen oft durch einen kurzfristigen Ereignisverlauf charakterisiert sind, d.h. meist nur für einen kurzen Zeitraum die Aufmerksamkeit der Bevölkerung erreichen, beschäftigten außenpolitische Ereignisse die Deutschen nicht nur für Wochen und Monate, sondern über Jahre.

Wahrnehmung von Ereignissen

Außenpolitik wird denn auch für die Deutschen in hohem Maße durch die Dauerkonfliktherde der letzten Jahre erfahrbar. Überhaupt wird das außen- und weltpolitische Geschehen überwiegend als Konfliktsituation wahrgenommen. Neben den Dauerkonfliktregionen (ehemaliges Jugoslawien, Sowjetunion bzw. Russland, Nahost, Irak, Afrika) waren es in den letzten Jahren zeitlich begrenzte Konflikte bzw. Ereignisse (z.B. in Haiti, auf Kuba oder in Südafrika; Spannungen zwischen China und Taiwan oder die Durchführung der französischen Atomtests) sowie Anschläge und Terrorakte (neben den Terroranschlägen vom 11. September 2001 z.B. die Anschläge in Tokio, in Oklahoma, in Yokohama, in Atlanta, in Bali, Djerba oder die Anschläge auf amerikanische Einrichtungen in Afrika bzw. Geiselnahmen wie in Tschetschenien oder die Entführung der Urlauber auf Malaysia).

Klassische außenpolitische Aufgabenbereiche wie die Europa-Politik bzw. der europäische Einigungsprozess werden dagegen nur dann wahrgenommen, wenn es um wichtige Meilensteine (z.B. Maastricht-Verträge) oder Weichenstellungen geht.

Besondere politische Instrumente wie Gipfeltreffen werden von den Bürgern auch wahrgenommen. Allerdings lässt das Interesse hieran offenbar im Zeitverlauf nach bzw. wird nur dann wieder geweckt, wenn es im Umfeld von Gipfeltreffen zu Auseinandersetzungen und gewalttätigen Demonstrationen kommt. 1992 fand der G-8-Gipfel noch recht große Beachtung (34%). In diesem Jahr interessierten sich nur noch 5% aller Deutschen für den G-8-Gipfel. Der erste Umwelt-Gipfel 1992 wurde noch von 24% beachtet, der letzte von 5%.

Inwieweit Reisen amerikanischer Präsidenten nach Europa bzw. Deutschland Beachtung finden, hängt offenbar vom jeweiligen politischen Kontext ab. Für die Clinton-Reise interessierten sich z.B. 1998 19%, für die erste Reise von George W. Bush nach Europa mit 44% deutlich mehr.

Dass das Interesse an außenpolitischen Themen und Ereignissen durchaus recht hoch ist, zeigt sich auch am Grad der Wahrnehmung von Wahlen im Ausland. So interessierten sich 1992 45% und 2000 47% für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA. Das Interesse daran war größer als das an den beiden Wahlen zum Europäischen Parlament von 1994 (39%) oder von 1999 (33%). Aber auch Wahlen in anderen Ländern werden durchaus beachtet: so die Wahlen in Russland (24%), in Israel (15%), in Österreich (15%) oder die letzten Wahlen in Frankreich und Großbritannien (jeweils 9%). Das Interesse an Wahlen im Ausland ist also z.T. ähnlich hoch oder sogar noch höher als an regionalen Wahlen in Deutschland. Die dargestellten Befunde zeigen, dass sich die Deutschen durchaus für außenpolitische Themen und Ereignisse interessieren.

Das Interesse am außen- und weltpolitischen Geschehen ist im Übrigen in allen Bevölkerungsgruppen und -schichten vorhanden. Doch bei dem Teil der Bevölkerung mit weiterführenden Schulabschlüssen (Abitur bzw. Hochschulstudium) ist das Interesse etwas stärker ausgeprägt. Das liegt daran, dass sich diese Gruppe der besser Gebildeten generell stärker für Politik und das Weltgeschehen interessiert als andere Bildungsgruppen. Da unter den Anhängern der Grünen überdurchschnittlich viele Vertreter der höheren Bildungsgruppen sind, ist entsprechend das Interesse der Grünen-Anhänger an der Außenpolitik höher als das der anderen Anhängergruppen.

Begrenzter Einfluss auf innenpolitische Wahlen

Außenpolitik wird allerdings nicht als klassische Diplomatie oder als mittel- oder langfristige strategische Planung wahrgenommen. Vielmehr ist die Wahrnehmung von Außenpolitik weitgehend an konkrete Ereignisse gebunden. Das ist aber keine für außenpolitische Themen spezifische Wahrnehmungsform. Vielmehr wird auch die Innenpolitik in ähnlicher Weise anhand von aktuellen Vorkommnissen und Ereignissen wahrgenommen. Aufgrund der Schwerpunkte der Berichterstattung in den Medien kann das außenpolitische Geschehen von den Bürgern auch nur überwiegend an Konflikten und Ereignissen in Krisenregionen festgemacht werden. Da die Bürger bei ihren Informationen auf Medien angewiesen sind, hängt die Form der Informationsaufnahme weniger von den Interessen oder Wünschen der Bürger ab, sondern ist zwangsläufig durch die Berichterstattung in den Medien gesteuert.

Einfluss auf innenpolitische Wahlen, auch auf Bundestagswahlen, dürfte trotz des großen Interesses an außenpolitischen Ereignissen die Außenpolitik kaum haben. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der Einfluss der deutschen Politik auf internationale Krisen von den Menschen schwer eingeschätzt werden kann und somit als eher gering angesehen werden muss. Zudem sind bei allem durchaus vorhandenen Interesse die meisten Krisenregionen weit von Deutschland entfernt und insofern nicht unmittelbar erfahrbar, sondern nur in abstraktem Sinne bedrohlich. Innenpolitische Probleme aber sind meist sofort konkret erfahrbar und werden dem Verantwortungsbereich der Politik zugerechnet. Außenpolitik wird deshalb zwar recht aufmerksam verfolgt, sie wird jedoch als eher autonomer Vorgang bewertet – ohne allzu große Rückkoppelung zu den eher an der Innenpolitik orientierten politischen Meinungsbildungsprozessen der Bürger.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2003, S. 51 - 56

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