Hilflos im Elfenbeinturm?
Kleiner Leitfaden für angehende Politikberater
Was sollten Politikberater tun, um die handelnden Personen auch tatsächlich zu erreichen? Worauf sollte man achten, wenn man „policy-relevant“ schreiben möchte? Ein Ratgeber für zukünftige Ratgeber.
Der Politikwissenschaftler, so sagt ein Sprichwort, verhält sich zur Politik wie der Eunuch zum Harem: er weiß zwar, was dort vor sich geht, nur fehlen ihm selbst leider bestimmte Utensilien, um es den anderen drinnen in den Gemächern gleichzutun.
Ein böser Vergleich, zugegeben, aber nicht allzu weit hergeholt. Denn die Kluft zwischen der akademischen Welt und der realen Politik ist so tief wie eh und je. Manche Politikwissenschaftler stört das nicht – sie betrachten Politikferne sogar als Ausweis ihrer wissenschaftlichen Unbestechlichkeit. Doch die Mehrheit der Zunft dürfte dies anders sehen. Viele Politikwissenschaftler, besonders aus dem Bereich der internationalen Beziehungen, äußern jedenfalls immer wieder ihre Frustration darüber, dass ihnen die „echte“ Politik meist die kalte Schulter zeigt.
Was also ist zu tun, um dem Elfenbeinturm zu entfliehen? Worauf sollte man achten, wenn man „policy-relevant“ schreiben oder gar beraten möchte? Anbei ein Ratgeber für zukünftige Ratgeber.
Die erste und zugleich wichtigste Erkenntnis für alle angehenden Politikberater betrifft die Beschränkungen, denen die Zunft unterworfen ist. Politiker und andere Führungskräfte haben allesamt drei Probleme: keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Deshalb ist allzu viel schriftstellerischer Fleiß eher kontraproduktiv. Der Chef mag ein Papier zu einem bestimmten Thema anfordern, aber das heißt nicht, dass er der Lektüre mit Freude entgegensieht. Eine staubtrockene Analyse lesen zu müssen ist für die meisten von einem übervollen Terminkalender getriebenen Führungskräfte eben keine persönliche Bereicherung, sondern eher ein feindlicher Akt der Fremdbestimmung.
Daher liest der Chef das Papier zumeist nur widerwillig. Oft überfliegt er es nur. Oder er beschränkt sich auf das „Executive Summary“, weil seine Konzentrationsspanne nicht mehr zulässt. Zwar geben manche Politiker vor, in ihrer Freizeit regelmäßig Romane und Sachbücher zu lesen. Aber auch diejenigen, die sich regelmäßig in ihren Dan Brown oder John le Carré verbeißen, werden diese wenigen Stunden an privater „quality time“ nicht gegen die Lektüre von „policy papers“ eintauschen. Also bloß kein Übereifer.
In fast allen Fällen genügen ein bis zwei Seiten, um einen kurzen Problemaufriss mit daraus folgenden Handlungsempfehlungen vorzulegen. Der Leser muss nicht alles wissen, was der Autor weiß. Es genügt, wenn der Leser die wichtigsten Punkte aufnimmt und versteht. Die Herausforderung, an der viele Akademiker scheitern, besteht genau darin, die Entscheidung zu treffen, welche Punkte die wichtigsten sind. Aus diesem Grund dauert das Schreiben eines kurzen Papiers oft länger als das Verfassen eines längeren Aufsatzes.
Zweitens: Relevanz. Der Großteil der Veröffentlichungen zu internationalen Beziehungen hat wenig bis keine Relevanz für die politischen Entscheidungsträger. Das liegt zum einen an der Wahl der Themen, die mit der politischen Wirklichkeit kaum etwas zu tun haben. Gewiss: Wer sich Themen wie „Die Kolonialität der Folkloristik“ oder „Multiple Modernitäten“ verschreibt, wird vermutlich andere berufliche Ziele verfolgen, als Politikberater zu werden.
Doch auch Wissenschaftler, die sich mit weniger exotischen Themen beschäftigen, verfügen oft nicht über die Expertise, die der Politiker braucht. Wie geht es weiter mit dem Kosovo? Wie lässt sich das Verhältnis zu Russland wieder normalisieren? So oder ähnlich stellt sich das Problem für den außenpolitisch Handelnden dar. Der Student der internationalen Beziehungen, der hierzu Längliches zur Geschichte des Balkankonflikts liefert, oder sich über die angeblichen Versäumnisse der westlichen Russlandpolitik auslässt, wird kaum Gehör finden. Man liest schließlich nicht, um an seine Fehler von gestern erinnert zu werden, sondern um den Weg nach vorne zu finden.
Drittens: sprachliche Klarheit. George Orwell bemerkte einmal, dass die Sprache das Denken korrumpieren kann. Gerade deshalb ist hier eiserne Disziplin angesagt. Mit kryptischen Formulierungen wie „der hochgradig kontingente und eigendynamische Prozess“ erreicht man nur eines: Der ohnehin gestresste Leser legt das Papier sofort aus der Hand. Selbst der Politiker, der zu seinen eigenen Studentenzeiten ein Meister in der Benutzung hochtrabender akademischer Formulierungen war, empfindet derlei Sprache heute als Angriff auf seine Menschenwürde.
Gefragt sind deshalb klare, verständliche Formulierungen. Auch plastische Beispiele, die das Problem verdeutlichen helfen, sind willkommen. Oder eine einfache Statistik, die einen Trend sehr deutlich aufzeigt. Einfach ist eben nicht dasselbe wie einfältig. Henry Kissinger, der vielleicht meistgelesene ehemalige Politiker, ist das beste Beispiel hierfür. Auch wenn nicht jede seiner Überlegungen neu oder originell sein mag, so werden seine Aufsätze gerade deshalb von vielen Politikern gelesen, weil sie Musterbeispiele an sprachlicher und intellektueller Klarheit sind.
Viertens: keine Beratung ohne konkrete Handlungsempfehlungen. Wer zum Nahen Osten nicht mehr zu sagen hat, als ein lapidares „es gilt, neue Mechanismen und Instrumente zu entwickeln und einzusetzen“, oder die Zukunft der NATO mit einem schlichten „hier sind neue Ideen gefragt“ bewältigt, braucht sich nicht zu wundern, dass ihn niemand ernst nimmt. Solche banalen Formulierungen sollten Politikerreden oder Aufsätzen von pensionierten Offizieren und Diplomaten vorbehalten bleiben, die damit ihren faszinierten Zuhörern vom regionalen Apothekerverband analytische Tiefe vortäuschen.
Ein seriöser Berater listet zumindest einige Handlungsempfehlungen auf, idealerweise gestaffelt nach dem Grad der Realisierbarkeit. Dies ist genau das Bohren dicker Bretter, auf das die Universitäten ihre Absolventen nur bedingt vorbereiten können. Zum Profi wird man deshalb nur durch die Praxis. Es gilt also, „on the job“ zu lernen. Und zu lernen gibt eine Menge. Auch, wie man die eigene Ratlosigkeit elegant überspielt. Man empfiehlt einfach, „diese Entwicklungen weiterhin sorgfältig zu beobachten“, oder man schlägt die Einsetzung einer Arbeitsgruppe vor, um das Problem „multi-dimensional“ anzugehen. Das ist immer noch besser als bloßes Schulterzucken.
Zu guter Letzt: Politikberatung muss am Bedarf orientiert sein. Auch wenn einem ein bestimmtes Thema auf den Nägeln brennt: Der Chef, der gerade ein Dutzend anderer wichtiger Probleme zu lösen hat, wird sich dafür kaum interessieren. Selbst wenn sich später herausstellt, dass der Berater eine wichtige Entwicklung geradezu hellseherisch vorausgesagt hat, so wird es ihm nichts nützen. Der Gedanke, der zu früh artikuliert wurde, geht im Lärm der Tagespolitik genauso unter wie der Gedanke, der zu spät kommt. Der große Wurf, der alle Welträtsel löst, und folglich beim Leser Begeisterungsstürme entfacht, bleibt eine Illusion.
Auch die Tendenz mancher Akademiker, grundsätzlich gegen den Strich zu bürsten, wird nicht die erhoffte Anerkennung bringen. Wer sich auf diese Weise einen Namen machen will, schafft es allenfalls zum Clown, den man hin und wieder in eine Diskussionsrunde einlädt, um der Debatte etwas Schwung zu verleihen. Politikberatung orientiert sich am „Mainstream“. Originalität allein um der Originalität willen ist nicht gefragt. Für manche Wissenschaftler ist das eine deprimierende Vorstellung – zu traurig, um deshalb den sicheren Elfenbeinturm zu verlassen.
Die Kluft zwischen Politikwissenschaft und Politik wird also bleiben. Der Wissenschaftler im Elfenbeinturm wird auch weiterhin den Politikberater ob seiner Nähe zur Macht beneiden – während der wehmütig an die Zeiten zurückdenkt, als er noch akademische Freiheiten genoss und viel Zeit zum Lesen hatte.
Michael Rühle leitet das Referat für Energiesicherheit im Internationalen Stab der NATO. Zuvor war er als politischer Planer und Redenschreiber tätig. Er gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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