Hart-weicher Brexit
Wie das Verhältnis zu Großbritannien aussehen wird, wird die EU bestimmen
Zur Halbzeit der Verhandlungen stehen die Modalitäten der „Scheidung“ weitgehend. Doch kritische Fragen sind offen – die Nordirland-Frage und das zukünftige politische und wirtschaftliche Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Solange London eine klare Linie fehlt, definiert paradoxerweise Brüssel die Ausgestaltung des Brexit.
Als Premierministerin Theresa May Ende März 2017 die britische Austrittsnote nach Brüssel sandte, wurde sie von Teilen der britischen Presse als „neue Eiserne Lady“ gefeiert. In ihrer Rede in Lancaster House hatte sie Großbritannien auf einen harten Brexit-Kurs eingeschworen. Gemäß ihrer Interpretation war das Austrittsvotum ein Mandat dafür, nicht nur die EU zu verlassen, sondern auch die Freizügigkeit zu beenden, europäische Regulierungen nicht mehr umzusetzen, nicht länger „bedeutende“ Summen in den EU-Haushalt einzuzahlen und nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterworfen zu sein.
Entlang dieser roten Linien war eine enge Anbindung an die EU, wie sie etwa Norwegen pflegt, ausgeschlossen. Stattdessen sei eine „tiefe und besondere Partnerschaft“ mit der EU das Ziel, erklärte May. Diese sollte ungeachtet des harten Bruchs Handelsschranken vermeiden. Zugleich wollte das Land als „Global Britain“ eigenständig Handelsverträge mit dem Rest der Welt schließen. Das war die Brexit-Utopie.
Mays fragile Regierung
Zur Halbzeit der Brexit-Verhandlungen zeichnet sich eine ganz andere Entwicklung ab. Zunächst hat sich der politische Kontext grundlegend gewandelt. May ist es noch nicht einmal ansatzweise gelungen, einen Konsens in ihrer Partei oder gar landesweit über die britischen Ziele beim Brexit herzustellen. Im Gegenteil: Nachdem sie zu Beginn der Verhandlungen ohne Not Neuwahlen ausrief und darüber ihre Parlamentsmehrheit verlor, steht sie nun einer Minderheitsregierung vor. In den kommenden Monaten muss sie das Austrittsabkommen sowie zentrale Brexit-Begleitgesetze durch beide Häuser des Parlaments bringen. Dabei wird sie von mindestens fünf Faktoren in unterschiedliche Richtungen getrieben:
Da sind zunächst die harten EU-Gegner in ihrer Fraktion, die einen möglichst klaren Bruch mit der EU anstreben. Lose vereint unter der Führung von Jacob Rees-Mogg umfasst die so genannte European Research Group nach einigen Angaben mehr als 60 Hinterbänkler; auch einige Kabinettsmitglieder gehörten früher dazu. Damit verfügen die harten EU-Gegner nicht nur über ausreichend Stimmen, um May die Mehrheit zu kosten, sondern sie könnten auch eine Vertrauensfrage in der Konservativen Partei erzwingen, wofür 48 Abgeordnete ausreichen. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es – zweitens – 15 bis 20 konservative Abgeordnete, die offen eine möglichst enge Anbindung an die EU mit Verbleib in Zollunion und Binnenmarkt fordern. Auch ihre Zahl reicht aus, um May die Mehrheit zu kosten. Schwierige Abstimmungen zum Brexit, etwa über die Frage der Zollunion, hat May daher immer weiter in die Zukunft verschoben – muss sich diesen aber im Laufe dieses Jahres stellen.
Als drittes fordern Mays Mehrheitsbeschaffer, die zehn Abgeordneten der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP), dass es keinen Sonderstatus für Nordirland gibt. Die DUP, selbst klare Befürworterin eines härteren Brexit, droht mit dem Sturz der Regierung, falls diese EU-Forderungen zustimmt, die Nordirland im Regulierungsraum der EU halten würden. Viertens fordern die Regionalregierungen von Wales und vor allem Schottland wiederum eine möglichst enge Anbindung an Binnenmarkt und Zollunion. Auch wenn die schottische Unabhängigkeit auf mittlere Sicht vom Tisch ist, braucht May für die Umsetzung der Austrittsgesetzgebung die Zustimmung der Parlamente in Edinburgh und Cardiff.
Nicht zuletzt forderte fünftens die britische Wirtschaft angesichts des nahenden Austrittsdatums, dass Großbritannien nach dem Austritt mindestens eine längere Übergangsphase mit Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion noch im März 2018 vereinbaren sollte. Doch auch mittelfristig sind Großbritanniens Wirtschaft und Verwaltungsapparat bislang nicht darauf vorbereitet, mit neuen Handelsschranken zwischen den eng integrierten Volkswirtschaften Großbritanniens und dem Rest der EU umzugehen.
Paradoxerweise wird die geschwächte Premierministerin in dieser komplexen Gemengelage ausgerechnet vom Brexit-Prozess im Amt gehalten. Denn zum einen gibt es bei den Konservativen keine Führungspersönlichkeit, die diese verschiedenen Strömungen hinter sich vereinen könnte. Zum anderen wissen alle Beteiligten, dass sich Großbritannien angesichts der kurzen, noch verbleibenden Zeit im Austrittsprozess keine Neuwahlen mit unsicherem Ausgang leisten kann. Zudem haben selbst die „Pro-Europäer“ bei den Konservativen kein Interesse daran, der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn den Weg in die Nummer 10 Downing Street zu ebnen.
Kurzum: Die britische Regierung befindet sich mitten in den komplexesten und schwierigsten Verhandlungen der vergangenen Jahrzehnte in einem Stadium dauerhafter Fragilität, in der es zwar keine Mehrheit gegen den Austritt aus der Europäischen Union, aber auch keine Mehrheit für eine bestimmte Form des Brexit gibt.
Auf der anderen Seite stehen die übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten in den Brexit-Verhandlungen bis dato gerade für EU-Verhältnisse erstaunlich einig zusammen. Unter der Federführung des Europäischen Rates haben die EU-27 schrittweise Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen erarbeitet, die im Kern darauf abzielen, dass auch der Drittstaat Großbritannien nicht die Vorteile des ungehinderten Zugangs zum EU-Binnenmarkt genießen kann, ohne gleichzeitig die Pflichten zu übernehmen. Insbesondere die Integrität des Binnenmarkts mit seinen vier Freiheiten, der Schutz der Rechte der EU-Bürger, die Aufrechterhaltung der institutionellen Autonomie der EU und die Solidarität mit dem besonders betroffenen Irland haben die EU-27 einstimmig in den Mittelpunkt gestellt. Bemerkenswerterweise sind die 27 EU-Staaten damit geeinter aufgetreten als das 22-köpfige britische Kabinett.
Ein zentraler Ansatz der Strategie der EU-27 ist die Sequenzierung der Brexit-Verhandlungen. Die britische Regierung hatte zunächst darauf gedrängt, Austrittsmodalitäten und zukünftige Beziehungen in einem zu verhandeln. Wegen der hohen Komplexität, aber auch der höheren Abhängigkeit Großbritanniens von einer Einigung setzten sich die EU-27 früh damit durch, zunächst ausschließlich die Austrittsmodalitäten zu verhandeln. Gerade mit Blick auf die schwierigen innenpolitischen Verhältnisse in Großbritannien ist hier durchaus beachtlich, welche Fortschritte bereits erzielt wurden.
So willigte die britische Regierung grundsätzlich ein, alle ihre finanziellen Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft zu übernehmen, einschließlich der kompletten Zahlungen im Rahmen des laufenden mehrjährigen EU-Finanzrahmens bis Ende 2020 und der damit verbundenen langfristigen Verpflichtungen. London wird daher bis weit nach seinem formellen EU-Austritt in den Unionshaushalt einzahlen, Schätzungen zufolge insgesamt etwa 40 Milliarden Euro.
Auch einigten sich die EU-27 und das Vereinigte Königreich grundsätzlich auf die Sicherung der Rechte der rund drei Millionen in Großbritannien lebenden EU-Bürger und den 1,2 Millionen im Rest der EU lebenden britischen Staatsbürger (siehe dazu auch den nachfolgenden Beitrag von Daniel Tetlow). Dies soll Planungssicherheit sowohl für Privatpersonen als auch für Unternehmen schaffen.
Die komplexe Nordirland-Frage
Eine weitere Vereinbarung betrifft eine der komplexesten Brexit-Fragen: die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Das ist nicht nur die einzige größere Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU-27, sondern von hoher politischer Bedeutung für den Friedensprozess in Nordirland. Sobald das Vereinigte Königreich jedoch wie von May angestrebt Zollunion und Binnenmarkt verlässt, würden hier Grenzkontrollen notwendig werden. Die EU-27 haben sich solidarisch hinter die Interessen ihres Mitglieds Irland gestellt und mit Großbritannien grundsätzlich vereinbart, die Entstehung neuer Grenzkontrollen zu verhindern. Über die Umsetzung dieser Grundsatzeinigung besteht allerdings weiter heftiger Dissens zwischen den Verhandlungsparteien. Während London auf eine Lösung im Rahmen des Gesamtverhältnisses EU-27--Großbritannien plus technische Unterstützung drängt, fordert Brüssel eine Ausbuchstabierung der Rückfalloption, einen Sonderstatus für Nordirland, bei dem dieses in der Zollunion und in einem gemeinsamen Regulierungsraum mit der EU verbleibt. Dies wiederum lehnen die DUP, aber auch May als vollkommen inakzeptabel ab. In dieser Frage sind also noch schwierige Verhandlungen notwendig.
Vergleichsweise leicht war die Einigung auf eine Übergangsphase nach dem formellen EU-Austritt. Auch in London hat sich mittlerweile durchgesetzt, dass zum 29. März 2019 weder die zukünftigen Beziehungen zu den EU-27 geklärt sein werden noch Großbritannien selbst bereit ist, alle bisherigen Aufgaben der EU zu übernehmen. London und Brüssel haben sich daher im Grundsatz darauf geeinigt, dass Großbritannien bis Ende des laufenden Finanzrahmens, also bis Dezember 2020, vollständig im Binnenmarkt und der Zollunion bleibt. Bei der Ausgestaltung dieser Übergangsphase hat sich Brüssel mit seinen Bedingungen vollständig durchgesetzt: Großbritannien ist in dieser Zeit an alle EU-Regeln einschließlich der Freizügigkeit vollständig gebunden und muss neue EU-Gesetze umsetzen. Als Drittstaat verliert es trotzdem nicht nur alle seine Stimmrechte, sondern ist auch nicht mehr in den EU-Institutionen vertreten. Für eine – begrenzte – Zeit gibt Großbritannien also umfangreich Souveränität nach Brüssel ab, um seiner Wirtschaft Sicherheit zu geben.
Gleichsam gilt bei all diesen politischen Einigungen: „Nothing is agreed until everything is agreed.“ Denn rechtlich verbindlich wird erst das Austrittsabkommen sowohl die Übergangsphase als auch die Bürgerrechte, finanziellen Verpflichtungen und die Einigung für Nordirland umsetzen. Hierfür ist jedoch nicht nur eine vollständige Einigung in der Nordirland-Frage nötig, sondern sowohl die Unterzeichnung von den EU-27 und dem Vereinigten Königreich als auch die Ratifizierung des Austrittsabkommens durch das britische Parlament.
Dennoch sind damit drei extremere Szenarien in weite Ferne gerückt: Erstens ist ein „Exit vom Brexit“, wie ihn etwa weiterhin die Ex-Premiers Tony Blair und John Major fordern, gegen die Mandatskraft des Referendums nahezu ausgeschlossen. Weder gab es in der britischen Bevölkerung einen Meinungsumschwung, noch ist die Labour-Partei bereit, den Brexit an sich infrage zu stellen.
Ebenso unwahrscheinlich geworden ist ein „No Deal“-Brexit, bei dem Großbritannien die EU ohne Einigung verlassen würde. Dann wären nach März 2019 Rechte von EU-Bürgern ungeklärt, britische Zahlungen an den EU-Haushalt würden ausbleiben und der Handel müsste auf WTO-Regeln zurückfallen, einschließlich Wiedereinführung von Zöllen und erheblichen Handelsschranken, mit desaströsen Folgen insbesondere für die britische Wirtschaft. Dieses Szenario vor Augen war die britische Regierung in den bisherigen Verhandlungen zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Diese werden mittlerweile auch von harten EU-Gegnern in der konservativen Partei akzeptiert, solange ihr Hauptziel, die Umsetzung des EU-Austritts, nicht gefährdet wird. Realistisch wäre die „No Deal“-Option für Großbritannien allerhöchstens mit großer Vorlaufzeit und präziser Vorbereitung gewesen.
Zumindest politisch ausgeschlossen von beiden Seiten wird derzeit eine Verstetigung des jüngst vereinbarten Übergangsregimes. Zwar ist es mehr als fragwürdig, ob die EU und Großbritannien tatsächlich bis Ende 2020 ihr zukünftiges wirtschaftliches und politisches Verhältnis in allen Details ausgehandelt und, anders als das Austrittsabkommen, auch in allen nationalen Parlamenten ratifiziert haben. Dennoch sieht der aktuelle Entwurf des Austrittsabkommens keine Verlängerungsoption vor. Denn die britische Regierung hat zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Interessen die harten Bedingungen der EU fast vollständig akzeptiert; diese Rolle als Regelempfänger ist gerade für stolze Brexiteers ein hoher politischer Preis. Gleichsam basiert das Übergangsregime aus Sicht der EU auf einer besonderen Konstruktion, dem Austrittsabkommen nach Artikel 50, das nicht unbegrenzt verlängert werden kann. Weder rechtlich noch politisch steht daher eine Verstetigung des Übergangsregimes am Horizont.
Strategische Entscheidungen
Damit bleiben für Großbritannien und die EU-27 nur eine Reihe von zähen Verhandlungen, in denen sich der Brexit-Prozess noch weit nach 2020 hinziehen dürfte. Im Sommer 2018 steht zunächst die Einigung in der kritischen Nordirland-Frage an, ohne die nicht nur Irland, sondern auch die EU-27 insgesamt kein Austrittsabkommen und damit auch keine Übergangsphase unterzeichnen dürften. Auch die rechtliche Ausarbeitung aller Details des Austrittsabkommens sowie dessen Ratifizierung werden Brüssel und London 2018 noch einige Nerven kosten.
Parallel beginnen die entscheidenden Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis zwischen EU-27 und Großbritannien in drei zentralen Komponenten: dem wirtschaftlichen Zugang zu Binnenmarkt und Zollunion, der Zusammenarbeit bei der inneren und äußeren Sicherheit sowie der institutionellen Ausgestaltung der Beziehungen.
Der aktuelle politische Pfad deutet weiterhin auf einen harten Brexit hin. Während May Binnenmarkt und Zollunion verlassen will, ist in den einstimmig verabschiedeten Leitlinien der EU-27 festgelegt, dass unter diesen Umständen nur ein erweitertes Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich möglich ist, wie es die EU etwa mit Kanada oder Südkorea abgeschlossen hat. Damit würde zwar die Wiedereinführung von Zöllen vermieden, aber dennoch entstünden erhebliche Handelshemmnisse. Betroffen wären eng integrierte Produktionsketten sowie für Großbritannien besonders wichtige (Finanz-)Dienstleistungen. Außen- und sicherheitspolitisch könnte London zwar ein Partner bleiben, aber nur, wenn es sich etwa beim Datenaustausch an EU-Regeln bindet.
Doch dieser Pfad ist noch nicht endgültig vorprogrammiert. In der politisch fragilen Situation in London ist weiterhin Spielraum für eine nähere Anbindung an die EU nach dem Brexit. Dies betrifft vor allem die weitere Teilnahme an einer Zollunion mit der EU, was nicht nur die Nordirland-Frage entschärfen würde, sondern auch den Handel mit den EU-27 und dem Rest der Welt für Großbritannien vereinfachen würde. Doch der Preis der EU-27 wäre hier, ähnlich wie in der Übergangsphase, wieder, dass das Vereinigte Königreich, fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, EU-Handelspolitik ohne formelle Mitsprachrechte akzeptieren müsste. Selbst beim Binnenmarkt setzt sich in London schrittweise die Sicht durch, dass man in quasi allen relevanten Sektoren auf absehbare Zeit bei EU-Standards bleiben will. Doch auch hier werden die EU-27 insistieren, dass gemäß den Prinzipien „kein Rosinenpicken“ und „Entscheidungsautonomie der EU“ Großbritannien nur vollen Zugang zum Binnenmarkt haben kann, wenn es sich auch jenseits der Übergangsphase an EU-Regeln hält – ohne Mitspracherecht.
Das große Paradox bei diesen Verhandlungen ist damit, dass nicht nur deren Struktur, sondern auch die Ausprägung des Brexit immer stärker von Brüssel definiert wird. London ist angesichts der inneren Spaltung strukturell bis auf Weiteres nicht in der Lage, eine klare Brexit-Linie zu entwickeln. So liegt die große strategische Last auf Brüssel und den großen Hauptstädten, insbesondere Berlin und Paris, Antworten auf die Fragen zu finden: Wie groß kann der Zugang eines Drittstaats zum Binnenmarkt, zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den Programmen der EU sein, ohne gleichzeitig die Grenze zur Mitgliedschaft zu verwischen? Und wie hoch muss der Preis dafür sein – wirtschaftlich und politisch?
Dr. Nicolai von Ondarza ist Forschungsgruppenleiter EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 82 - 87