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01. Mai 2013

Handlungsfähigkeit

Ein strategisches Gebot angesichts globaler Herausforderungen

Das Paradigma der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland kann nur Handlungsfähigkeit sein. Der Begriff umfasst die strategischen Schlussfolgerungen, die Deutschland aus den globalen Entwicklungen zu ziehen hat. Wie kann Handlungsfähigkeit hergestellt werden? Brauchen wir eine „Agenda 2020“ der Sicherheitspolitik?

Es ist üblich geworden, das Fehlen einer sicherheitspolitischen Debatte zu beklagen. Dabei gibt es sie und es hat sie seit den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung immer wieder gegeben. So enthalten die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 eine Bestimmung der Werte und Interessen Deutschlands, die eigentlich Kontroversen hätten erwarten lassen. Ohne Schnörkel ist hier die Rede von der „Wahrnehmung internationaler Verantwortung“. Das Grundsatzdokument fordert, für die „Geltung der Menschenrechte einzutreten“ und auch die „Folgen eines Nichteinsatzes“ zu bedenken. Die Bundeswehr wird als Instrument des „Einflusses“ Deutschlands, seiner „außenpolitischen Handlungsfähigkeit“ beschrieben. Hätte die Bundesregierung während der Debatte um das Engagement in Libyen und Mali diese Kriterien zum Maßstab genommen, wäre die Diskussion vermutlich anders verlaufen. Es ist eine bittere Ironie, dass ein Bundespräsident auch zurücktrat, weil er das selbstverständliche Interesse einer Wirtschaftsmacht wie Deutschland reklamiert hatte: den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen. 

Das 2012 vom Auswärtigen Amt vorgelegte Konzept stellt nichts Geringeres als eine Strategie zur Gestaltung einer globalisierten, multipolaren Welt vor, die von neuen Gestaltungsmächten mitgeprägt wird. Es hätte jedoch eine Debatte darüber gelohnt, was diese Staaten eigentlich gestalten. Welche Rolle spielen China und Russland in der Finanzkrise, in Fragen der Energiesicherheit, bei internationalen Klimaverhandlungen, beim Umgang mit Nordkorea, Iran und fragilen Staaten? Noch weniger als im Fall Russlands und Chinas sind klare Gestaltungsziele Indiens und Brasiliens zu erkennen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält es für notwendig, neue Gestaltungsmächte nicht nur zur Übernahme von Verantwortung zu ermutigen, sondern sie zu „befähigen“.1 Diese inzwischen „Merkel-Doktrin“ genannte Initiative wird mitunter als Rechtfertigung für Rüstungsexporte verstanden. Auf jeden Fall verrät sie ein Denken in Katego­rien des Gleichgewichts: Können Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien das Land befähigen, ein Gleichgewicht zum Iran zu bilden?

Das Unbehagen an der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte liegt möglicherweise in ihrer Kurz­atmigkeit. Die Auseinandersetzung folgt den Gesetzen der „Erregungsgesellschaft“ (Peter Sloterdijk). In Deutschland kommt das Problem eines Primats der Innenpolitik hinzu: Sicherheitspolitische Themen werden zunächst unter innenpolitischen Gesichtspunkten bewertet. So wurde der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan lange nicht als das bezeichnet, was er ist: Einsatz in einem Krieg. Befürworteten noch im Jahr 2002 laut einer Forsa-Umfrage 62 Prozent der Deutschen einen Afghanistan-Einsatz, spricht sich seit September 2007 eine Mehrheit für den Rückzug aus. Deshalb ist es ein beeindruckendes Beispiel politischer Führung, dass der Einsatz in Afghanistan trotz des gesunkenen Rückhalts so lange aufrechterhalten werden konnte. 

Der Primat der Innenpolitik ist ein Strukturmerkmal der Parteiendemokratie. Von einer Regierung, die eine Koalition zusammenhalten muss, ist es vielleicht zu viel verlangt, eine sicherheitspolitische Debatte nach rein strategischen Kriterien zu führen. Es war aber möglich, bestimmte Schlüsselbegriffe in die Debatte einzuführen, die sich gehalten haben, bis sie fragwürdig wurden. Der von Außenminister Genscher beschworene Gegensatz von Verantwortungspolitik und Machtpolitik war lange Zeit populär, stieß sich dann aber an den Realitäten der Kriege auf dem Balkan. Trotzdem hielt sich diese Philosophie, die Außenminister Kinkel dann „Kultur der Zurückhaltung“ nannte. Sie entspricht zwar dem innenpolitischen Konsens, findet aber bei den Partnern Deutschlands immer weniger Verständnis. In der aktuellen Debatte setzt sich kein Begriff wirklich durch. Dabei ließe eine Analyse des sicherheitspolitischen Umfelds nur einen Schluss für Europa und seine Staaten zu: Sie müssen sich in der multipolaren Welt und im Angesicht globaler Herausforderungen behaupten, das heißt sie müssen handlungsfähiger werden. 

Konsequenzen für Deutschland 

Das sicherheitspolitische Umfeld besteht nicht einfach aus den aktuellen Krisen. Es ist vielmehr erkennbar an den „langen Linien“ der Globalisierung: Entwicklung einer multipolaren Welt, Verteilung von Macht und Einfluss, Kampf zwischen Primat der Politik und Primat der Wirtschaft, strategischen Fragen von Energiesicherheit und Sicherheit des Internets, schwindenden Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit. Welche sind die strategischen Konsequenzen für Deutschland und seine Aufgabe der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge?

Wenn die sicherheitspolitische Debatte hier weiterhelfen soll, müssen die richtigen Fragen gestellt werden. Nicht der Aufstieg Asiens als solcher sollte die Diskussion beherrschen, sondern die Frage, inwieweit Europa und Deutschland dort über Handel und Investitionen hinaus Außen- und Sicherheitspolitik betreiben können oder sollen. Ist das Interesse Chinas an Europa – sein finanzielles Engagement in der europäischen Finanzkrise etwa, das mit wachsendem Einfluss einhergeht – eine Chance oder ein Risiko für Europa? Die viel diskutierte pazifische Orientierung der USA ist keine grundsätzlich neue Entwicklung. Für die Europäer aber ist sie eine Stunde der Wahrheit. Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges wird von ihnen erwartet, dass sie die Sicherheit in ihrer Region in die eigenen Hände nehmen. Dies galt schon für die Kriege auf dem Balkan in den neunziger Jahren, nun auch in Libyen und Mali. Eigentlich kann Europa gar nicht anders, als in seiner Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähiger zu werden. 

Welche Lehren hält schließlich die Finanzkrise für Europa bereit? Welche strategischen Schlüsse hätte Deutschland zu ziehen? Die Finanzkrise hat sich nicht nur als ein wirtschaftliches, sondern im Kern als politisches Problem erwiesen. Sie war ein Test der Handlungsfähigkeit der Regierungen in Europa. Sie haben diesen Test bisher bestanden und die Krise sogar genutzt, um die europäische Integration zu befördern. Fiskalunion, Europäischer Stabilitätsmechanismus und Bankenunion bedeuten tatsächlich „mehr Europa“. Das Ergebnis ist ein Zuwachs an Handlungsfähigkeit, ob dies nun den Regeln des Lissabon-Vertrags entspricht oder nicht. 

Deutschland ist im Verlauf der Finanzkrise nicht nur durch seine wirtschaftliche Stärke, sondern auch aufgrund der Erwartungen einiger seiner Partner zu einer „Gestaltungsmacht“ und damit einer Führungsmacht in Europa geworden. Ausgerechnet der polnische Außenminister stellte 2011 fest, dass er „deutsche Macht“ weniger fürchte als „deutsche Untätigkeit“. Radosław Sikorski setzt auf die Handlungsfähigkeit Deutschlands. Diese aber ist nur als eine europäische möglich. Wenn Deutschland in der Finanzkrise gezeigt hat, dass es politische Führung übernehmen kann, warum dann nicht auch in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik? 

Handlungsfähigkeit herstellen

Der Begriff der Handlungsfähigkeit ist als Paradigma in der sicherheitspolitischen Debatte deshalb nützlich, weil er Innen- und Außenpolitik zusammenführt. Die Frage, inwieweit der Parlamentsvorbehalt die Handlungsfähigkeit der Regierung beeinflusst, wurde längst gestellt, aber noch nicht beantwortet. Genau hier aber kommt die äußere Handlungsfähigkeit ins Spiel. Sie beruht darauf, dass unsere Partner von der Berechenbarkeit der deutschen sicherheitspolitischen Entscheidungen ausgehen können. Hiermit bliebe man außerdem einem Grundsatz treu, der in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland eine lange Tradition und auch einen guten Ruf hat. 

Die größte Herausforderung für staatliches Handeln, für das, was „gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge“ genannt wird, liegt in der wachsenden Komplexität von Sicherheit. Komplexität und Interdependenz spiegeln sich wider in zersplitterten, dezentralen innerstaatlichen Entscheidungsprozessen. Mit der Zahl der Probleme von Globalisierung wächst die Zahl der Akteure. Wie kann unter diesen Umständen die Handlungsfähigkeit des Staates gestärkt werden?

Bei dieser Frage lohnte sich ein Blick auf unsere wichtigsten Partner, die ihre Erfahrungen bereits in neuen nationalen Sicherheitsstrategien verarbeiteten. Die Strategien und Weißbücher aus den USA, Frankreich, Großbritannien und Polen haben eines gemeinsam: Sie propagieren den vernetzten Ansatz, der Deutschland schon lange geläufig ist. Das Auswärtige Amt gibt mit dem Vorschlag der „Netzwerkpolitik“ eine Antwort auf die Frage nach der Verbesserung der Handlungsfähigkeit des Staates.2 Der vernetzte Ansatz ist inzwischen eine europäische Gemeinsamkeit und damit Grundlage für eine EU-Sicherheitsstrategie. 

Es stellt sich jetzt also die Frage, wie der vernetzte Ansatz organisiert werden kann. Immer mehr Referate in allen Ressorts befassen sich mit Sicherheitspolitik. Sofern sie sich überhaupt untereinander abstimmen, bleibt es häufig genug beim „kleinsten gemeinsamen Nenner“.3 Wie lässt sich unter diesen Umständen politische Führung ausüben?

Der Komplexität von Sicherheit kann man nicht mit einer bloßen Zentralisierung der Entscheidungsprozesse begegnen. Dies spräche auch gegen die Einrichtung eines starken Nationalen Sicherheitsrats, obwohl zu überlegen wäre, ob der bestehende Bundessicherheitsrat nicht einfach seine Tagesordnung über Rüstungsexporte hinaus um sicherheitspolitische Fragen erweitert. Zentralisierung beeinträchtigt grundsätzlich die Fähigkeit des Staates und der Gesellschaft zu lernen. Lernfähigkeit aber ist eine strategische Kompetenz, mit der Wichtiges von Unwichtigem unterschieden wird. 

Die Organisation des vernetzten Ansatzes bedeutet letztlich, Ressorts (mindestens die des Bundessicherheitsrats), Wirtschaft (BDI, ASW) und Gesellschaft (Wissenschaft, NGOs) auf der Ebene von Führungskräften zusammenzubringen und dies in „ständigen Konferenzen“ zu institutionalisieren. Im Unterschied zur teilweise schon geübten Praxis wäre dies nicht nur ad hoc, sondern ständig zu organisieren und nicht nur zu einzelnen Themen, sondern auch zu Fragen einer nationalen Strategie. Hierin könnten die Beiträge aller Beteiligten einfließen und in eine sicherheitspolitische „Agenda 2020“ münden. 

Botschafter Dr. Hans-Dieter Heumann ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
  • 1Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation am 22. Oktober 2012.
  • 2Thomas Bagger: Netzwerkpolitik, IP, Januar/Februar 2013, S. 44–50.
  • 3Studie der Stiftung Neue Verantwortung: Strategiefähigkeit in der deutschen Außenpolitik, Policy Brief 07/2011, S. 4, http://www.stiftung-nv.de/146896,1031,141260,-1,0,12,0,0.aspx.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2013, S. 110-113

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